Auf dem Weg zu einer digitalen Wissenskultur: Interview mit Ulrich Schielein

Ulrich Schielein, neuer Chief Information Officer und hauptamtlicher Vizepräsident der Goethe-Universität

Ulrich Schielein, neuer Chief Information Officer und hauptamtlicher Vizepräsident der Goethe-Universität, über Potenziale und Herausforderungen der Digitalisierung, über die notwendige Reflexion und Kritik technologischer Veränderungen und die Bedeutung des Lebenslangen Lernens.

UniReport: Lieber Herr Schielein, was sind Sie für ein Typus Mediennutzer, wie würden Sie sich beschreiben?

Ulrich Schielein: Ich lese noch sehr gerne Bücher und Zeitungen in physischer Form. Die gedruckte Zeitung am Frühstückstisch würde ich auch nicht gegen die digitale Ausgabe eintauschen wollen; ansonsten versorge ich mich natürlich beruflich mit Informationen hauptsächlich online. Ich nutze ferner auch viele Apps zu ganz unterschiedlichen Zwecken. Ich würde mich insgesamt vielleicht nicht als Digital Native, aber doch als Digital Immigrant bezeichnen.

Was haben Sie sich für die sogenannten »ersten 100 Tage« ihrer Amtszeit vorgenommen?

Es sind zuerst einmal viele Gespräche, die ich bereits führe und noch führen möchte, mit den wichtigsten Akteuren innerhalb und auch außerhalb der Universität, nach dem Motto: zuhören, lernen, verstehen, verbinden. Ich bin ja als „Fremdgewächs“ neu an der Uni, schaue auf viele Dinge mit dem Blick von außen und muss erstmal das System kennenlernen. Dabei möchte ich erfahren, wo wir beim Thema Digitalisierung überhaupt stehen. Wer Anregungen und Ideen hat, kann gerne auf mich und mein Team zukommen. Natürlich möchte ich auch nicht den Eindruck vermitteln, dass ich alles besser weiß; stattdessen zuhören, verstehen und auf dieser Basis Themen priorisieren. Ich möchte gerne in meinen ersten 100 Tagen zumindest die Leitplanken dafür definieren, wo es im Hinblick der Digitalisierung langfristig hingehen soll. Was ich bereits aus vielen Vorgesprächen weiß: Zahlreiche Projekte dazu laufen ja bereits, dort wird mit Hochdruck daran gearbeitet. Ich möchte gerne meinen Beitrag dafür leisten, dass diese Projekte mit Erfolg zu Ende geführt werden können. Die Mitarbeitenden dieser Projekte sind natürlich gebunden und stehen dadurch für andere Projekte erstmal nicht zur Verfügung – das ist wichtig für mich zu sehen, da muss ich mir einen Überblick verschaffen.

Wo sehen Sie die größten Unterschiede zwischen Unternehmen und Institutionen bei der IT-Nutzung?

Den Unternehmen ist mittlerweile bewusst, dass Informationstechnologie sich nicht mehr in der reinen Supportfunktion erschöpft. Im Beraterjargon spricht man heute eher von einer „strategischen Waffe“. Es stellt sich heute nicht mehr die Frage, ob man eine Digitalisierung braucht, sondern eher, wie schnell und wie erfolgreich. Es gibt Untersuchungen, die klar bestätigen, dass Unternehmen, die nur wenig oder gar nicht digitalisieren, in einigen Jahren vom Markt verschwunden sein werden. Bei den Unternehmen ist der Erneuerungsdruck schon enorm. Die Kunden erwarten heutzutage eine permanente Online-Verfügbarkeit von digitalen Produkten und Services übers Smartphone. Im universitären Bereich und in Institutionen generell sehe ich das Problem, dass Digitalisierung oft noch im Sinne des Supports gesehen wird; man arbeitet an einer Automatisierung, aber es fehlt für mich noch eine Vision für eine digitale Zukunft. Speziell bei den Gesundheitsämtern ist der Stand der Digitalisierung desaströs: Nach zwei Jahren Pandemie können immer noch nicht aktuelle Fallzahlen erhoben werden. Institutionen müssen offener für neue Technologien werden, dabei den konkreten Nutzen für den User in den Vordergrund stellen. Das bedeutet, dass man die neuen Technologien nicht nur nutzt, um die internen Verwaltungsprozesse zu vereinfachen, sondern damit auch nach außen wirkt. Im Falle einer Universität entscheidet der Stand der digitalen Entwicklung auch darüber, ob man für Studierende und Mitarbeitende interessant ist. Das voranzutreiben, habe ich mir fest vorgenommen.

