
Judith Schalansky übernimmt im Sommersemester die Frankfurter Poetikdozentur. Im Gespräch mit dem UniReport spricht sie unter anderem über Sammeln als Art der Weltaneignung, über den Verlust der Dinge und den Trost der Kultur und über Bio- und Bibliodiversität.
UniReport: Frau Schalansky, gibt es Orte,an denen Sie bevorzugt Ihre Texte schreiben? Wie müssen diese Orte beschaffen sein?
Judith Schalansky: Es ist kein Geheimnis, dass ich in der Berliner Staatsbibliothek schreibe, in dem Bau von Hans Scharoun an der Potsdamer Straße, der aus guten Gründen ,Leselandschaft‘ genannt wird. Dort kann man ziemlich konzentriert allein vor sich hin werkeln und ist doch unter Menschen. Ich benötige zum Schreiben aber nicht nur die Ruhe, sondern auch den Bücherfundus. Die Bibliothek ist mein natürliches Habitat. Ohnehin verstehe ich mein Schreiben als Forschen.
In vielen Ihrer Arbeiten verbinden sich wissenschaftliche Recherche, poetische Sprache und gestalterische Präzision. Welche Rolle spielt dabei für Sie das Sammeln – von Stoffen, Themen, Bildern? Ist das eine Methode, eine Haltung oder gar eine Form von Weltaneignung? Wie ändert das Schreiben über die Welt die eigene Wahrnehmung der Welt?
Mich fasziniert immer wieder, wie sich ein Gegenstand mit zunehmender Durchdringung verändert und mit ihr jene Fragen, die man sich ursprünglich gestellt hat. Es ist wie mit den Mandelbrot’schen Fraktalen, die auch beim weiter voranschreitenden Hineinzoomen immer neue, komplexere Muster und Strukturen offenbaren. Es ist endlos. Das Sammeln wiederum ist oft der Ausgangspunkt, die Voraussetzung für eine Weltaneignung – und offenbar eine anthropologische Konstante: Man findet irgendetwas und schleppt es in seinen Bau. Erst später weiß man, was davon wirklich gebraucht wird, zitiert, exzerpiert, paraphrasiert, rezipiert. Die Kunst ist natürlich, irgendwann alles Gelesene zu vergessen, um einen Tonfall zu finden, eine Haltung, einen Zugang – und den eigenen Text zu schreiben. Ein großer, metamorphotischer Kreislauf, während dem aus Sekundär- wieder Primärliteratur wird.
Ihr Buch »Verzeichnis einiger Verluste« (2018) lässt sich als Text verstehen, der da ansetzt, wo mal etwas gewesen ist – also im Grunde mit den Hinweisen, Zeichen und Beweisen für den Verlust eines Dings innerhalb der Welt. Sie schaffen es damit, durch Erinnerung an das Verlorengegangene eine Form der Anwesenheit des Abwesenden herzustellen. In welchem Verhältnis zueinander steht Stofflichkeit/Materialität zum Verlorengegangenen in Ihren Texten? Ist das Verschwinden für Sie eher Bedrohung oder ästhetische Chance?
Es ist beides und miteinander verbunden. Der drohende oder der erlittene Verlust schafft die Dringlichkeit, sich mit einem Sachverhalt auseinanderzusetzen, sei es der Tod eines Angehörigen oder die Tatsache, dass Grönlands Eisdecke schmilzt. Ich persönlich bin überzeugt, dass Verlusterfahrungen am Beginn menschlicher Kulturbetätigung stehen, schmerzhafte Erlebnisse, die gebändigt oder beschwört und künstlerisch bearbeitet gehörten. Irgendwann haben unsere Vorfahren damit begonnen, die toten Artgenossen nicht mehr der Witterung und den anderen Tieren zu überlassen, sondern sie zu verscharren oder gar zu vergraben und sie damit aus dem Nahrungskreislauf entfernt. Etwas wird mit Bedeutung aufgeladen, das magische Denken beginnt. Jede gelungene Trauerfeier schafft diesen transzendenten Moment, in dem die verstorbene Person gleichzeitig anwesend und abwesend ist. Nicht selten spielen Dichtung und Musik dabei eine entscheidende Rolle. Trost ist ohne Kultur nicht zu haben.
Sie sind in der DDR aufgewachsen, waren bei der Wende aber erst 9 Jahre alt. Woran erinnern Sie sich, spielt das Verschwinden einer DDR-Alltagswirklichkeit und die Erinnerung daran eine Rolle für ihr dichterisches Schaffen?
Ich erinnere mich an sehr vieles und habe darüber immer wieder geschrieben. Es ist – und bleibt – das Land meiner Kindheit. Noch entscheidender als diese Erfahrung in einem anderen System sind wohl die Momente des Aufbruchs und die Jahre des Umbruchs, die darauf folgten – und die mich womöglich sensibel für das utopische Denken gemacht haben. Es könnte alles anders sein, ist ein so furchterregender wie betörender Satz.
