Gewaltlegitimierende Gendernormen benennen

Prof. Dr. Susanne Schröter
Prof. Dr. Susanne Schröter

Die Ethnologin Susanne Schröter antwortet auf den Essay von Kira Kosnick zu den Vorfällen in Köln. Der Essay von Kira Kosnick ist in der UniReport-Ausgabe 1/2016 erschienen.

Was ist in der Silvesternacht passiert? In Köln, Bielefeld, Hamburg und an anderen Orten haben sich Männer verabredet, um Frauen zu jagen, sie einzukesseln, ihnen unter Gejohle und Beleidigungen in Hemd und Hose zu greifen und die Finger in die Körperöffnungen zu bohren. Nebenbei wurden die Opfer noch beraubt. Zeug/innen sagten aus, es habe sich um „nordafrikanisch“ aussehende Angreifer gehandelt.

Sofern es überhaupt zur Aufklärung kam, wurde offenbar, dass die Täter aus dem arabischen Raum kamen, und einige von ihnen in Aufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge lebten. In den folgenden Wochen fanden ähnliche Vorkommnisse in anderen Städten statt. Männer attackierten Mädchen in Schwimmbädern und Einkaufszentren, und in Diskotheken verhängten viele Besitzer ein Eintrittsverbot für Flüchtlinge, nachdem es zu massiven Angriffen auf Besucherinnen kam. Auch hier waren die Täter arabischer oder auch afghanischer Herkunft.

Feministische Deutungen der Vorfälle von Köln

Darf das benannt werden oder sollte man es lieber verschweigen? Die Kölner Polizeiführung und die Politik in NRW empfahl zunächst letzteres, doch als im Internet kursierende Bilder, Filme und Opferaussagen zeigten, wie die Realität tatsächlich war, ruderte man eilig zurück. Anders eine Reihe von Feministinnen, die die beginnende Debatte mit dem Totschlagargument des Rassismus zu beenden versuchte.

Sexismus gäbe es überall, relativierten sie, auch auf dem Oktoberfest oder beim Karneval, und die meisten Fälle sexueller Gewalt ereigneten sich ohnehin zu Hause. Die Silvesterübergriffe würden lediglich skandalisiert, weil man damit eigene fremdenfeindliche und/ oder islamophobe Vorurteile bestätigen könne. Einen spätmodernen, kulturell argumentierenden Rassismus sieht auch Kira Kosnick am Werk und führt diesen flugs auf den europäischen Kolonialismus und die damals vorherrschende Ansicht von höherwertigen und minderwertigen Rassen zurück.

Das ist eine bemerkenswerte Wendung innerhalb des deutschen Feminismus, dessen Vertreterinnen sich noch 2013 anlässlich einer zwar dümmlichen, aber harmlosen Bemerkung des FDP-Politikers Brüderle gegenüber der Journalistin Himmelreich zu einem bundesweiten Aufschrei – so der Name des Hashtags – zusammenfanden, um jede Art sexueller Belästigungen lauthals anzuklagen. In Köln und anderswo wurden Frauen nicht einfach durch dumpfbackene Sprüche belästigt, sondern ihnen wurde massive Gewalt angetan.

Zu einem neuen Aufschrei kam es allerdings nicht, vielmehr zur Denunziation derjenigen, die darin ein Problem sahen. Liegt es daran, dass die Täter keine „biodeutschen“ Männer sind? Würde Kultur eine untergeordnete Rolle spielen, wäre es sogar verständlich, diese Komponente nicht sonderlich zu betonen, aber das entspricht nicht der Wahrheit. Was in der Silvesternacht geschah, fällt unter den arabischen Terminus des taharrush jama’i, und bedeutet kollektive sexuelle Übergriffe.

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Bekannt geworden ist dieses Phänomen aus Ägypten, wo Demonstrantinnen auf dem Tahrir-Platz von Gruppen von Männern sexuell genötigt, vergewaltigt und schwer misshandelt wurden. Noch immer ist Gewalt gegen Frauen in ägyptischen Städten endemisch, und trotz vieler zivilgesellschaftlicher Initiativen ändert sich daran wenig. Auch in anderen arabischen Ländern, in Pakistan und Afghanistan fühlen sich Männer ermächtigt, Frauen im öffentlichen Raum zu attackieren.

