Spiele in einem paralysierten Land

Favela in Rio. Foto: Leon petrosyan/Wikimedia
Favela in Rio. Foto: Leon petrosyan/Wikimedia

Der Politikwissenschaftler Prof. Andreas Nölke analysiert in seinem Essay den polit-ökonomischen Hintergrund der Olympischen Spiele 2016 in Brasilien. Diese fänden bei der Bevölkerung noch geringeren Zuspruch als die Fußball-Weltmeisterschaft 2014.

Ein vertrautes Bild: wütende soziale Proteste, eine heikle Sicherheitslage und massive ökologische Belastungen – Brasilien vor den Sommerspielen 2016, Brasilien vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2014. Während des Sportfests werden die Krisenmeldungen dann in den Hintergrund gedrängt, nach seinem Ende interessiert sich die Weltöffentlichkeit dann weder für die Probleme des Landes, noch für die soziale und ökonomische Bilanz des Großereignisses. Einen kleinen Unterschied gibt es aber schon: die Massendemonstrationen sind 2016 kleiner geworden als vor zwei Jahren. Das liegt aber nicht unbedingt daran, dass die sozialen Vorbehalte gegen die Olympischen Spiele geringer sind. Im Gegenteil, der Enthusiasmus für die Spiele ist sogar zurückhaltender als beim Fußball. Nein, selbst die brasilianische Gesellschaft scheint inzwischen paralysiert zu sein, so wie auch seine Politik und Wirtschaft.

Infrastrukturelle Probleme

Die gesellschaftliche Paralyse ergibt sich nicht zuletzt aus den massiven sozialen Umwälzungen während des Booms in der ersten Dekade des Millenniums. Brasilien ist traditionell eines der am stärksten von sozioökonomischer Ungleichheit gekennzeichneten Länder der Welt. Die von der Arbeiterpartei geführten Regierungen schafften es nicht nur einen langen wirtschaftlichen Expansionsprozess zu organisieren, sondern auch durch Sozialprogramme, erleichterten Kreditzugang und eine massive Erhöhung des Mindestlohns arme Bevölkerungsschichten an diesem Boom partizipieren zu lassen. Etwa 35 Millionen Brasilianern gelang zwischen 2002 und 2012 aus extremer Armut der Aufstieg in die untere Mittelklasse – das sind mehr als die Einwohnerzahlen von Bolivien, Paraguay und Ecuador kombiniert.

Dieser Aufstieg bezieht sich allerdings zunächst auf Einkommen und Konsummöglichkeiten, nicht unbedingt auf qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung, Bildung und weitere soziale Mobilität. Zudem hat der Konsumboom – beispielsweise die Verdoppelung der in Brasilien zugelassenen Autos in nur fünf Jahren – zu einer Überlastung einer Infrastruktur geführt, die nur für wenige Wohlhabende gebaut war. Diese Restriktionen haben die Aufsteiger bereits vor der seit 2015 herrschenden Rezession frustriert und zu den ersten Demonstrationen vor der Fußball-WM geführt. Gleichzeitig stehen die traditionellen brasilianischen Eliten aus Oberschicht und oberer Mittelklasse diesem präzedenzlosen Aufstieg äußerst skeptisch gegenüber und mobilisieren zunehmend gegen das soziale Wachstumsmodell. Immerhin überstieg nach Angaben der Konrad-Adenauer-Stiftung in der vergangenen Dekade der individuelle Einkommenszuwachs der Ärmsten 10% jene der Reichsten 10% um das Vierfache. Soziale Ungleichheit ist in Brasilien seit Jahrhunderten zudem auch kulturell tief verankert, sichtbar etwa im traditionell streng hierarchischen Verhältnis zwischen weißer Oberschicht und schwarzem Dienstpersonal. Beide Seiten der gesellschaftlichen Verwerfung gingen zwar im Vorfeld der Olympischen Spiele auf die Straße, aber keine kann breit gesellschaftlich mobilisieren, wegen der Abwesenheit einer klaren, mehrheitsfähigen Zukunftsperspektive.

Amtsenthebungsverfahren

Die Abwesenheit einer solchen Perspektive hängt auch mit der politischen Paralyse des Landes zusammen. Präsidentin Dilma Rousseff ist seit Mai vom Amt suspendiert, in wenigen Wochen wird der Senat über ihre endgültige Amtsenthebung entscheiden. Der amtierende Präsident Michel Temer ist der Korruption überführt und darf bei der nächsten Präsidentenwahl nicht für das Amt kandidieren. Drei seiner Minister mussten binnen weniger Wochen wegen Korruptionsvergehen ihr Amt zurückgeben, die öffentliche Zustimmung zu seiner Regierung befindet sich im Sturzflug. Die Mehrheit der Senatoren, die dem Amtsenthebungsverfahren zugestimmt haben, ist selbst in Korruptionsverfahren verwickelt. Das Verfahren ist ohnehin offen politisch motiviert, seine juristische Grundlage steht auf äußerst wackligen Füßen. In der Sache geht es um Haushaltsentscheidungen, die von früheren Regierungen in ähnlicher Form getroffen, damals nie juristisch verfolgt wurden und auch vom zuständigen Staatsanwalt kürzlich als nicht justiziabel eingestuft wurden. In Kontrast zu ihren Gegnern gibt es bei Präsidentin Rousseff dagegen keinen Korruptionsverdacht.

