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Goethe, Deine Forscher: Tobias Singelnstein, Kriminologe

Tobias Singelnstein, renommierter Kriminologe und Professor an der Goethe-Universität, entschied sich einst, von Geschichte und VWL zu Jura zu wechseln – ein Schritt, der sich als wegweisend erwies. Seine Faszination für Strafrecht führte ihn zur Kriminologie, einem interdisziplinären Feld, das juristische und soziologische Methoden vereint. Besonders bekannt wurde er durch seine Forschung zu rechtswidriger Polizeigewalt und den komplexen Wechselwirkungen zwischen Polizei und Gesellschaft. Seine Studien verbinden quantitative und qualitative Ansätze, um Missstände aufzuzeigen und Lösungen zu entwickeln.

Tobias Singelnstein, Kriminologe | Foto: Uwe Dettmar

Tobias Singelnstein beschloss seinerzeit, Jura zu studieren, und änderte damit seine ursprüngliche Studienwahl (Geschichte, Politik, VWL). „Ich suchte ein neues Fach, beschäftigte mich mit Jura und fand das interessant“, erzählt er, „vor allem Strafrecht hat mich begeistert.“ Immer wieder ist seither deutlich geworden, dass die Entscheidung richtig war, die er daraufhin traf – wie bedeutsam diese biographische Kehrtwendung war, zeigte sich zuletzt, als er im April 2022 seine Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie an der Goethe-Universität antrat.

Wenn dieser ausgezeichnete Jurist gleichzeitig sagt „Als ich am Ende meines Studiums das Schwerpunktfach ,Kriminologie‘ wählte, gerade weil es nicht so juristisch ist“, dann steckt dahinter keine akademische Dialektik, sondern weist auf einen weiteren Charakterzug hin: Singelnstein legt Wert darauf, über den Tellerrand zu schauen. „Auch wenn in Deutschland traditionell die Jura-Fachbereiche für die Kriminologie zuständig sind, ist diese kein juristisches, sondern vor allem ein soziologisches Fach, und zu seinen Bezugsdisziplinen gehören beispielsweise Wirtschaftswissenschaften und Psychologie“, stellt er klar und fügt hinzu: „Dementsprechend ist die Kriminologie in anderen Ländern oft an den sozialwissenschaftlichen Fachbereichen angesiedelt, so etwa in den USA und in Großbritannien.“

Deswegen muss Singelnstein in zwei verschiedenen Methodiken fit sein: Nicht nur für die normativen juristischen Schwerpunktfächer Strafrecht und Strafprozessrecht, in denen er sich mit existierenden Gesetzen auseinandersetzt. Sondern auch für das sozialwissenschaftlich geprägte Fach Kriminologie, in dem Forscherinnen und Forscher zwar unter Umständen auch theoretisch arbeiten, das aber im Wesentlichen auf Empirie beruht: „In der Kriminologie wenden wir sowohl qualitative als auch quantitative empirische Verfahren an“, erläutert er, „das heißt zu unseren Untersuchungsmethoden gehören nicht nur Aktenuntersuchungen, qualitative Interviews und Gespräche in Fokusgruppen. Sondern auch Befragungen, in denen wir uns bei den Teilnehmenden nach ihren Einstellungen zu bestimmten Themen erkundigen, bei denen wir wissen wollen, ob sie schon Opfer bestimmter Straftaten waren – oder ob sie bestimmte Straftaten selbst schon begangen haben.“

Rechtswidrige Polizeigewalt

Ein prominentes Beispiel, bei dem quantitative und qualitative Methoden kombiniert wurden, ist die vor einigen Monaten beendete Studie KViAPol („Köperverletzung im Amt durch Polizeibeamte“): Singelnstein und Mitglieder seiner Arbeitsgruppe untersuchten rund 3300 Fälle, in denen Personen angegeben hatten, sie seien Opfer von rechtswidriger Polizeigewalt geworden. „Polizeibeamte, die ihre Aufgaben
erfüllen, müssen dazu manchmal Gewalt anwenden“, stellt Singelnstein klar, „auf der anderen Seite haben wir in unserer Untersuchung allerdings gesehen, dass die meisten Menschen keine Anzeige erstatten, weil sie Angst vor den Folgen haben oder weil sie glauben, dass sie in einem Strafverfahren ohnehin keine Chance haben.“

Qualitative Interviews mit Staatsanwälten, Richtern, Beratungsstellen und natürlich Angehörigen der Polizei ergänzten die quantitativen Untersuchungen; Singelnstein hat so einerseits herausgefunden, dass vor allem nicht angemessen geplante Polizeieinsätze eskalieren, dass aber auch „kritisches Nachfragen“ von Demonstrationsteilnehmern und Aktivistinnen, Beleidigungen und Weigerungshaltungen übermäßige Polizeigewalt fördern können – „insbesondere die polizeiliche Sorge vor einem Kontrollverlust im Einsatz trägt zur Eskalation heikler Situationen bei“, fasst er zusammen.

Nachdem er sich fünf Jahre lang mit übermäßiger polizeilicher Gewalt beschäftigte, hat sich Singelnstein inzwischen der Frage zugewandt, inwieweit der Kontakt zur Polizei durch Rassismus und Diskriminierung geprägt ist: „Dazu existierten bislang im Wesentlichen Studien aus den 1990er Jahren, in denen subjektive Einstellungen von Polizistinnen und Polizisten zusammengetragen sind“, sagt er. So wichtig diese Forschung auch sei, dürfe die kriminologische Forschung doch die Erfahrungen der Opfer von Rassismus und Diskriminierung nicht länger vernachlässigen.

Beschwerde-Wege in fünf Nationen

Allerdings interessiert sich Singelnstein nicht nur für potentielles Fehlverhalten der Polizei. Zusammen mit einem deutsch-britisch-französisch-kanadisch-japanischen Team hat er untersucht und verglichen, wie die Menschen in diesen Ländern gegen Polizeiverhalten vorgehen können, mit dem sie nicht einverstanden sind: „Wir untersuchen, welche Beschwerdestellen es gibt und welche Mechanismen ablaufen, wenn dort Meldungen eingehen.“

Und es fasziniert ihn, Wissen weiterzugeben: „Dabei könnte ich mich nicht entscheiden, was mir am liebsten ist“, schwärmt Singelnstein. „Bei den Studierenden, die gerade erst an die Uni gekommen sind, finde ich es toll, ihnen in den ersten ein, zwei Semestern die Grundlagen des Strafrechts beizubringen.“ Aber genauso begeistert es ihn, sie am Ende des Studiums die eigenen Schwerpunkte zu lehren, Strafverfahrensrecht, Jugendstrafrecht und Kriminologie. „Egal, ob ich im Hörsaal vor Studienanfänger oder Examenskandidatinnen trete – auf mich warten dann 90 gleichermaßen anstrengende wie erfüllende Minuten.

Stefanie Hense

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