Emotionaler Bildersturm

Nimrod Hurvitz beschäftigt sich am Forschungskolleg Humanwissenschaften der Goethe-Universität mit dem Thema „Archäologie im Visier: Emotionen und Ziele hinter der Zerstörung des Kulturerbes durch den IS“.

UniReport: Herr Prof. Hurvitz, war um haben die vom IS begangenen Zerstörungen Archäologen so verwirrt, was ist das Besondere an ihnen? Gehört Demütigung des Feindes nicht immer auch zur kriegerischen Strategie?

Nimrod Hurvitz, Foto: Stefanie Wetzel
Nimrod Hurvitz, Foto: Stefanie Wetzel

Nimrod Hurvitz: Zwischen 2014 und 2016 zerstörte die Terrororganisation IS (Islamischer Staat), die die Kontrolle über Gebiete im gesamten Nahen Osten übernommen hatte, systematisch bedeutende Teile des religiösen und kulturellen Erbes in Syrien und Irak. Zu den Zielen gehörten archäologische Stätten, Museumsartefakte, Moscheen, Kirchen, Schreine und Friedhöfe. Als die Nachricht von dieser kulturellen Verwüstung Archäologen, Mitarbeiter von internationalen Organisationen und Kulturliebhaber erreichte, löste sie Empörung aus. Die Verurteilung der Zerstörungen und die Feststellung der entstandenen Schäden wurden jedoch von manchen Archäologen auch kritisiert. Sie argumentierten, dass eine solche Aufmerksamkeit den IS nur dazu ermutigte, ihre Zerstörungskampagne zu intensivieren.

Nachdem diese Zerstörungswelle abgeklungen war, untersuchten Wissenschaftler, warum der IS seine knappen Ressourcen für die Zerstörung von Kulturgütern einsetzte. Die Forscher haben mehrere stichhaltige Gründe dafür ausgemacht: Der IS wollte radikale muslimische Anhänger anziehen, westliche Mächte und regionale Behörden demütigen und die lokale Bevölkerung demoralisieren. Die meisten Beobachter [#oder Analytiker#] kommen zu dem Schluss, dass der IS die Zerstörung von Kulturgütern als eine kalkulierte Strategie ansieht, die darauf abzielt, Feinde zu schockieren und sie aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Wie würden Sie Ihren Ansatz beschreiben, eine oder mehrere Erklärung(en) für die Zerstörungen des IS zu finden: Wie gehen Sie dabei methodisch vor, auf welche Texte und Informationen greifen Sie zurück?

Das Forschungsprojekt „Targeting archaeology: emotions and agenda behind IS’s heritage destruction“, das ich während meines Aufenthalts am Forschungskolleg Humanwissenschaften in Zusammenarbeit mit dem Projekt „Islamische Archäologie und Kunstgeschichte“ von Professor Hagit Nol durchführen werde, blickt aus einer neuen Perspektive – durch die Brille einer Geschichte der Emotionen – auf die Zerstörungskampagne des IS. Diesem Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass kollektive Emotionen wie Patriotismus, das Gefühl der Gruppenüberlegenheit, Rassismus, moralische Panik und die Angst vor Epidemien eine entscheidende Rolle in der sozialen und politischen Dynamik spielen. Wenn man diesen historiografischen Zugang anwendet, wird es möglich, das wissenschaftliche Verständnis des IS als eine emotionsgesteuerte Bewegung zu verstehen und zu vertiefen. Ein solcher Ansatz untersucht, wie Emotionen zur Entstehung des IS beitrugen, seine Politik beeinflussten – insbesondere, als er auf dem Höhepunkt war und das Kalifat errichtete – und welche Rolle sie spielten, als der IS mit dem Scheitern, d. h. der Vernichtung des Kalifats, umgehen musste. Diese emotionale Dimension liefert entscheidende Erkenntnisse, die die bestehenden strategischen und ideologischen Analysen der Zerstörungskampagne der Gruppe ergänzen.

