Das Tumor-Mikromilieu bietet neue Ziele für die Therapie
Zum Krebs gehören mehr als mutierte Zellen, die unkontrolliert wachsen. Forscher wie Florian Greten vergleichen das Krebsgeschehen mit Wunden, die nicht heilen können. Wenn sich zum Beispiel ein Schnitt in die Haut geschlossen hat, schaltet sich das Reparaturprogramm normalerweise von selbst wieder ab. Beim Krebs läuft es dagegen weiter und hilft dem Tumor zu wachsen.
Den Verdacht, dass Krebs und Entzündungen zusammenhängen, hatte vor gut 2000 Jahren schon der griechische Arzt Galen. Im 19. Jahrhundert kam der deutsche Arzt und Pathologe Rudolf Virchow zu demselben Schluss, als er Schnitte von Lungentumoren unter dem Mikroskop betrachtete und dort die für Entzündungen typischen weißen Blutkörperchen sah.
Etwa 100 Jahre nach Virchow bestätigten epidemiologische Daten, dass Menschen mit chronisch-entzündlichen Erkrankungen ein erhöhtes Krebsrisiko haben. So kann etwa eine chronische Magenschleimhautentzündung mit Helicobacter pylori zu Magenkarzinomen oder Lymphomen führen. Ein weiteres Beispiel ist die chronische Hepatitis B oder C, die zum Teil in Leberkrebs mündet. Bei Frauen birgt die Besiedlung mit Humanen Papilloma-Viren (HPV) das Risiko, an Gebärmutterhalskrebs zu erkranken, bei Männern kann es zur Ausbildung von Kopf-Hals-Tumoren führen. Durch eine Antibiotikabehandlung bei chronischer Gastritis oder eine vorbeugende Impfung bei HPV ist das Krebsrisiko heute nachweislich gesunken.
Krebs rekrutiert Riesenfresszellen

Die ursächlichen Zusammenhänge zwischen Krebs und Entzündungen werden im Detail erst seit etwa 20 Jahren erforscht. Zur Jahrtausendwende kamen die Riesenfresszellen (Makrophagen) in den Fokus. Sie gehören zur vordersten Front der Immunabwehr. Zunächst zirkulieren sie als Monozyten im Blut. Bei Infektionen und Verletzungen wandern sie ins Gewebe ein und differenzieren dort zu Makrophagen. In dieser Form fressen und zerkleinern sie körperfremde Proteine (etwa Bakterien oder Viren) und präsentieren sie den T-Zellen des Immunsystems. Diese produzieren passgenaue Antigene, um die Erreger schnell neutralisieren zu können. Gleichzeitig locken die Riesenfresszellen weitere Makrophagen durch chemische Lockstoffe (Chemokine) ins Gewebe.
In der Umgebung von Krebszellen werden die Makrophagen jedoch zu Überläufern. Ihr genetisches Programm ändert sich, sodass sie die Krebszellen nicht bekämpfen, sondern in ihrem Wachstum sogar noch unterstützen. Epidemiologische Daten zeigen, dass sich die Überlebenschancen von Patienten verschlechtern, wenn in der Umgebung des Krebses besonders viele dieser Tumor-assoziierten Makrophagen nachweisbar sind.
Entzündungswege blockieren, Krebswachstum hemmen
Florian Greten hat die Anfänge dieser Forschung während seiner Zeit als Postdoktorand zu Beginn der 2000er Jahre an der University of California in San Diego miterlebt. Damals war bekannt, dass Menschen, die regelmäßig Aspirin nehmen, ein geringeres Darmkrebsrisiko haben. Man führte dies auf die entzündungshemmende Wirkung des Medikaments zurück, wusste aber nicht, warum dies funktioniert. Greten untersuchte deshalb einen für Entzündungen zentralen Signalweg, der über ein Protein läuft, das die Herstellung anderer Proteine steuert, den Transkriptionsfaktor NF-Kappa-B. Er reguliert die Ausschüttung pro-inflammatorischer Botenstoffe (Zytokine). Unterbricht man den Signalweg, kann keine Entzündung entstehen. 2004 konnte Greten an Mäusen mit Darmkrebs tatsächlich zeigen, dass die Ausschaltung von NF-Kappa-B das Krebswachstum hemmt – und zwar egal, ob der Signalweg in den Tumorzellen selbst oder in den umgebenden Makrophagen unterbrochen wurde.
