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„Manchmal ist Verdecken von Widerstand notwendig“

Wo und warum es verdeckten Widerstand in demokratischen Gesellschaften gibt, erkundet ein neuer Sammelband des Instituts für Sozialforschung. Im Gespräch mit den Herausgeber:innen Ferdinand Sutterlüty und Almut Poppinga geht es um die Verbindung von Widerstand, Würde und das gemeinsame Pflanzen von Bäumen.

Recht auf öffentlichen Raum: Von Anwohner:innen gepflanzte Bäume erhalten einen Schulhof in Tiblissi (Dezember 2022) (Fotos: Ketevan Gurchiani)

Gemeinsames Bäumepflanzen in Rustavi: Anwohner:innen leisten Widerstand gegen die Bebauung von Flächen in ihren Wohngebieten (Foto: Ketevan Gurchiani)

Warum sollten Menschen in demokratischen Gesellschaften Widerstand verbergen, wenn doch alles kritisiert werden kann? Mit dieser naheliegenden Frage leiten Sie, Herr Sutterlüty, in das Buch ein. Sie haben zum Thema „verdeckter Widerstand“ eine Konferenz veranstaltet. Warum?

Ferdinand Sutterlüty: Es gibt viele Menschen, die es faktisch schwer haben, am demokratischen Diskurs teilzuhaben. Demokratien werden hingegen häufig aus einer normativen Perspektive beschrieben, aus der es so aussieht, als könnten alle Bürger:innen ihre Belange gleichermaßen in die öffentliche Diskussion einbringen. In unserem Buch schauen wir auf die empirische Seite. Wir betrachten Demokratie aus der Perspektive derjenigen, die sich zu verdecktem Widerstand gezwungen sehen ‒ aus den unterschiedlichsten Gründen: Weil sie zum Beispiel so machtunterlegen sind, dass sie mit ihrer Position gar nicht durchdringen können. Oder weil sie im Niedriglohnsektor arbeiten, in dem arbeitsrechtliche Bestimmungen faktisch nicht eingehalten werden.

Almut Poppinga: Als wir das Thema im Haus diskutiert haben, konnten erstaunlich viele Kolleg:innen mit unterschiedlichen Beobachtungen aus empirischen Projekten oder mit Überlegungen aus philosophischen Studien etwas dazu beitragen. Daraufhin haben wir uns entschieden, das Thema weiterzuverfolgen. Widerstandspraktiken im Verborgenen erschienen uns aus der Diskussion heraus als ein ergiebiges Phänomen, um über demokratische Gesellschaften interdisziplinär nachzudenken.

Ist die Frage nach Widerstand in Autokratien besser erforscht als Widerstand in demokratischen Gesellschaften?

Poppinga: Im angelsächsischen Bereich wird dazu schon länger geforscht, im deutschsprachigen Raum weniger. Wir fragen in dem Buch deshalb sehr explizit: Lassen sich Erkenntnisse zum Widerstand in autokratischen Systemen, wie er insbesondere von James C. Scott untersucht wurde, auf Demokratien übertragen? Wie kann Widerstand in demokratischen Gesellschaften gerechtfertigt werden, und welche Regeln werden dort eigentlich verletzt? Das sind Fragen, die noch wenig erforscht sind. Der Band erkennt also durchaus eine Forschungslücke. Zum Beispiel ist das Phänomen der Sabotage im Feld der Arbeit ausführlich erforscht worden, aber es wurde nicht mit der Frage verbunden, was es für eine demokratische Gesellschaft und ihre normative Idee bedeutet, wenn die Sabotage in bestimmten Arbeitsbereichen zu einer regulären Praxis geworden ist.

Was verstehen Sie unter Widerstand in demokratischen Gesellschaften? Die Autor:innen des Bandes haben zum Teil unterschiedliche Auffassungen.

Sutterlüty: Meinem Vorschlag in der Einleitung zufolge ist der Begriff immer noch eher weit gefasst, aber Widerstand lässt sich doch klar unterscheiden etwa von Kritik, Protest oder zivilem Ungehorsam. Bei Widerstand geht es, anders als bei bloßer Kritik, um ein Handeln. Außerdem ist mit Widerstand immer ein Regelbruch verbunden, von dem wiederum rechtliche oder soziale Normen betroffen sein können. Im Unterschied zu zivilem Ungehorsam, der immer offen ist, kann Widerstand auch verdeckt sein. Er bedeutet oft ein existenzielles Einstehen für etwas, auch wenn es Sanktionen nach sich ziehen kann: Widerstand entsteht aus Dringlichkeit, wie etwa bei der Seenotrettung. Beim verdeckten Widerstand spielt außerdem meist eine starke Machtasymmetrie eine entscheidende Rolle.

