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»Bei den Deutschen war eher das Schweigen die Kontinuität«

Prof. Doron Kiesel, Erziehungswissenschaftler und Gründungsdirektor der Jüdischen Akademie, über die Veranstaltungsreihe »Diversität und Diskurs/Antisemitismus. Erinnerungskultur. Demokratie./Wie (un-)politisch ist die Universität?«

UniReport: Herr Prof. Dr. Kiesel, was war aus Ihrer Sicht der Anlass, diese Ringvorlesung durchzuführen?

Doron Kiesel: Vor anderthalb Jahren haben die Jüdische Akademie und die Goethe-Universität ein MOU unterzeichnet, ein Memorandum of Understanding, als Absichtserklärung, um gemeinsame Projekte und Veranstaltungen unterschiedlicher Art durchzuführen. Seitdem gibt es eine enge Kooperation zwischen Wolfgang Meseth, Sabine Andresen und mir. Wir hatten die gemeinsame Idee für Hearings zur Bearbeitung von sozial-, erziehungs- und politikwissenschaftlichen Themen, die sich an Studierende der Erziehungswissenschaft, aber auch darüber hinaus an alle Interessierte richteten. Die Hearings fanden an der Goethe-Universität und in Räumen der Jüdischen Gemeinde statt. Doch seit dem 7. Oktober, nach dem Angriff der Hamas auf Israel, hat sich die Lage dramatisch geändert. Die Universitäten sind in den Blick von Aktivisten und Protestierenden geraten, unter ihnen Studierende, aber auch Nichtstudierende. Da stellte sich für uns die Frage: Muss und kann die Wissenschaft sich mit diesen Protestformen auseinandersetzen, durch die der Lehrbetrieb eingeschränkt wird und jüdische Studierende und Lehrende sich bedroht fühlen? Was bedeutet das für die Hochschulen, für die Kommunikation und den Diskurs, wenn man mit sozialen Praktiken konfrontiert wird, die eigentlich nicht auf den Campus gehören? Wir haben auf Wunsch der Universitätsleitung eine Ringvorlesung auf die Beine gestellt, die über zwei Semester die Frage aufgreift, wie politisch bzw. unpolitisch sollte die Universität sein. Dabei werfen wir den Fokus auf Antisemitismus, Erinnerungskultur und Demokratie. Wir möchten durch die wissenschaftliche Thematisierung dieser Felder Erkenntnisse und Einblicke in die gegenwärtigen Krisenphänomene gewinnen. Wir haben dafür Kollegen und Kolleginnen aus dem universitären Kontext angefragt, die uns Angebote zum Nachdenken liefern sollen.

Wie erklären Sie sich den zunehmenden Antisemitismus in unserer Gesellschaft?

Diese Frage beschäftigt zahlreiche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die Antwort ist notwendigerweise eine interdisziplinäre. Der Antisemitismus ist in Deutschland nie ganz verschwunden. Es war nicht einfach so, dass 1945, am Tag nach der Kapitulation des NS-Staates, eine demokratische Zeit angebrochen wäre. Antisemiten und Nazis lebten weiterhin hier, waren beim Aufbau der Bundesrepublik aktiv, besetzten bis in die 80er-Jahre hinein noch Stellen in Justiz und Politik. Diese Situation haben wir, die im wissenschaftlichen Bereich tätig sind, bewusst oder unbewusst, nicht aktiv thematisiert. Weil wir getrieben und getragen sind von der Idee der Aufklärung, der Demokratie und des Pluralismus, sind wir davon ausgegangen, dass unsere universalistischen Wertevorstellungen Eingang gefunden haben ins Grundgesetz. Dass wechselseitiger Respekt, Anerkennung und Toleranz unser Leben und unseren Alltag prägen. Die Juden in Deutschland – wir sprechen hier von etwa 100 000 Gemeindemitgliedern – sind als Gruppe nicht besonders präsent in einem Land mit über 80 Millionen Einwohnern. Nur wenige Menschen haben überhaupt Kontakt zu Juden und Jüdinnen. Das Thema Antisemitismus und Nationalsozialismus wird zwar im Geschichtsunterricht immer wieder behandelt, aber es bleibt ein Thema, das vor allem als ‚Vergangenes‘ behandelt wird. Auch die innerfamiliäre Aufarbeitung hat im Prinzip nie stattgefunden. Dass es in der Familie einen Nazi-Groß- oder -Urgroßvater gab, wurde oft verschwiegen. Es gibt aber so etwas wie intergenerationelle Gefühlserbschaften: Haltungen, Vorurteile, Vorannahmen, die man vielleicht unbewusst übernimmt. So wie es in vielen jüdischen Familien eine Weitergabe von Traumata gibt. 15 000 Juden blieben nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, ihre Ängste wurden an die Nachkommen weitergegeben. Bei den Deutschen war eher das Schweigen die Kontinuität, denn damit blieb man auf seinen meist nicht ausformulierten Vorannahmen sitzen. Diese antisemitische Grundhaltung war immer latent vorhanden, ist aber selten zum Ausdruck gekommen.

