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Siegfried Kracauer, ein Freidenker der Frankfurter Schule / Interview mit Dr. Felix Trautmann

Eine Internationale Konferenz an der Goethe-Universität soll das vielschichtige Werk des Soziologen, Philosophen, Kultur- und Filmtheoretikers Siegfried Kracauer beleuchten.

Wolfgang Schopf (Literaturarchiv der Goethe-Universität) zeigt den Presseausweis des Frankfurter Journalisten Siegfried Kracauer am 27.01.2014 in Frankfurt am Main. Das Dokument wurde für eine Ausstellung vergrößert und auf eine Platte gedruckt. Foto: ullstein bild – dpa

Dr. Felix Trautmann, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung (IfS) und gemeinsam mit Dr. Sidonia Blättler, Prof. Dr. Axel Honneth und Almut Poppinga Organisator der Konferenz, über einen wichtigen und vielseitigen Denker, der lange nicht als prominenter Vertreter der Frankfurter Schule rezipiert wurde. Doch seitdem auch eine Gesamtausgabe vorliegt, hat die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Kracauer deutlich zugenommen.

UniReport: Herr Trautmann, wenn von der Frankfurter Schule und dem Institut für Sozialforschung die Rede ist, fällt meist nur selten (direkt) der Name Siegfried Kracauers. Wie erklären Sie sich das?

Felix Trautmann: Institutionell gesehen zählte Kracauer nie zum engsten Kreis des Instituts, jedoch mit seinem ganzen Denkansatz, mit seiner Kritik an der kapitalistischen, auf Naturbeherrschung reduzierten Rationalität sowie mit seinem Sensorium für regressive Entwicklungstendenzen der Massenkultur steht er von Anfang an im Zentrum der Kritischen Theorie. Das machen seine frühen Aufsätze deutlich und das zeigt sich in den engen freundschaftlichen Beziehungen zu Adorno, Bloch, Löwenthal und Benjamin. Wie aus den Briefwechseln ersichtlich wird, waren diese Freundschaften jedoch nicht immer ganz reibungslos. Mit Max Horkheimer, dem späteren Direktor des IfS, gab es zudem inhaltlich begründete Vorbehalte gegeneinander. So ist auch die erst spät erfolgte Unterstützung auf dem Weg ins Exil ein weiterer Grund, weshalb dieses Verhältnis stets zwiespältig blieb. Insgesamt war Kracauer aber, wenn auch kein fester Angestellter des Instituts, eine wichtige Figur in dessen intellektuellem Umfeld. Die Rolle Kracauers sollte ohnehin nicht allein anhand der Institutsgeschichte bewertet werden, zumal mit Blick auf die ersten Jahre nach dessen Gründung vor bald 100 Jahren. In den 1920er-Jahren war er vor allem als Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Zeitung tätig und als solcher auch einer breiten, nicht nur akademischen Leser*innenschaft vertraut. Kracauer war somit nicht als Autor philosophischer Abhandlungen oder groß angelegter Studien, sondern für seine Essays und Kritiken bekannt. Als Buchautor kannte man ihn eigentlich erst durch die 1930 erschienene soziologische Studie über die Angestellten. Diese wurde breit und sehr positiv rezipiert, nicht zuletzt aufgrund ihrer besonderen Verbindung von ethnographischer Methode, Kulturtheorie und politischem Kommentar. Alles in allem würde ich sagen, dass man die Geschichte der Frankfurter Schule nicht ohne Kracauer schreiben kann. Dafür sollte man diese aber auch als eine Konstellation über das Institut hinaus auffassen.

Im Wikipedia-Eintrag zu Siegfried Kracauer steht an erster Stelle »Journalist«. Dennoch hat in den letzten Dekaden auch seine wissenschaftliche Arbeit eine zunehmende Wertschätzung erfahren. Worin sehen Sie die Gründe für die doch sehr große zeitliche Verzögerung?

Die Bezeichnung Journalist ist ja nicht falsch. Die Frage ist eher, wie er diese Berufsbezeichnung ausgefüllt hat. Die essayistischen Miniaturen, die er im Feuilleton und an anderen publizistischen Orten veröffentlichte, waren theoretisch recht anspruchsvoll. Diese Textsorte hat ihm die Möglichkeit eröffnet, seine unterschiedlichen Kenntnisse, Beobachtungen und Erfahrungen zusammenzutragen: zum Film, zu Architektur und Städtebau, aber auch zu politischen, soziologischen und philosophischen Fragen. Er schrieb über literarische Neuerscheinungen, über zeit- und kulturgeschichtliche Phänomene sowie über noch die scheinbar oberflächlichsten Aspekte der Massenkultur. Als Journalist und Essayist hat Kracauer somit eine Wertschätzung in seiner Zeit genossen. Was seine eher theoretischen Schriften angeht, so hat die Rezeption hier andere, zeitlich verzögerte Wege genommen. Seine beiden Filmbücher wurden später für die Entstehung der Filmwissenschaft in Deutschland sehr wichtig. In der Philosophie und Soziologie sowie in den Kulturwissenschaften wurde man nur vereinzelt oder eben erst spät auf ihn aufmerksam.