Ihr Kollege Martin Saar spricht in seinem Beitrag die Frage an, ob Widerstand als etwas der Demokratie Äußerliches angesehen werden kann, also als Hebel, der von außen destabilisierend wirken soll, oder ob er der Demokratie notwendig zugehört, indem er die prinzipiell unvollendete Demokratie ständig korrigiert.

Poppinga: Die Frage ist, was die vielen Praktiken von Widerstand über Demokratien aussagen. Saar bezieht die Position, dass die Demokratie ihre normative Idee an bestimmten Punkten nicht einlösen kann. Die Demokratie ist kein herrschaftsfreier Raum, sondern muss fortwährend demokratisiert und legitimiert werden – auch und insbesondere von innen. Informelle Widerstände, also verborgene Praktiken, können anzeigen, dass nicht alle Gruppen gleichberechtigt in das demokratische Zusammenleben eingebunden sind. Die Konjunktur von Fragen zu und über Widerstandspraktiken in den vergangenen Jahren zeigt, wie relevant das Thema für den Erhalt nicht nur demokratischer Institutionen, sondern auch der Demokratie als Lebensform ist.

Lassen Sie uns über Formen von Widerstand sprechen, die der Sammelband schildert. Was hat Sie überrascht?

Sutterlüty: Es ist das Ziel guter Konzepte, dass man durch sie Dinge sieht, die man vorher so nicht gesehen hat. Für mich überraschend war zum Beispiel der Beitrag der georgischen Anthropologin Ketevan Gurchiani: Sie hat die verborgene Praxis des Bäumepflanzens von Stadtbewohner:innen in Tiflis untersucht. Vor dem Hintergrund, dass Investoren und Baubehörden meist hinter verschlossenen Türen über den öffentlichen Raum bestimmen, leisteten die Anwohner:innen Widerstand gegen die Bebauung von Flächen in ihren Wohngebieten. Sie pflanzten über Jahre kaukasische Zelkoven und Maulbeerbäume, zwei in Georgien geschützte Baumarten. Die Nachbarschaft half bei der Pflege der Bäume, so dass sie gut wuchsen. Später konnte dann auf der Fläche nicht mehr gebaut werden. Das ist eine unscheinbare Praxis mit Folgen für die Stadtentwicklung. Man sieht die Bäume, aber nicht die Absicht hinter ihrer Pflanzung. Wir sind auch darauf gestoßen, dass manche Akteur:innen gar nichts aktiv verbergen, sondern ihr Widerstand von Dritten verborgen wird. Lorna Finlayson schreibt über Kinder, die gegen bestimmte Praktiken in der Schule protestieren. Ihr Verhalten wird aber von den Eltern und Lehrkräften systematisch als ein Entwicklungsproblem gesehen, das sich schon auswachsen wird, oder als Ausdruck einer zu korrigierenden Pathologie. Ihr Widerstand wird nicht als solcher wahrgenommen, sondern wegdefiniert.

Poppinga: Andere sind in einer so schlechten Position, dass für sie verdeckter Widerstand das einzige Mittel ist, den eigenen Lebensunterhalt zu sichern oder ein Minimum an sozialer Anerkennung zu erhalten, wie Axel Honneth in seinem Beitrag über das Feld der Arbeit ausführt.Denken Sie an Dienstleistungen im Hotelgewerbe mit sehr vielen prekär Beschäftigten oder an die von Christian Sperneac-Wolfer untersuchten rumänischen Wanderarbeiter auf deutschen Baustellen, denen von ihren Arbeitgebern widerrechtlich die Pässe abgenommen werden.

„Wenn man sich den Widerstand ansieht, bekommt man ein eindrückliches Bild der Wirklichkeit, gegen die Widerstand geleistet wird.“

Honneth schildert ja auch die Situation, dass Zweigstellenleiter Arbeiterinnen heimlich Zeiten für Arztbesuche einräumen oder Bonuszahlungen für fingierte Leistungen zukommen lassen, damit sie über die Runden kommen.