Sie sind Wirtschaftsinformatiker: Wo steht Deutschland heute, wurde einiges verschlafen, gibt es möglicherweise eine latente Technikfeindlichkeit, die man an manchen Stellen erst noch überwinden müsste?

Eine generelle Technikfeindlichkeit würde ich nicht sehen. Wenn ich mir beispielsweise die jüngere Generation anschaue, dann sehe ich, wie selbstverständlich sie mit den digitalen Technologien aufwächst. Aber auch bei Personen mittleren Alters sehe ich eigentlich kein Problem, sich mit neuen Technologien vertraut zu machen und diese auch anzuwenden. Etwas schwieriger wird’s vielleicht bei Älteren – ohne diskriminierend sein zu wollen. In Spanien gab es kürzlich Proteste, weil einzelne Banken ihre Services nur noch digital anbieten wollten. Da muss man auch bei uns genau hinschauen, damit bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht ausgeschlossen werden. Wenn öffentliche Einrichtungen aber noch stärker als bisher auf Digitalisierung setzen, kann das für Bürgerinnen und Bürger motivierend sein, diese Tools und Services zu nutzen. Ich habe beruflich einige Zeit in Brasilien verbracht und dort erlebt, wie digital aufgeschlossen die Bevölkerung vor Ort ist. Mit der Steuernummer und einem Smartphone kann man fast alle Verwaltungsprozesse online erledigen; selbst in den Favelas verfügt man in der Regel über ein gut funktionierendes Mobilfunknetz. Eine solche Ausstattung treibt dann auch die Digitalisierung in der Gesellschaft voran.

Moderne Technik benötigt immer auch Anwender*innen, die damit kompetent und eigenständig umgehen können. Wie kann man Ihrer Ansicht nach die IT-Kompetenz der Mitarbeitenden sowohl in Forschung und Lehre als auch in Verwaltung verbessern, wie kann man Anreize schaffen – Stichwort »Lebenslanges Lernen«?

Die digitale Kompetenz bei allen Mitarbeitenden in Forschung, Lehre und Verwaltung, aber auch bei Studierenden, zu stärken, sehe ich als eine meiner zentralen Aufgaben an. Ich sehe da prinzipiell zwei Aspekte: Einmal geht es um das klassische Anwenderwissen. Man sollte bestimmte Basisprogramme bedienen und nutzen können. So etwas kann durch entsprechende Schulungen und ein Training on the Job vermittelt werden. Der zweite Aspekt ist weiter gefasst und beinhaltet ein allgemeines Technik- und Digital-Know-how in allen Mitarbeiter- und Uniangehörigengruppe. Digitalisierung lebt nun einmal von der Breite, vom Mitwirken aller Beteiligten. Beispielsweise werden heute mit den Schlagworten Design Thinking und Agile Methoden neue Arbeitsformen beschrieben, mit deren Hilfe auf Basis von Technologien innovative Ideen schneller umgesetzt werden können. Mir schwebt zum Beispiel ein Leuchtturmprojekt vor, das zeigt, wie schnell eine App für ein bestimmtes Problem entwickelt und zum Einsatz gebracht werden kann. Ich hoffe, dass ich dafür Mitarbeitende gewinnen kann, die sich auch auf den Weg begeben möchten.

Eine umfassende digitale Kompetenz aller Mitarbeitenden und Studierenden ist auch im Hinblick auf den Exzellenz-Wettbewerb wichtig. Ich wünsche mir, dass die Goethe-Uni zum Ende meiner ersten Amtszeit deutlich besser aufgestellt sein wird als jetzt. Denn die Hochschullandschaft wird sich in den nächsten Jahren nochmal deutlich verändern; die Pandemie hat da auch einiges angestoßen. So sollten auch die gewonnenen Erfahrungen und erworbenen Kompetenzen im Bereich digitaler Lehre weiterentwickelt werden hin zu einem sinnvollen Mix aus Digital- und Präsenzbetrieb. Mit digitalen Angeboten kann man auch Zielgruppen ansprechen, die aus bestimmten Gründen nicht in Präsenz an die Uni kommen können. Zum Beispiel jene, die Angehörige zu pflegen haben, oder internationale Studierende, die auch aus Kostengründen nicht nach Frankfurt ziehen können. Digital verfügbare Lehrinhalte können auch für den wichtiger werdenden Weiterbildungsbereich genutzt werden. Das Lebenslange Lernen nimmt an Bedeutung zu, weil Wissen und Kompetenzen schneller veralten und im Beruf immer wieder aufgefrischt werden müssen.