Sie tun das, weil eine patriarchalische Genderordnung Frauen in zwei Kategorien, nämlich in Ehrbare und Ehrlose einteilt. Die Ehrbaren sind diejenigen, die das Haus nicht ohne Not verlassen und sich um Mann und Kinder kümmern. Ehrlos sind Studentinnen, Berufstätige und natürlich Frauen, die sich das Recht herausnehmen, in Cafés oder Bars zu gehen. Werden diese belästigt oder vergewaltigt, so können die Täter mit einer stillschweigenden Duldung rechnen und damit, dass viele die Frauen für die eigentlich Verantwortlichen halten.

Handelt es sich hier um eine kulturelle Prägung? Zweifellos, doch das bedeutet nicht, dass man arabische, pakistanische oder afghanische Kulturen für statisch oder monolithisch hält, wie Kira Kosnick schreibt. Im Gegenteil. In der gesamten Region gibt es Frauenbewegungen, und es gab sie vielerorts bereits im 19. Jh., zu einer Zeit, in der auch in Europa Frauen erstmals begannen für ihre Rechte zu kämpfen.

In Orient und Okzident wurden die gleichen Ideen diskutiert, und in den gebildeten Schichten entstand ein ähnlicher Lebensstil. Wenn man Bilder von Studentinnen aus Kabul oder Kairo in den 1980er Jahren ansieht, dann könnte es auch in Paris oder Berlin sein. Alle trugen offene Haare, Jeans und T-Shirts, und manchmal auch einen Minirock.

Roll-Back des konservativen Islam seit den 70er Jahren

In den 1970er und 80er Jahren kam die Wende. Sie begann zunächst im Iran im Jahr 1979 mit dem Sturz des Shahs und wurde von breiten Kreisen der Bevölkerung getragen, innerhalb derer sehr unterschiedliche Ideen für die neue Republik entwickelt wurden. Innerhalb eines Jahres wurde aus Vielfalt jedoch erzwungene Homogenität, aus der allgemeinen Revolution eine islamische, und der charismatische Geistliche Khomeini ergriff die Macht.

Die Konsequenzen betrafen vor allem die Frauen. Das Heiratsalter für Mädchen wurde von 18 auf 9 (!) Jahre gesenkt, die häusliche Dominanz des Ehemannes festgeschrieben, Frauen aus Berufen und Bildungseinrichtungen vertrieben und unter den Ganzkörperschleier genötigt. Frauen gelten bis heute als personifizierte Verführungen und werden verantwortlich gemacht, wenn Männer ihre sexuellen Triebe nicht unter Kontrolle halten.

Auch in anderen islamisch geprägten Ländern kam es zu einem Roll-back des konservativen Islam, dessen Vertreter geradezu besessen von der Idee waren, Frauen unter den Schleier und in vielen Fällen auch ins Haus zu verbannen. In Afghanistan unter der Herrschaft der Taliban standen selbst die Stimmen oder der hörbare Schritt von Frauen unter dem Verdacht, unzüchtiges Gedankengut bei Männern zu evozieren.

Selbst im religiös liberal geltenden Indonesien gelang es 2008 neue sittenstrenge Regularien für Frauen gesetzlich zu verankern. Das Parlament verabschiedete ein so genanntes Anti-Pornographie- Gesetz, das insbesondere Frauen für sexuelle Übergriffe von Männern verantwortlich machte. Jede Art der Bekleidung, die geeignet sei, das sexuelle Begehren eines Mannes zu reizen, müsse von Frauen vermieden werden, so das Gesetz.

Das betrifft im Zweifelsfall sogar ein T-Shirt. In Ägypten und Tunesien, wo nach der arabischen Revolution von 2011 islamistische Parteien die ersten Wahlen gewannen, erwogen diese, die Gleichheit der Geschlechter vor dem Gesetz aus der Verfassung zu streichen, und etliche Hardliner glaubten, dass es möglich sei, die Frauen wieder an Heim und Herd zu verbannen.