Poppinga: Ja, es gibt solche Widerstandspraktiken auch auf der staatlichen Seite, gerade in Bezug auf Arbeit und Migration. Scott nennt das Infrapolitik. David Lorenz weist in seinem Beitrag auf Kämpfe um sogenannte Dublin-Überstellungen hin, die auf einer Verordnung beruhen, der zufolge Geflüchtete nur in dem europäischen Land Asyl beantragen dürfen, in dem sie sich zuerst haben registrieren lassen. Das wird mitunter von Behörden unterlaufen, es wird unsichtbar politisch agiert, indem Abschiebungen und Überstellungen verhindert werden. Wenn man sich den Widerstand dort ansieht, bekommt man wiederum ein eindrückliches Bild der Wirklichkeit, gegen die Widerstand geleistet wird. Das scheint mir ein wichtiger Punkt unseres Projektes zu sein.

Widerstand erscheint dann manchmal als einzige Möglichkeit, sich in einer Demokratie zu äußern?

Poppinga: Ich würde sagen, das gilt nicht nur für diese Gruppen, aber ja.

Sutterlüty: Natürlich ist offener Widerstand in einer Demokratie wünschenswert. Manchmal ist aber die Verdeckung von Widerstand notwendig, nicht zuletzt auch, um auf die Ebene des öffentlichen Widerstands zu kommen. Im geschützten Raum des verdeckten Widerstands können erst einmal die Positionen dafür gefunden werden.

Verdeckter Widerstand dient dann als Vorstufe für öffentlichen Widerstand.

Sutterlüty: Ja, allein indem Widerstand massenhaft passiert, kann er die Verhältnisse ändern. Ein Beispiel ist die Abschaffung der Kirchensteuer in Frankreich. Jahrhundertelang haben französische Bauern die Ablieferung des Zehnten an die Kirche unterlaufen – indem sie verfaultes Getreide geliefert, Missernten behauptet haben und anderes mehr –, bis es sich nicht mehr gelohnt hat, die Kirchensteuer einzutreiben und sie Ende des 18. Jahrhunderts abgeschafft wurde. Das zeigt, dass auch verdeckter Widerstand effektvoll sein kann, ohne dass er jemals offene Formen annimmt.

Poppinga: Man muss auch verschiedene Arten des Verborgenseins unterscheiden. Es gibt ja verdeckten Widerstand, der vor aller Augen stattfindet: Whistleblowing und Leaking. Whistleblower:innen sind erst einmal gezwungen, verdeckt zu agieren. Dann aber treten sie an die Öffentlichkeit. Auch die vorhin erwähnten Bäume in Tiflis sieht man. Sie sind aber nicht sofort als Widerstand erkennbar. Sabotage ist ebenfalls sichtbar, bleibt aber anonym und ist nicht zurückverfolgbar. Verdeckter Widerstand heißt demnach nicht, dass niemals etwas sichtbar wird. Man muss also fragen, für wen etwas nicht sichtbar ist und warum das so ist.

In der Demokratie stellt sich die Frage: Wodurch und wann lässt sich verdeckter Widerstand überhaupt legitimieren? Sie weisen selbst daraufhin, dass vor dem Hintergrund von Reichsbürgern, die den Widerstand für sich reklamieren, die Frage nach der Rechtfertigung nicht leicht zu beantworten ist.

Sutterlüty: Wir haben bewusst darauf verzichtet, Widerstand von rechtsgerichteten Gruppen zu untersuchen. Diese behaupten gegenwärtig häufig, die letzten Verteidiger der Demokratie zu sein, die sie letztlich bekämpfen, und Widerstand gegen einen übergriffigen Staat leisten zu müssen. Derartige Verkehrungen bringen niemanden auf die Idee, den Begriff der Demokratie aufzugeben; ähnlich halten wir es mit dem Widerstandsbegriff und seiner Vereinnahmung durch rechte Gruppierungen. Ihre Frage rührt aber an den tiefergehenden Punkt, wie groß die Missstände sein müssen, damit Widerstand legitim sein kann. In unseren Beispielen steckt schon ein normativer Kern, eine moralische Empörung. Es geht um Handlungen, über deren Legitimierbarkeit man sehr gut nachdenken kann. Nehmen wir das Beispiel der Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer. Mitunter schon die Rettungsaktionen selbst, erst recht aber die anschließende Flucht- und Transithilfe sind klar Widerstand gegen geltendes Recht. Wenn man aber die Rettung von Leben als etwas Dringliches sieht, bleibt eben oft nur der Rechtsbruch. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf Fritz Bauer hinweisen, der die Frage aufgeworfen hat, „ob mit den Widerstandshandlungen abgewartet werden muss, bis der Rechtsstaat in den Unrechtsstaat umgeschlagen ist“. In solche Problemgebiete kommt man hinein, wenn man sich mit verdecktem Widerstand beschäftigt.