»Das war das erste Mal, dass wir zeigen konnten: Es hat einen Einfluss auf das Tumorwachstum, wenn wir einen Zelltyp aus seiner Umgebung, der ja nicht mutiert ist, behandeln«, erinnert sich Greten. »Die Forschung ist dann quasi explodiert. Leute haben angefangen, immer mehr Signalwege in Makrophagen anzuschauen. Es gab mehr und mehr genetische Modelle, die untersucht haben, was Makrophagen machen, wenn sie in die eine oder in die andere Richtung differenziert werden.«
Inzwischen werden nicht mehr nur Makrophagen untersucht, sondern das gesamte Mikromilieu des Tumors. Dazu gehören alle inflammatorischen Zellen, Blutgefäße und Bindegewebszellen (Fibroblasten), die auch bei einer Wundheilung aktiviert werden. Durch die Krebszellen werden jedoch weitreichende Veränderungen dieses Milieus in Gang gesetzt, die sich gegenseitig beeinflussen und auf die Tumorzelle zurückwirken. Ziel ist es, dieses Mikromilieu in die Therapie mit einzubeziehen, anstatt nur die mutierte Zelle anzugreifen. »Wenn man ehrlich ist«, sagt Greten, »war das Prinzip gar nicht so neu. Denn schon in den 1990er Jahren hatte man angefangen, Zellen aus dem Mikromilieu ins Visier zu nehmen, indem man die Neubildung von Blutgefäßen medikamentös unterdrückte.«
Tumor-Mikromilieu stört Reparaturmechanismen

Greten und seine Gruppe wollen ihre Kenntnisse über das Tumor-Mikromilieu nutzen, um einerseits das Ansprechen auf Chemotherapien zu verbessern und andererseits effektivere Immuntherapien zu entwickeln. Denn T-Zellen, die Teil des körpereigenen Reparaturmechanismus sind, verlieren bei Krebs die Fähigkeit, mutierte Zellen zu erkennen und zu vernichten. Es gibt bereits Medikamente, sogenannte Checkpoint-Inhibitoren, die die Ausschaltung der T-Zellen durch den Krebs verhindern. Allerdings ist nicht bekannt, warum sie nur bei bestimmten Krebsarten wie schwarzem Hautkrebs gut funktionieren. Auch hier vermutet Greten die Ursache im Mikromilieu, und zwar im Bindegewebe, das die Einwanderung von T-Zellen in den Tumor unterdrückt. »Wenn wir den Prozess verstehen, können wir ihn möglicherweise auch wieder rückgängig machen«, hofft er.
Weil die Tumorzellen und ihr Milieu immer wieder Möglichkeiten finden, der körpereigenen Abwehr und der Chemotherapie zu entgehen, wird sich die Therapie zukünftig auf mehrere Ziele richten müssen. »Wahrscheinlich braucht es eine eigene Kombination für jeden einzelnen Tumor«, vermutet Greten. »Das heißt, wir müssen auf der einen Seite Krebszellen eliminieren. Und auf der anderen Seite das Milieu beeinflussen, insbesondere die körpereigenen Immunzellen aktivieren und stärken.«
Forschung nah am Patienten
Bei der Suche nach verbesserten Therapien arbeiten die Grundlagenforscher am Georg-Speyer-Haus eng mit Klinikern an der Universitätsklinik Frankfurt zusammen. Sie alle sind unter dem Dach des Frankfurt Cancer Institute zusammengeschlossen, das als Loewe-Zentrum vom Land Hessen gefördert wird. Der Fokus liegt auf Tumoren des Magen-Darm-Trakts, insbesondere des Rektums, auf Leukämien sowie Hirntumoren und seit Neuestem auch auf der Metastasierung von Tumoren. Als Beispiel für die erfolgreiche Kooperation nennt Greten die Zusammenarbeit mit Claus Rödel und Emmanouil Fokas aus der Strahlentherapie.
Rödel, dem Leiter der Studiengruppe für Rektum-Karzinome in Deutschland, war aufgefallen, dass bestimmte Patienten besonders gut auf eine kombinierte Strahlen- und Chemotherapie vor einer Operation ansprechen, andere dagegen nicht. Greten und seine Gruppe konnten eine mögliche Ursache finden, indem sie in der Maus ein Rektum-Karzinom induzierten und anschließend bestrahlten. Es stellte sich heraus, dass ein entzündlicher Vorgang an den Bindegewebszellen um den Tumor dafür sorgte, dass die Mäuse schlechter auf Strahlentherapie ansprechen. »Es kam also auf die Bestrahlung der Bindegewebszellen und nicht auf diejenige der Tumorzellen an«, erklärt Greten das überraschende Ergebnis.