Dieses Projekt fragt danach, wie sich die Zerstörungskampagne auf die Täter selbst auswirkte. Anstatt zu untersuchen, wie sich diese Akte der Kulturzerstörung auf ihre Gegner auswirkten – auf die lokale Bevölkerung, regionale Milizen, nationale Armeen oder globale Mächte –, betrachtet diese Studie, inwiefern die Beteiligung an der Kulturzerstörung aus den Emotionen der IS-Mitglieder resultierte und diese prägte: Hat die Inszenierung solcher Zerstörungen die Teilnehmer ermächtigt? Wie stärkten die Akte des Bildersturms den Gruppenzusammenhalt? Inwieweit vermittelte die Zerstörung von Kulturgütern den Mitgliedern ein gesteigertes Gefühl von Sinnhaftigkeit und historischer Bedeutung? Durch die Untersuchung der emotionalen Dynamik der Zerstörung und nicht ihrer Außenwirkungen wirft diese Studie ein neues Licht auf den IS.

Um diese Fragen zu beantworten, wird die Studie zunächst die zerstörten Stätten und Artefakte unter die Lupe nehmen. Anschließend untersucht sie, wie der IS diese Zerstörung diskutierte und nutzte, und schließlich ordnet sie die Zerstörung der Kulturgüter in den Rahmen der emotionalen Manipulationen und der Ideologie des IS ein. Es ist wichtig festzustellen, dass in der Weltanschauung des IS Emotionen und Ideologie miteinander verwoben sind, wie beispieslweise das Prinzip „Loyalität und Lossagung“ (auf Arabisch: al-wal ¯a’ wa-l-barā’) zeigt. Diese Doktrin verlangt von den Gläubigen, dass sie ihren Mitstreitern gegenüber mit Hingabe begegnen, während sie gleichzeitig einen aktiven Hass gegenüber Außenstehenden zum Ausdruck bringen. Diese emotionale Dichotomie wird durch historische Beispiele verstärkt, wenn etwa IS-Mitglieder dazu ermutigt werden, Abraham nachzueifern: Nach monotheistischen Überlieferungen demonstrierte er seine Ablehnung des Polytheismus, indem er die Götzen seiner Familie zerstörte. Auf diese Weise werden zeitgenössische Akte der Kulturzerstörung theologisch gerechtfertigt.

Wenn man die Gründe für das Vorgehen des IS besser versteht – ließen sich daraus auch Strategien ableiten, Stätten des kulturellen Erbes künftig besser zu schützen? Oder wäre das illusorisch?

Die Untersuchung der Zerstörung von Kulturgütern offenbart mehrere tief liegende Dimensionen der Weltanschauung des IS und trägt dazu bei, eine Bewegung besser zu verstehen, die in den Bürgerkriegen des Nahen Ostens eine wichtige Rolle gespielt und den Bewohnern der Region Traumata zugefügt hat. Über die regionalen Auswirkungen hinaus hat die Gewalt des IS zu Einwanderungswellen aus dem Nahen Osten nach Europa geführt und in der Folge auch die europäische Politik geprägt. Durch die Untersuchung ihrer gezielten Angriffe auf religiöse und kulturelle Landschaften ist es möglich, die emotionalen und ideologischen Grundlagen einer Bewegung aufzudecken, deren Einfluss weit über den Nahen Osten hinausreicht.

Manche mögen sich fragen, ob ein solches Verständnis zu politischen Maßnahmen führen kann, die die Zerstörungskraft des IS eindämmen und die von ihm verursachten Schäden verringern. Ehrlich gesagt bezweifle ich das. Die Forschung kann jedoch dazu beitragen, politische Maßnahmen zur Schwächung des IS zu entwickeln, weil sie hilft zu verstehen, wie man mit einigen Komplizen des IS, die keine eingefleischten Mitglieder der Bewegung sind und ihre Ideologie nicht vollständig übernehmen, umgehen kann.

Wie empfinden Sie bisher den Aufenthalt am Forschungskolleg und den Austausch mit den anderen Forschenden?

Das Forschungskolleg Humanwissenschaften bietet ein hervorragendes Forschungsumfeld. Die Professionalität und Herzlichkeit der Mitarbeitenden machen den Aufenthalt einfach und angenehm, und die Diskussionen mit den anderen Fellows, von denen viele zu anderen politischen Krisen der Gegenwart forschen, sind oft aufschlussreich und immer freundschaftlich. Ich kann mir keine förderlichere Atmosphäre für die Forschung vorstellen.

Nimrod Hurvitz lehrt am Institut für Nahoststudien der Ben-Gurion-Universität des Negev. Er folgt der Einladung von Hagit Nol, Juniorprofessorin für Islamische Archäologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sein Aufenthalt wird durch das von der VolkswagenStiftung geförderte Projekt „Islamische Archäologie und Kunstgeschichte“ (IAAH) unterstützt.

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