Sie haben zweimal den ersten Preis der Stiftung Buchkunst in der Kategorie »Schönstes Buch des Jahres« gewonnen (»Atlas der abgelegenen Inseln«, 2009, und »Der Hals der Giraffe«, 2012). In welchem Verhältnis steht für Sie die Gestaltung der Bücher mit dem Text, sind Text und seine Repräsentation als Buch überhaupt voneinander trennbar?
Für mich nicht. Zuerst war ich Gestalterin und bleibe das auch als Schriftstellerin. Ich denke halt in Büchern – und bin befremdet, wenn andere so tun, als gäbe es so etwas wie einen ,reinen Text‘.
Seit 2013 geben Sie die Reihe „Naturkunden“ bei Matthes & Seitz Berlin heraus, die sich durch bibliophile Gestaltung und eine vielfältige Themenwahl auszeichnet – von Wespen über Austern bis hin zu Tannen. Was reizt Sie an dieser Verbindung von Naturbetrachtung, literarischer Form und Gestaltung? Und wie wählen Sie die Themen und Autor*innen für die Reihe aus?
Die Idee war, zwei Bereiche miteinander zu kreuzen, die beide mit Vielfalt und Schönheit zu tun haben: Die Natur und die Buchkultur. Denn Schönheit ist das beste Argument, was wir haben, wenn es darum geht, Bio- und Bibliodiversität zu erhalten und zu fördern. Beides hat viel mit Sinnlichkeit zu tun. Am Anfang haben wir gezielt Autor*innen angesprochen, von denen wir ahnten, dass sie beispielsweise mit einem bestimmten Tier etwas anfangen können. Es müssen gar nicht Expert*innen sein. Wer sich für ein Tier oder eine Pflanze begeistern kann und dieser Faszination nachspüren will und schreiben kann, ist berufen genug.
Haben einzelne (Frankfurter) Poetikvorlesungen aus den vergangenen Jahren/Jahrzehnten bei Ihnen besondere Resonanz gefunden – sei es durch ästhetische Verfahren, inhaltliche Nähe, Irritation oder Inspiration?
Ich werde den Teufel tun, Ihnen das zu verraten. Vielleicht merkt man es, vielleicht auch nicht.
Ihr Vorlesungstitel weckt natürlich bereits Neugier – können Sie uns schon etwas mehr über die Vorlesungen verraten? Vielleicht, welche zentralen Fragen oder Denkbewegungen für Sie im Mittelpunkt der Vorlesungen stehen? Oder genauer nachgefragt: Handelt es sich bei den ‚Stoffen‘ (Marmor, Quecksilber, Nebel) im Titel Ihrer Poetikvorlesung um drei Aggregatzustände des Schreibens – oder lassen sie sich auch als drei Modi des Lesens verstehen?
Es geht mir darum, den Bedingungen nachzuspüren, nicht nur meines Schreibens, sondern auch unseres Lebens auf diesem Planeten, das ganze große Weltverhältnis, und welche Rolle die Kunst, die Poesie, die Literatur bei diesem gewaltigen und oft auch gewalttätigen Unterfangen spielt. Dazu gehört unbedingt die stoffliche Natur der Dinge. Marmor, Quecksilber und Nebel sind natürlich metaphorisch stark aufgeladen, aber auch drei Dinge, die auf der ganz materiellen Ebene viel über den Zustand der Welt verraten. Poetikvorlesungen sind ein Höllengenre, ein Trip ins Eingemachte, und die Urmutter dieses Formats bespielen zu dürfen, bietet immerhin eine schweißtreibende Abwechslung zu den üblichen Abiturprüfungsträumen. Sie merken schon: Ich freue mich unbändig darauf!
Fragen: Anna Yeliz Schentke und Dirk Frank
Unter dem Titel Marmor, Quecksilber, Nebel. Woraus die Welt gemacht ist wird Judith Schalansky an drei Dienstagabenden – am 1., 8. und 15. Juli 2025, jeweils ab 18 Uhr – die traditionsreichen Frankfurter Poetikvorlesungen halten. Am 2. Juli 2025 wird es eine Lesung im Frankfurter Literaturhaus geben. Begleitet wird die Poetikvorlesung von der Ausstellung Wechselstoffe (1. bis 16. Juli) von Michael Kolod, Jan Schmidt und Vroni Schwegler in der Dante 9 und dem wissenschaftlichen Workshop „Naturkunden zwischen Literatur und Wissenschaft“ (15. Juli), organisiert von Prof. Roland Borgards. Weitere Informationen