Rückblickend hätten die Kliniker diese Unterschiede auch bei den Patienten nachweisen können. Insbesondere war der Botenstoff Interleukin-1 an der entzündlichen Veränderung des Bindegewebes beteiligt. IL-1 ist auch bei einer Reihe von chronischen Entzündungserkrankungen wie rheumatoider Arthritis hochreguliert. Dagegen gibt es ein bereits zugelassenes Medikament. »Wir konnten sehen, dass eine Maus, die vorher nicht auf Strahlentherapie reagierte, dafür empfänglich wird, wenn wir IL-1 mit diesem Medikament blockieren«, so Greten. Dank der engen Zusammenarbeit mit der Klinik konnte das Medikament sehr schnell auch an Rektum-Karzinom-Patienten getestet werden. Obwohl in dieser Phase-1-Studie zunächst nur überprüft wurde, ob es sicher ist, das Medikament in Kombination mit einer Chemotherapie und Bestrahlung anzuwenden, zeichnete sich ab, dass die Patienten auch besser auf die Strahlentherapie ansprachen. Deshalb soll das Medikament nun in einer größeren Phase-2-Studie an krebskranken Patientinnen und Patienten untersucht werden.
Tödliche Nachbarschaftshilfe
Gretens Gruppe hat kürzlich eine weitere überraschende Entdeckung gemacht. Es handelt sich um einen Mechanismus zwischen benachbarten Tumorzellen, der erklärt, warum man mit einer Chemotherapie nicht alle Krebszellen abtöten kann. Die sterbenden Zellen senden nämlich an ihre Nachbarn eine Warnung und zeigen ihnen, wie sie das Zellgift überleben können. In Organoiden – in der Kulturschale gezüchteten, tumorähnlichen Geweben – hatten die überlebenden Krebszellen ihre Signalwege innerhalb weniger Stunden vollständig umprogrammiert und waren gegenüber der Chemotherapie resistent. Wenn man diesen Mechanismus medikamentös unterbinden könnte, wäre die Chemotherapie hochwirksam. Greten hofft, Anfang 2025 einen vielversprechenden Wirkstoff in einer Phase-1-Studie testen zu können.
Der Wissenschaftsrat hat dem Georg-Speyer-Haus kürzlich sehr gute bis hervorragende Forschung bescheinigt. Greten wurde 2023 als »Highly Cited Researcher« gelistet. Das zeigt, dass das Georg-Speyer-Haus sich als wichtiger Standort für die Erforschung der Tumor-Mikromilieus etabliert hat. Und wo will Greten in zehn Jahren stehen? »Idealerweise haben wir dann Therapien entwickelt, die die Patienten erreicht haben. Denn auch wenn ich selbst keine Patienten mehr behandle: Ich bin Mediziner. Deshalb möchte ich das translationale Konzept des Frankfurt Cancer Institute ausweiten und unsere Erkenntnisse schnell in klinische Studien überführen. Und vielleicht bekommen wir es hin, dass der Checkpoint-Inhibitor auch beim Kolon-Karzinom funktioniert. Bisher ist das nur in 10 bis 15 Prozent der Fälle so und wir wüssten gern warum«, erklärt er.

Zur Person / Prof. Dr. Florian Greten, Jahrgang 1972, forschte nach seinem Medizinstudium in Hamburg und Wien vier Jahre in der pharmakologischen Abteilung der University of California in San Diego. Zurück in Deutschland habilitierte er sich 2008 und wurde 2010 als Professor an die II. Medizinische Klinik des Münchener Klinikums berufen. Im Januar 2011 wurde er Professor am dortigen Institut für Molekulare Immunologie. Seit 2013 leitet Florian das Greten Georg Speyer Haus – Institut für Tumorbiologie und experimentelle Therapie und erhielt gleichzeitig eine Professur für Tumorbiologie am Fachbereich Medizin der Goethe-Universität. Er ist Sprecher des Frankfurt Cancer Institute.
greten@gsh.uni-frankfurt.de

Die Autorin / Anne Hardy, Jahrgang 1965, studierte Physik und promovierte in Wissenschaftsgeschichte. Sie ist als freie Wissenschaftsjournalistin auf Themen der Naturwissenschaft und Medizin spezialisiert.
anne.hardy@t-online.de