Die ab 2004 erschienene neue Werkausgabe von Kracauer hat einen großen Anteil daran, dass er seit einigen Jahren erneut eine breitere und auch intensivere Rezeption erfährt. Denn durch die kritische Edition wurde die beeindruckende Menge und Vielfalt der Texte auf neue Weise zugänglich. Darüber erhalten wir auch Zugang zu einigen unveröffentlichten Texten und durch die chronologische Anordnung seiner Essays und Kritiken lässt sich die Entwicklung seines Denkens nachvollziehen. Aber es gibt vor allem auch inhaltliche Gründe für die zunehmende Wertschätzung seines Werkes: Er war ein enorm vielschichtiger Denker, der soziologische, philosophische und kulturtheoretische Fragen so zusammenführt, dass er bei aller radikalen Gesellschaftskritik stets eine Nähe zum Beobachteten wahrt und die Wirklichkeit durchdringt, ohne sich über die Phänomene zu erheben. Die Art und Weise, wie er anhand von Filmen und anderen massenkulturellen Ausdrucksformen die Gefühlslage und den Zerfall von Sinnzusammenhängen in seiner Zeit untersucht, ist für heutige Ansätze Kritischer Theorie womöglich wegweisender, als es große philosophische Abhandlungen sein können. Daher findet seine Rezeption auch eher im Kontext der Ästhetik und Kulturtheorie statt – einst ein Kerngebiet der Frankfurter Schule – und weniger in der Philosophie oder Soziologie.

Gibt es ein verbindendes Moment, lässt sich Kracauers Sichtweise auf den Kapitalismus und die moderne Gesellschaft auf einen Nenner bringen?

Kracauers Denken zeichnet sich durch die Befragung der großen historischen, politischen wie sozioökonomischen Entwicklungslinien und -dynamiken aus: Das zeigt sich zum einen anhand der Frage der kapitalistischen Modernisierung, die er von ihrer mythischen, nicht zuletzt irrationalen und destruktiven Seite her beschreibt. Im gleichen Zuge ist es die Frage nach den vielfältigen Prozessen, die in den Faschismus führen und die er anhand der Massenkultur, Intellektuellendiskurse und der politischen Propaganda untersucht. Für ihn besteht die Aufgabe der Kritik darin, die mythischen Mächte, die in und um uns wirken, aufzuzeigen und zu zerstören. Auf diese Weise erkennt er in den 1920er-Jahren auch sehr früh, dass von den Massen offenbar kaum Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu erwarten ist. Dabei nimmt er stets die in der Massenkultur artikulierten Wünsche und Sehnsüchte sehr ernst, immer natürlich mit dem Verweis darauf, dass die Zerstreuung in ihrer ideologischen Form realen emanzipatorischen Transformationen im Weg steht. Dieser Zugang zur Massenkultur zeichnet seine Stellung innerhalb der Kritischen Theorie aus und bildet zugleich eine Brücke zu heutigen Theorien des Populären. Ein weiterer Aspekt seines Denkens, vielleicht der stärkste, tritt in der Filmtheorie sowie dem posthum erschienenen Geschichtsbuch zutage: Die Idee, dass die Wirklichkeit unerlöst ist, dass sie etwas sich den mythischen Mächten Entziehendes, aber auch Unfertiges hat – etwas, das sich erst im Film, also in der medialen, sowie in der Geschichtsschreibung, also der historischen Betrachtung zeigt. Geschichte begreift Kracauer demnach von den verfehlten Momenten her, dem Verfemten, dem Scheitern, dem Namenlosen; die gegenwärtige wie auch die historische Wirklichkeit muss man sich immer wieder neu aneignen. Das ist dann nicht nur eine Arbeit an der Gegenwart, sondern auch am Vergessenen der Vergangenheit. Sein Wirklichkeitsbegriff gewinnt darin einen gleichsam messianischen Sinn für deren Offenheit.

Welche Aspekte des Kracauer’schen Werkes gilt es noch zu entdecken und zu erforschen – was erhoffen Sie sich persönlich von der Konferenz?