Das ist nicht geglückt, aber befeuert von einer Wiederkehr patriarchalischen Denkens und einer unheilvollen Synthese von Religion und konservativer Kultur nimmt die Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Raum dramatische Ausmaße an.

Schwieriger Kampf arabischer Intellektueller gegen religiösen Patriarchalismus

Solche Dynamiken waren in Europa nicht evident. Es gab keine Renaissance eines religiösen Patriarchalismus, sondern vielmehr eine fortschreitende Säkularisierung, die es möglich machte, Frauenrechte sukzessive weiter durchzusetzen und einen zunehmend emanzipativen Lebensstil zu etablieren. Konservativ- ländliche Milieus mit religiöser Ausrichtung sind in Deutschland marginalisiert, gebildete Städter/innen geben den Ton in Politik und Gesellschaft an.

Ihr Einfluss basiert auch darauf, dass sie numerisch eine Kraft sind. In vielen außereuropäischen Ländern stellen die Mittelschichten dagegen eine Minderheit dar. Das Bevölkerungswachstum ist enorm, die Ökonomien prekär. In Afghanistan sind 45 % der Bevölkerung unter 15, in Ägypten 31 %, in Pakistan 36 %, in Syrien 33 %. Die Kinder und Jugendlichen speisen das Heer der Armen auf dem Land und in den städtischen Elendsvierteln.

Hier gibt es keinen Sinn für soziale Reformen, die mehr betreffen als das tägliche Überleben; hier hört man auf die Imame, die die Unterordnung der Frauen predigen, und auf die Vertreter islamistischer Organisationen, die die Sozialarbeit übernommen haben, die der Staat nicht leistet. Feminismus wird oft mit den herrschenden Eliten assoziiert oder sogar mit den Autokraten der Vergangenheit, von Reza Pahlevi im Iran über Kemal Pascha in der Türkei bis zu Ben Ali in Tunesien.

Frauenrechte gelten als „westlich“, als überflüssig oder schlicht als unmoralisch. Man zieht sich lieber zurück auf die Religion und die eigene Kultur, die nicht durch den Materialismus, sondern die Gebote von Ehre und Scham bestimmt sei. Gegen diese patriarchalische Kultur der Ehre und gegen einen konservativen Islam kämpfen Frauenrechtlerinnen aus muslimisch geprägten Ländern einen erbitterten Kampf.

Nawal El Saadawi zum Beispiel, die Grande Dame des ägyptischen Feminismus, die über Genitalverstümmelungen und Vergewaltigungen in der Familie schrieb, die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi, die patriarchalische Deutungen islamischer Quellen kritisierte, oder der algerische Schriftsteller Kamel Daoud, der die Ereignisse in Köln mit einem Artikel über Probleme der arabischen Männer mit Frauen und ihrer Sexualität beantwortete und dafür in „Le Monde“ von einer Gruppe französischer Wissenschaftler/ innen der Islamophobie und des Selbsthasses bezichtigt worden war.

In Deutschland sind es muslimische Post-Migrant/innen wie Seyran Ates, Lale Akgün, Ahmad Mansour und Hamed Abdel-Samad, die sich kompromisslos gegen Frauenunterdrückung und sexuelle Gewalt in muslimisch-konservativen Migrantenmilieus aussprechen und zu den Silvesterereignissen klare Worte finden. Sie alle verdienen unsere uneingeschränkte Solidarität. Forderungen nach einer Diskurspolizei, die das Aussprechen unliebsamer Tatsachen unter Rassismusverdacht stellt, spielt nur denjenigen in die Hände, denen die Gleichberechtigung der Geschlechter schon immer ein Dorn im Auge war.

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Über die Autorin:

Prof. Dr. Susanne Schröter ist Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam (FFGI), Direktorin des Instituts für Ethnologie, Principal Investigator im Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“, Direktorin im Cornelia Goethe Centrum für Geschlechterforschung und Vorstandsmitglied des Deutschen Orient-Instituts.

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Dieser Artikel ist in der Ausgabe 2.16 des UniReport erschienen [PDF]

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