Hochschule für alle: Nachteilsausgleich fair und transparent gestalten

Zirka elf Prozent der Studierenden in Deutschland haben eine Beeinträchtigung, die sich negativ auf das Studium auswirkt. Mit einem neuen Projekt will die Goethe-Universität entsprechende Nachteilsausgleiche an der Goethe-Universität vereinfachen.

Viele dieser Beeinträchtigungen sind nicht sichtbar. Oftmals sind es psychische Beeinträchtigungen (53 Prozent) oder chronisch-somatische Erkrankungen wie chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, MS, Rheuma, chronische Schmerzen (20 Prozent). Sichtbare Beeinträchtigungen, wie beispielsweise Bewegungsbeeinträchtigungen, sind mit vier Prozent wesentlich seltener.

In der Zentralen Studienberatung des Studien-Service-Centers befindet sich die Beratungsstelle zum „Studieren mit Beeinträchtigung/Behinderung“. Die Beraterinnen Kirsten Brandenburg und Christina Rahn beraten und unterstützen betroffene Studierende.

Gleiche Voraussetzungen für alle schaffen

Neben Fragen zum Studienverlauf ist der so genannte Nachteilsausgleich ein wichtiges Thema in der Beratungsstelle. Das Hessische Hochschulgesetz definiert ihn als eine zentrale Maßnahme zur Herstellung von Chancengleichheit: Ist es Studierenden aufgrund einer Beeinträchtigung/Behinderung nicht möglich, eine Prüfung unter den vorgegebenen Bedingungen abzulegen, können individuelle Anpassungen, der sogenannte „Nachteilsausgleich“, bei den Prüfungsausschussvorsitzenden der jeweiligen Fachbereiche beantragt werden. Wichtig: Die Beantragung eines Nachteilsausgleichs bedeutet keine Erleichterung oder Reduzierung der Prüfungsanforderungen, vielmehr kann (bei Vorlage der notwendigen Dokumente) eine gleichwertige Prüfung in angepasster Form gewährt werden.

Eine Herausforderung ist, dass viele Studierende die Beratungsstelle erst relativ spät aufsuchen. Oftmals empfinden sie Scham oder haben das Gefühl, das Studium ohne fremde Unterstützung absolvieren zu müssen. Eine weitere Herausforderung sind unterschiedliche Verfahren und Umsetzungsprozesse an den verschiedenen Fachbereichen. An diesem Punkt setzt „Eine Hochschule für alle“ an und will die Verfahren zur Beantragung von Nachteilsausgleichen transparenter und einheitlicher gestalten.

Foto: Dettmar

Dr. Birte Egloff, Geschäftsführerin Lehre und Studium im Dekanat des Fachbereichs Erziehungswissenschaften, nennt dies das zentrale Element des Projekts:

»Das Wesentliche besteht darin, allen Studierenden gleichermaßen Chancen für Bildungsprozesse an der Universität und im Studium zu ermöglichen – unabhängig von Beeinträchtigungen und ohne Diskriminierung. Und ihnen damit die Freiheit zu geben, sich voll und ganz auf Studieninhalte zu konzentrieren und auf ihre berufliche Perspektive.«

Fahrplan nach britischem Vorbild

In einem gemeinsamen Gespräch, an dem die/der betroffene Studierende, eine Beraterin aus dem Bereich „Studieren mit Beeinträchtigung“ sowie die/der Prüfungsausschussvorsitzende des jeweiligen Fachbereichs teilnehmen, sollen zu Beginn des Studiums in einem individuellen Unterstützungsplan alle konkreten Aspekte des Studiums geklärt werden. Hierzu gehören unter anderem alle relevanten Informationen über die Beeinträchtigung/Behinderung, gewährte Nachteilsausgleiche als auch weitere Unterstützungsleistungen von Seiten der Universität – beispielsweise der Zugang zu Ruheräumen, die temporäre Nutzung von individuellen Arbeitsplätzen in der Bibliothek oder die Nutzung von Parkmöglichkeiten in der Tiefgarage. Diese Informationen werden in einem individuellen Unterstützungsplan dokumentiert. Die Praxis dieses Verfahrens hat ihren Ursprung maßgeblich in England; dort erstellen die Universitäten sogenannte „Inclusion plans“.