Ich würde ganz grundsätzlich sagen, dass Kracauer für eine gegenwärtige, sich kritisch verstehende Sozialforschung eine sehr wichtige Figur sein kann und dies bislang noch nicht im umfänglichen Sinne gewesen ist. Gerade von der Filmtheorie, zumal ihren frühen Entwürfen und ihren Ausführungen zum Realismus, kann die Sozialforschung die Frage des Konflikts um Wirklichkeitszugänge vertiefen. Ausgehend vom Blick des Kameraauges formuliert Kracauer einen, wie ich finde, äußerst unorthodoxen materialistischen Ansatz, der sich durch seine nicht anthropozentrische Perspektive auf die stoffliche Welt und unser Naturverhältnis auszeichnet. Auch Kracauers Geschichtsbuch ist noch nicht wirklich in der Breite rezipiert worden, obwohl es durch seinen Sinn für die Hohl- und Zwischenräume der Geschichte eine ganz zeitgemäße kritische Perspektive der Historiographie eröffnet. Nicht zuletzt können die erst seit einigen Jahren gut zugänglichen Texte aus dem Kontext der Ende der 1930er-Jahre geplanten Studie zu Masse und totalitärer Propaganda eine Ressource für die heutige Autoritarismusforschung sein. Denn sie zeigen, wie schon einige der Feuilletonessays der 1920er-Jahre, wie Kracauer die Faschisierungstendenzen ausgehend von der Wirkung der Propaganda in der Masse und als einen Prozess der Entsolidarisierung und politischen Haltungslosigkeit aus der Mitte der Gesellschaft heraus begreift.

Die Konferenz bietet die Möglichkeit, diese Themen mit vielen aktuellen, teilweise internationalen Forscher*innen zu diskutieren und Kracauer als einen Denker für heute zu vergegenwärtigen, sich mit seiner intellektuellen Kraft zu befassen und ganz „undiszipliniert“ weiterzudenken. Sie soll eine Stimme der Kritischen Theorie wieder in den Vordergrund rücken, die ihr etwas abhandengekommen ist.

SIEGFRIED KRACAUER

Internationale Konferenz Filmreihe, Lesungen, Stadtrundgang und mehr
Institut für Sozialforschung, Frankfurt am Main
19. bis 21. Mai 2022

Ausstehende Termine der begleitenden Filmreihe
Siegfried Kracauer: Film und Gesellschaft
13. April, 20. April und 18. Mai
DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, Schaumainkai 41, Frankfurt am Main

Mehr Informationen unter https://kracauer-konferenz.de

Wie ist die Konferenz aufgebaut, welche Formate und Diskursformen erwarten die Teilnehmenden?

Die Konferenz war ursprünglich für 2020 geplant, musste dann aus offensichtlichen Gründen verschoben werden. Die Pluralität des Kracauer’schen Werkes und die vielfältigen theoretischen Anknüpfungsmöglichkeiten daran waren für uns Anlass, diesen besonderen Typus kritischen Denkens für die gegenwärtige Sozialforschung und Gesellschaftstheorie neu bzw. wieder zu gewinnen. In einer Mischung aus Aneignung, Systematisierung und Neubetrachtung sollen auf der Konferenz einzelne Werke Kracauers in Workshops gemeinsam in Auszügen gelesen und besprochen werden. Die Plenarveranstaltungen mit jeweils zwei Vorträgen machen den Versuch, vier Themenfelder neu zu kartieren: Die „Poetik der Geschichte“; die „Gesellschaftlichkeit des Films“; die „Mikrosoziologie des Umbruchs“ sowie die „Öffentlichkeit der Massen“. Zusätzlich wird es auch noch zwei Podiumsdiskussionen geben, die den Themen „Kracauer und die Soziologie“ und „Kracauer und die Künste“ gewidmet sind.

Ein wichtiger Baustein des Rahmenprogramms ist die Filmreihe, die bereits seit Anfang März läuft. Wie ist dabei der Bezug zur Konferenz zu verstehen?

Die Filmreihe haben meine Kollegin Leonie Hunter und ich gemeinsam mit dem Arbeitskreis „Ästhetik und Medienkultur“ am IfS organisiert. Sie befasst sich mit der Frage der Gesellschaftlichkeit des Films. Im Vorlauf zur Konferenz zeigen wir in Kooperation mit dem Filmmuseum sowohl historische Filme als auch neuere Spielfilme sowie künstlerische und dokumentarische Filme, die wir versuchsweise „mit Kracauer“ anschauen. Den Film verstehen wir dabei als Reflexionsmedium für philosophisch-soziologische sowie politische Fragen über Kracauer hinaus. Dass es hierfür nötig ist, die Filme auch im Kino zu sehen, erscheint selbsterklärend, war doch das Kino für Kracauer, genauso wie das Feuilleton, ein wichtiger Ort des Nachdenkens jenseits der Akademie. Aus diesem Grund wollten wir die Konferenz auch nicht auf den Hochschulraum beschränken.

Fragen: Dirk Frank

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