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blog_olympia2016-rio_Noelke_AndreasDer Autor Prof. Andreas Nölke ist Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen und Internationale Politische Ökonomie an der Goethe-Universität.

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Trotzdem ist unbestritten, dass auch die von der Arbeiterpartei (PT) geführten Regierungen massiv in Korruptionsskandale verwickelt waren, wenn auch oft mit einer etwas anderen Ausrichtung als bei ihren konservativen und liberalen Gegnern. Während letztere Korruption überwiegend zur persönlichen Bereicherung genutzt haben, ist ein großer Teil der von Vertretern der Arbeiterpartei abgezweigten Mittel zur Finanzierung von Wahlkämpfen und zur Bestechung von Abgeordneten genutzt worden. Hintergrund dieser Aktivitäten ist ein vollkommen dysfunktionales parlamentarisches System, bei dem einzelne Abgeordnete nicht von einer Parteiräson angeleitet werden, sondern sich als individuelle politische Unternehmer verstehen, mit häufigen Parteiwechseln und immer auf der Suche nach geeigneten Geldgebern. So gelang es den PT-Regierungen häufig nur mit massiver Bestechung, parlamentarische Mehrheiten für ihre Politik zu organisieren – ähnlich wie Übergangspräsident Temer in diesen Wochen eifrig darum bemüht ist, durch Stimmenkauf bei liberalen und konservativen Abgeordneten eine sichere Senatsmehrheit für die endgültige Absetzung von Präsidentin Rousseff zu sichern.

Wirtschaftskrise

In diesem Zusammenhang ist es nicht überraschend, dass auch die brasilianische Wirtschaft vollkommen paralysiert ist und sich in der tiefsten Krise seit Jahrzehnten befindet. Es ist hingegen ein verbreitetes Missverständnis, dass der Niedergang der brasilianischen Wirtschaft in erster Linie auf den Einbruch der Preise für wichtige Exportgüter, etwa Öl, Metalle oder Soja zurückzuführen ist. Diese Preise sind zwar in den letzten Jahren zurückgegangen, aber nicht ansatzweise in einem Maße, das einen so tiefen Einbruch erklären könnte. Auch die gigantischen Korruptionsaffären um den Energiekonzern Petrobras sowie eine Reihe der führenden Bauunternehmen können das Ausmaß des wirtschaftlichen Einbruchs nicht erklären. Selbst wenn die Höhe der dabei geflossenen Schmiergelder bis zu zwei Milliarden Dollar betragen kann, sind diese Beträge doch im Vergleich zu den Verlusten von Petrobras gering.

Im Gegenteil, in einer staatlich-durchdrungenen Wirtschaft wie der brasilianischen führt wohl gerade die Drohung einer sehr stringenten Verfolgung der Kollusion privater und staatlicher Stellen zu einem Wachstumseinbruch, da sich derzeit niemand mehr traut, Investitionsentscheidungen zu tätigen, aus Angst vor den Staatsanwälten. Investitionen sind allerdings in einer relativ stark geschlossenen Wirtschaft wie der brasilianischen, bei der die stark stimulierte Binnennachfrage für den Boom der vergangenen Dekade verantwortlich war, absolut unabdingbar, um die derzeitige Krise zu überwinden. Dieser Befund trägt allerdings auch die Saat der Hoffnung für Brasilien in sich. Sollte es gelingen, bei den nächsten Präsidentenwahlen 2018 ein breites gesellschaftliches und politisches Bündnis hinter einem Kandidaten zu versammeln und damit die wirtschaftspolitische Paralyse zu überwinden, dürfte die Stimmungsaufhellung in der Bevölkerung wieder für hohe Wachstumsraten sorgen, ganz unabhängig von den Exportpreisen.

Was man allerdings jenseits vom Gastgeberland und seiner aktuellen sozialen, politischen und ökonomischen Paralyse überdenken sollte, ist die Gigantomanie von Sportereignissen wie bei den aktuellen Olympischen Spielen. Der soziale wie der volkswirtschaftliche Nutzen hält sich in engen Grenzen, wenn er überhaupt eintritt. Die Wettkämpfe, die Sportstätten und selbst die Verkehrsinfrastruktur nutzen vor allem der oberen Mittelschicht, große Teile der Bevölkerung leiden dagegen unter Zwangsumsiedlungen und vor allem einer unsozialen Verwendung fiskalischer Ressourcen. Dort, wo Bürger mitentscheiden dürfen, werden solche Spiele daher zunehmend abgelehnt, so wie jüngst in Hamburg und in München. Veranstaltet werden können sportliche Großereignisse dagegen fast nur noch in autokratischen Regimen, etwa China, Katar oder Russland. IOC und Fifa tolerieren diese Entwicklung, sie haben sich für eine permanente Expansion entschieden – kein Wunder angesichts des für sie risikofreien Franchises und der ständig steigenden Einnahmen durch Sponsoren und Fernsehgelder. Es ist nun zu hoffen, dass die akkumulierte Krisenmeldungen aus Brasilien – 2014 und 2016 – dazu beitragen, dass diese unselige Entwicklung gestoppt wird.

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