Mit dem 7. Oktober hat sich das schlagartig geändert. Anstatt aber auf das barbarische Schlachten von Menschen zu schauen und ein entsprechendes Mitgefühl mit den Angegriffenen zu zeigen, wurde sich erst geäußert, als der Staat Israel so ‚unverschämt‘ war, sich zu wehren. Man muss sich vorstellen, dass mit dem Angriff der Hamas sich bei der israelischen Bevölkerung der entsetzliche Eindruck eingestellt hat, dass der Staat sie nicht mehr schützen kann, was zu einer Retraumatisierung auch bei jenen geführt hat, die selber die Shoah gar nicht erlebt haben. In Deutschland hat die Öffentlichkeit aber kaum darauf reagiert. Das war für die hier lebenden Juden ein wirklicher Schlag. Verschiedene politische Gruppen haben sich sehr einseitig geäußert, ohne die komplexen Verhältnisse im Nahen Osten zu kennen. Natürlich ist daraus eine brutale Form des Krieges auf beiden Seiten entstanden. Konsens in der israelischen Gesellschaft ist aber, dass die Hamas ausgeschaltet werden muss, und zwar militärisch. Beispielsweise müssen die Waffenlieferungen über den Iran unterbunden werden, damit eine solche dramatische Situation nicht wieder entstehen kann. Behauptet wird aber von manchen Gruppen, dass Hamas eine Freiheits- oder Protestbewegung sei. Der extremste Vorwurf lautet, dass Israel ein koloniales Gebilde sei. Dabei wird völlig der historische Hintergrund ausgeblendet: Ende des 19. Jahrhunderts nahm der europäische Antisemitismus zu und führte schließlich zur Idee der Gründung eines jüdischen Staates. Die zionistische Bewegung gewann in Anbetracht der Verfolgung der europäischen Juden innerhalb der jüdischen Bevölkerung Europas an Unterstützung. Die Gründung des Staates Israel ist somit auch der Tatsache geschuldet, dass unter anderem der Nationalsozialismus mit breiter Unterstützung der deutschen Gesellschaft die Vernichtung der europäischen Juden plante und durchsetzte. Die Notwendigkeit eines jüdischen Staates als Fluchtort, an dem Juden unbehelligt leben konnten, war die Folge dieser Erfahrungen. Dieser Zusammenhang wird oft außer Acht gelassen, was wiederum zu falschen historischen Schlussfolgerungen und Anschuldigungen führt.

Im Judenhass treffen sich heute Gruppen, deren Gemeinsamkeit ansonsten nicht erkennbar ist. So haben wir es in vielen Camps mit muslimischen und linken Aktivisten zu tun. Damit tun sich politisch Engagierte mit Islamisten zusammen, deren erklärtes Ziel die Vernichtung Israels darstellt. Ziel ist es, auf der ‚richtigen‘ moralischen Seite zu stehen. Die Komplexität des Nahost-Konflikts ist diesem Personenkreis in der Regel nicht bekannt und das grausame Massaker am 7. Oktober 2023 wird ausgeblendet. Zugleich schafft die Bestimmung eines gemeinsamen Feindbilds ein Gefühl von Zugehörigkeit und politischer Profilierung. Dr. Sebastian Voigt vom Institut für Zeitgeschichte in München und Berlin, einer der Referenten unserer Veranstaltungsreihe, hat diese Haltung treffend auf den Punkt gebracht: es ist der Antisemitismus des guten Gefühls! Indem man sich mit den Palästinensern solidarisiert, die hier nur als Opfer gesehen werden, darf man das Existenzrecht Israels infrage stellen und sich somit antisemitisch positionieren. Das erklärte Ziel der Hamas war und ist es, die jüdische Bevölkerung in Israel zu eliminieren.