Ist Gewaltfreiheit ein Begriff, der bei der Rechtfertigung weiterhilft?

Sutterlüty: Unbedingt. Es geht nicht nur um die Legitimität der Ziele des Widerstands, sondern auch um die der eingesetzten Mittel. Wenn die Mittel gewalttätig sind, können sie nicht legitim sein. Oder, etwas vorsichtiger formuliert: Es bedürfte schon sehr spezifischer Konstellationen, um ernsthaft in Betracht zu ziehen, ob Gewalt bei verdecktem Widerstand gerechtfertigt werden kann. In einer Demokratie gibt es ein Gewaltmonopol des Staates. Punktum. Mit allen Problemen, die damit zusammenhängen mögen.

„Wenn man über verdeckten Widerstand forscht, lernt man unheimlich interessante und beeindruckende Menschen kennen.“

Wie sollten demokratische Gesellschaften mit Widerstand dieser Art umgehen?

Sutterlüty: Bei Widerstandpraktiken, die sich im Anschluss an demokratische Normen legitimieren lassen, wie etwa bei Missständen im Arbeitsbereich der Wanderarbeiter, sollte der Staat nicht mit aller Härte reagieren. Im Fall von Fluchthelfer:innen auch nicht. Ich bin kein Berater der Exekutivgewalt und gehöre auch keinem Schiedsgericht an, das über die Legitimität von Widerstandspraktiken zu befinden hat. Hier kommen gewiss auch Fragen der politischen Klugheit ins Spiel. Insbesondere dann, wenn die Exekutivgewalt zu massiv gegen Widerstand vorgeht, der moralisch nobel, aber widerrechtlich ist, wird dies ja oft skandalisiert; auch der Staat und die Verfolgungsbehörden können sich mit ihrem Handeln ins Unrecht setzen. Es gibt allerdings auch Regelbrüche, die gar nicht auf der rechtlichen Ebene liegen, sondern nicht justiziable soziale Erwartungen betreffen.

Was hat die Beschäftigung mit verdecktem Widerstand bei Ihnen ausgelöst?

Sutterlüty: Ich habe einen empirischen Hunger bekommen und angefangen, wieder selbst ins Feld zu gehen. Wenn man über verdeckten Widerstand forscht, lernt man unheimlich interessante und beeindruckende Menschen kennen. Und man erfährt dabei extrem viel über die gesellschaftlichen Zustände, gegen die sie sich wenden. Ich möchte aus dieser Forschung, bei der mich bereits einige studentische Mitarbeiter:innen unterstützt haben, eine Monographie schreiben.

Poppinga: Die Demokratie hat sicher eine Präferenz für offenen Widerstand. Seit dem Abschluss des Bandes beschäftigt mich aber auch die Frage, welche Relevanz verdeckter Widerstand zukünftig haben wird. Betrachten wir beispielweise die Wirksamkeit von offenen Protesten. Wir sehen Zehntausende, die für eine andere Klimapolitik auf die Straße gehen, aber kaum eine Resonanz in demokratischen Politiken erfahren. Gleiches gilt für andere Bereiche, wie das Wohnen, Migration oder Fragen der Gleichberechtigung. Offene Formen des Protests wirken zunehmend performativ, weil die öffentliche Kritik häufig wenig Einfluss auf demokratische Entscheidungsprozesse hat. Natürlich gibt es Gegenbeispiele. Trotzdem frage ich mich vor dem Hintergrund dieser Beobachtung, wie gesellschaftliche Missstände zukünftig wirksam kritisiert und verändert werden können.

Fragen: Pia Barth

Ferdinand Sutterlüty ist Professor für Soziologie an der Goethe-Universität, Almut Poppinga ist wissenschaftliche Geschäftsführerin am Institut für Sozialforschung.

Zur Veröffentlichung: Ferdinand Sutterlüty, Almut Poppinga (Hg.): Verdeckter Widerstand in demokratischen Gesellschaften. Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie, Band 35. Frankfurt a. M. und New York: Campus Verlag 2022.

Das Buch im Gespräch // Am 15. Februar um 20 Uhr findet in der autorenbuchhandlung marx & co im Rahmen der Reihe „Prismen. IfS bei marx & co.“ ein Gespräch über den Sammelband statt. Mit Almut Poppinga und Ferdinand Sutterlüthy diskutieren die Doktorand:innen am Institut vom Sozialforschung David Lorenz und Franziska Wildt.

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