An der Goethe-Universität gibt es eine lange Tradition kritischer Sozial- und Geisteswissenschaften. Das beinhaltet auch einen sehr reflektierten und auch nachdenklichen Blick auf Technik und technokratische Konzepte. Wie könnte man diesen Ansatz im Hinblick auf die Hochschulentwicklung einbinden?

Das halte ich für absolut notwendig. Denn jede Technologie hat immer auch zwei Seiten, sie kann positiv wie auch negativ genutzt werden. Die Beispiele sind zahlreich, man denke nur an die Erfindung des Dynamits durch Alfred Nobel. Genauso ist es bei den digitalen Technologien. So kann man die Gesichtserkennung sinnvoll einsetzen, aber auch zur totalen Kontrolle und Überwachung. So sollte man die Frage stellen: Ist eine technische Lösung für manche Nutzergruppen diskriminierend? In Lehre, Forschung und auch Verwaltung sollte jeder Mitarbeitende ein gewisses Verständnis von Technologie entwickeln. Was wir letztendlich brauchen, ist eine Ethik des Digitalen.

Auch beim Thema Social Media bedarf es einer stärkeren wissenschaftlichen Analyse und Reflexion. Zwar wissen einerseits unzählige Nutzerinnen und Nutzer die Kommunikations- und Vernetzungspotenziale von Facebook & Co zu schätzen. Doch andererseits erkennen wir seit einigen Jahren die negativen Seiten, die bis hin zur Gefährdung der Demokratie reichen. Extreme Meinungen werden sehr schnell verbreitet, treiben dann die Klickzahlen nach oben und versprechen damit den Anbietern Werbeeinnahmen. Auch hier kann eine geistes- und sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen einen Beitrag leisten, die negativen Folgen in den Blick zu nehmen und langfristig einzudämmen.

Ein großes Thema war in den letzten Jahren auch die Sicherheit universitärer Netze: Wie kann man diese noch besser vor Hackerangriffen schützen, gerade auch vor dem Hintergrund globaler Konflikte?

Die Cyberbedrohungen werden sicherlich zunehmen. Es sind unterschiedliche Gruppen: zum einen Hacker, die damit Geld verdienen möchten oder wie im Falle von Nordkorea den Staatshaushalt finanzieren. Ebenso staatliche Akteure, die auf diesem Wege in Netzwerke eindringen und Informationen abgreifen möchten. Universitäten sind hier zunehmend gefährdet; da müssen Schutzkonzepte weiterentwickelt werden, da wird man nicht umhinkommen, mehr Geld in die Hand zu nehmen. Es handelt sich ja gewissermaßen um ein Wettrüsten, denn man muss sich gegen die technisch immer anspruchsvolleren Angriffe entsprechend wappnen. Was ich an dieser Stelle aber auch betonen möchte: Cyberbedrohungen kommen nicht nur von außen. Auch der unüberlegte Klick eines Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin auf einen Link kann ausreichen, um sich etwas einzufangen. Daher müssen alle an der Universität für das Thema IT-Sicherheit sensibilisiert werden. Es muss ein Bewusstsein bei allen aufgebaut werden, was man darf und was nicht. Wie erkenne ich bei einer Mail, ob es sich um einen Phishing-Angriff handelt oder um eine harmlose Massenmail-Umfrage, die ich problemlos anklicken darf? Netze können natürlich nie zu hundert Prozent geschützt werden – es sei denn, man würde diese komplett schließen, was für eine sich vernetzende Institution nicht in Frage kommt.

Fragen: Dirk Frank

Ulrich Schielein wurde am 8. März 2022 zum ersten Chief Information Officer (CIO) der Goethe-Universität gewählt. Der Diplomverwaltungswirt und Diplom-Wirtschaftsinformatiker hat sich unter anderem bei der Bundesagentur für Arbeit mit dem Thema computerbasierte Aus- und Weiterbildung befasst und sich viele Jahre als international tätiger Berater sowohl in Unternehmen der öffentlichen Hand als auch der Privatwirtschaft mit dem effizienten und effektiven Einsatz von Informationstechnologien beschäftigt. Als CIO und hauptamtlicher Vizepräsident der Goethe-Universität verantwortet Ulrich Schielein die Entwicklung und Umsetzung einer übergreifenden Digitalisierungsstrategie und somit die strategische Steuerung der Digitalisierung, des gesamten IT-Bereiches und der Weiterentwicklung der IT-Infrastruktur der Goethe-Universität. In sein Aufgabengebiet fallen auch die Zuständigkeiten für Hochschulrechenzentrum, Universitätsbibliothek und studiumdigitale.

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