Wie erleben jüdische Studierende und Lehrende die derzeitige teils feindselige Situation an den Universitäten?

Die jüdischen Studierenden, die sich an uns wenden, sind sehr verunsichert. Sie erleben etwas, was ihnen ihre Großeltern vermittelt haben und sie aus oder aus der Literatur kennen. Sie gingen davon aus, dass sich judenfeindliche Parolen und Übergriffe in Deutschland nicht wiederholen würden. Dass die Denkformen der Nationalsozialisten über Argumente postkolonialer Theorien und anderer Verschwörungserzählungen den Campus beherrschen würden, schockiert sie. Juden, die nicht in Israel leben, identifizieren sich in der Regel mit dem Staat, wenn auch nicht notwendigerweise mit der Politik der jeweiligen Regierung. Der Staat Israel dient vielen Juden und Jüdinnen auf der Welt als Ort, der ihnen eine sichere Bleibe für den Fall garantiert, dass in ihren Ländern eine antisemitische Politik den Alltag bestimmt. Insofern besteht eine existenzielle Verbindung zwischen dem israelischen Staat und den weltweit lebenden Juden.

Von zahlreichen sogenannten Aktivisten werden jüdische Studierende dafür verantwortlich gemacht, was im Nahen Osten passiert, obwohl sie hier leben. Sie dienen ebenso als Feindbild wie jüdische Lehrende. Akademische oder politische Veranstaltungen auf dem Camus werden gestört, Bedrohungen werden ausgesprochen und abstruse Geschichtskonstruktionen in den Raum gestellt. Der normale Lehrbetrieb wird somit von den Demonstranten verunmöglicht. Die Frage steht auf einmal wieder im Raum: Können Juden in Deutschland leben, kann Deutschland den Schutz für jüdische Menschen noch garantieren? Auf der documenta 15 wurden offen antisemitische Bilder gezeigt. Dass sie überhaupt dort einen Platz bekommen haben, ist bereits ein Skandal. Es gibt also jede Menge von Gründen, warum sich jüdische Studierende und Lehrende ausgegrenzt und ungeschützt gerade fühlen.

Denken Sie, dass über spezifische Bildungsangebote die Haltung von Studierenden gegenüber Israel und der jüdischen Gemeinschaft geändert werden können?

Ich versuche, gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen hier an der Goethe-Universität, Wege und Strategien zu denken und zu erproben, durch die eine nicht nur kognitive, sondern auch emotionale Dimension des Lernens erfahren werden kann. Im Rahmen eines spezifischen Lehrangebots an Lehramtsstudierende sollten sie die Möglichkeit erhalten, sich über drei Semester, historisch, erziehungswissenschaftlich und biographisch mit der Shoah auseinandersetzen; sie sollten dabei erfahren, welche gesamtgesellschaftliche Konsequenzen der Nationalsozialismus nach sich zieht.; sie sollten auch lernen, sich der Genese ihrer eigenen Haltung bewusst zu werden. Das bedeutet, für die Genese einer Projektion, einer Vorannahme oder eines Ressentiments sensibilisiert zu werden. Der Bereich Schule ist für unser Thema extrem wichtig: Die Lehrperson hat eine zentrale Bedeutung für junge Menschen, die sich erst einmal dieses komplexe Thema erschließen und Haltungen kennenlernen müssen, um zu verhindern, dass sie unreflektiert tradierte Positionen übernehmen. Unser Ziel ist es, Lehramtsstudierenden Kompetenzen zu vermitteln, antisemitische Positionen im Klassenraum zu identifizieren und auf diese angemessen reagieren zu können. Ignoranz oder Konfliktvermeidungsstrategien sind Voraussetzungen dafür, dass tiefsitzende Vorbehalte gegen Juden und Jüdinnen und antisemitische Weltbilder weiterwirken.

Mit einer an dieser Zielsetzung ausgerichteten Ringvorlesung, die allen Studierenden offensteht, hoffen wir auf dem richtigen Weg zu sein.

Besonderer Dank sei an dieser Stelle gegenüber der Universitätsleitung ausgesprochen, die uns bei der Realisierung dieses Projekts maßgeblich unterstützt.

Fragen: Dirk Frank

Mehr zur Veranstaltungsreihe unter
Diversität und Diskurs / Antisemitismus. Erinnerungskultur. Demokratie. / Wie (un.)politisch ist die Universität?

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