Für betroffene Studierende wird damit zum einen Sicherheit und Stabilität hergestellt, da klar ist, mit welchen Unterstützungsleistungen sie rechnen können. Zum anderen entsteht eine stärkere Verbindlichkeit, da konkrete Ansprechpartner*innen bekannt sind. Bei einem späteren Termin sollen die vereinbarten Maßnahmen evaluiert werden.

Foto: Dettmar

Prof. Dr. Reinhard Dörner, Studiendekan des Fachbereichs Physik, hebt besonders das klare Vorgehen des Projektes hervor:

»Ich hoffe, dass es aufgrund des im Projekt entwickelten strukturierten Vorgehens in Zukunft einfacher ist, gerechte und für alle nachvollziehbare Entscheidungen über den Nachteilsausgleich zu treffen. Dabei ist wichtig, dass trotzdem noch genug Flexibilität bleibt, um den vielen und immer unterschiedlichen Einzelfällen gerecht werden zu können.«

Das Projekt ist an drei Pilotfachbereichen gestartet: Wirtschaftswissenschaften, Erziehungswissenschaften und Physik. Diese Fachbereiche waren unter anderem deshalb ausgewählt worden, damit verschiedenen Fächerkulturen abgebildet werden können. Letztes Jahr wurden alle Studierenden dieser Fachbereiche angeschrieben, über das Projekt informiert und ermutigt teilzunehmen. Mittlerweile haben an allen Pilotfachbereichen Gespräche mit Studierenden stattgefunden.

Die Fachbereichsvertreter sind sich einig, wie wichtig das gemeinsame Gespräch und die Kommunikation mit den jeweiligen Studierenden sind. Birte Egloff, FB 04: „Der Fachbereich 04 hatte erst ein Gespräch, das in einer angenehmen, konzentrierten und wertschätzenden Atmosphäre stattgefunden hat. Der Studierende hat sich wahrgenommen und in seinem Anliegen ernstgenommen gefühlt. An der Lösung konkreter Probleme wurde direkt gearbeitet und diese umgesetzt. Das war wohl auch eine neue Erfahrung für den Studierenden, der in der Schule eher negative Erfahrungen mit seiner Beeinträchtigung gemacht hat.“

Foto: Martella

Ähnlich äußert sich auch Judith Fink aus dem Prüfungsamt des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften:

»Das Unterstützungsgespräch eröffnet uns die Möglichkeit, den Studierenden die Entscheidungsgrundlagen persönlich zu vermitteln und deren Rückfragen direkt zu klären. Dabei haben wir die Erfahrung gemacht, dass auch ablehnende Entscheidungen von den Studierenden mitgetragen werden, weil sie sich trotzdem gesehen fühlen. Dies kann eine schriftliche Übermittlung der Entscheidung nicht leisten. Daher freuen wir uns auf die kommenden Unterstützungsgespräche.«

Einen anderen wichtigen Aspekt, der durch die Gespräche deutlich wurde, hebt Prof. Dr. Ulrich Ratzinger, Prüfungsausschussvorsitzender des Fachbereichs Physik, hervor: die unterschiedlichen Zugangsvoraussetzungen zum Studium.

»Wir werden uns dabei in besonderer Weise bewusst, dass die Eingangsvoraussetzungen unserer Studierenden höchst unterschiedlich sein können. Entsprechend soll es ein Ansporn sein, alle dort abzuholen, wo sie jeweils stehen. Gleichzeitig dürfen wir nicht an Attraktivität für die Hochbegabten im jeweiligen Fachgebiet verlieren. An dieser anspruchsvollen Aufgabe können alle Lehrenden und alle Kommilitonen auf ihre Weise mitwirken.«

Werden die neuen Verfahrensweisen positiv evaluiert, sollen sie fächerübergreifend implementiert und in die Rahmenordnung der Studiengänge festgeschrieben werden. Dieses Semester wurden sowohl die Studierenden der Pilotfachbereiche angeschrieben als auch Studierende anderer Fachbereiche. In Absprache mit den Fachbereichen kann jetzt geklärt werden, ob und wie eine Teilnahme am Projekt „eine Hochschule für alle“ möglich und gewünscht ist.            

Christina Rahn

Christina Rahn berät und unterstützt betroffene Studierende in der Beratungsstelle zum „Studieren mit Beeinträchtigung/Behinderung“ der Zentralen Studienberatung.

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 2/2021 des Mitarbeitermagazins GoetheSpektrum erschienen.

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