Eigensinn und Menschlichkeit

„Es geht auch anders“ steht in großen Lettern auf dem Klappentext seines Buches „Widerstehen. Versuche eines richtigen Lebens im falschen“. Der Soziologe Ferdinand Sutterlüty hat mit Menschen gesprochen, die nicht nur kritisieren, sondern existenziell für das einstehen, was sie für richtig halten.

Ferdinand Sutterlüty, Foto: Uwe Dettmar, Goethe-Universität Frankfurt
Ferdinand Sutterlüty, Foto: Uwe Dettmar, Goethe-Universität Frankfurt

Was bewegt einen Wissenschaftler zu einem „ethnographischen Reisebericht“? Warum besucht der renommierte Soziologe Ferdinand Sutterlüty Menschen, die die gesellschaftlichen Zustände, in denen sie leben, aktiv verändern wollen, um dann seine Gespräche mit ihnen zu veröffentlichen? Er hat mit einem Gefängnispsychologen gesprochen, der sich als Seenotretter engagiert; mit einer polnischen Hotelputzkraft, die sich gegen Demütigung und Ausbeutung wehrt; mit einer Künstlerin, die ihr Werk Transfrauen im Sexbusiness widmet; mit einer introvertierten und hoch qualifizierten Forstbeamtin, die sich gegen eine rigide Männerherrschaft in der Amtsstube mit einer Klage wehrt; oder mit einem Bergbauernpaar, das seinen Hof in einem alten gemeinwirtschaftlichen Gefüge über Wasser hält.

Das Buch „Widerstehen. Versuche eines richtigen Lebens im falschen“ von Ferdinand Sutterlüty ist 2025 in der Hamburger Edition erschienen.
Das Buch „Widerstehen. Versuche eines richtigen Lebens im falschen“ von Ferdinand Sutterlüty ist 2025 in der Hamburger Edition erschienen.

Jedes Gespräch beginnt mit einer Schilderung des Autors von seiner Anreise, mal mehr oder weniger etappenreich, über Bahnhöfe, an denen der Zug nur nach Bedarf hält, in entlegene Berghütten, in Klassenzimmer einer Berufsschule und rustikale Wohnküchen. Zu nervösen, unterkühlt startenden oder herzlich begrüßenden Menschen. Die dann folgende Begegnung und die bewegenden wie anregenden Gespräche kreisen um die Frage, was die Menschen zu ihrem widerständigen Handeln treibt.

UniReport: Herr Prof. Sutterlüty, Sie haben bislang wissenschaftliche Bücher veröffentlicht. »Widerstehen« ist keinem wissenschaftlichen Genre zuzuordnen. Was ist es dann für ein Buch?

Ferdinand Sutterlüty: Ich denke, es liegt irgendwo zwischen Wissenschaft und Literatur; es besteht aus dokumentarischen Erzählungen. Wenn ich nicht Soziologe wäre, hätte ich das Buch allerdings so nicht schreiben können. Denn hinter der Art und Weise, wie ich die Interviews geführt und dann auch bearbeitet habe, steckt viel Analyse. Diese steht aber ganz im Dienst der Personen, mit denen ich gesprochen habe. Für mich sind diese Personen selbst Intellektuelle und bedürfen daher nicht meiner Kommentierung.

Im Vorwort sprechen Sie von einer »ethnographischen Reise« zu diesen Menschen. Was macht diese Reise aus?

Ich wollte die Gesamtgestalt der Lebensführung dieser Menschen erschließen, ohne das von ihnen Erzählte und von mir Beobachtete analytisch zu zerhacken. Darin besteht die vielleicht größte Abweichung gegenüber qualitativer Sozialforschung im herkömmlichen Sinn. In der Darstellung des Materials wollte ich auch die Diktion der Menschen beibehalten und in einen gut lesbaren Text hinüberretten. Wie die Menschen sprechen, ist nämlich oft bereits Teil ihres widerständigen Handelns. Beim Schreiben hatte ich tatsächlich den Eindruck, mich mit jeder Person in einem anderen Universum zu bewegen.

Wenn es nicht das Biographische ist, worum ging es Ihnen?

Mich interessierten die Praktiken widerständigen Handelns. Es ging mir um Beispiele von Menschen, die ziemlich radikal auf Missstände der Gesellschaft reagieren. Um mit Adorno zu sprechen: Menschen, die definitiv die Auffassung haben, dass wir alle im falschen Leben unterwegs sind; die aber versuchen, darin einen richtigen Weg einzuschlagen. Ich finde diese Personen sehr inspirierend. Immer wieder habe ich in den letzten Jahren gehört, dass sich die Strukturen ändern müssten, um soziale Ungleichheiten abzubauen und zu einer nachhaltigeren Form des Wirtschaftens zu gelangen. Das ist vollkommen richtig, nicht aber der häufige Nachsatz, dass das Verhalten des oder der Einzelnen irrelevant sei. Strukturen haben nämlich weder Arme noch Beine. Sie verändern sich nicht selbst. Die Strukturen kommen in meinem Buch aus der Perspektive handelnder Menschen in den Blick, die auf deren desaströsen Effekte reagieren.

Sie hätten auch auf Verschwörungstheoretiker treffen können.

Stimmt, wenn ich zu den Interviews aufbrach, wusste ich nicht immer, was mich erwartet. Tatsächlich hatte ich auch denkwürdige Begegnungen, denn im Widerspruch fühlen sich momentan von der extremen Rechten bis hin zu esoterischen Kreisen viele ganz wohl. Ich habe mir aber die Freiheit genommen, nur Personen in meinem Buch zu portraitieren, die weitreichende Entscheidungen für sich getroffen und meines Erachtens zukunftsweisende Lebensentwürfe entwickelt haben. Es geht um Personen, die in diesem Sinne Hoffnungsträgerinnen sind und Anregung geben können.

Ihr letztes Buch, wohlgemerkt ein wissenschaftliches, trug den Titel „Verdeckter Widerstand in demokratischen Gesellschaften“. Nun haben Sie den Titel „Widerstehen“ gewählt.

Ob Widerstand nun verdeckt ist oder nicht, war mir am Ende gar nicht mehr so wichtig; offener und verdeckter Widerstand gehen ohnehin oft ineinander über und bedingen sich wechselseitig. „Widerstehen“ schien mir als Titel passend, weil alle dargestellten Personen mit ihrer ganzen Existenz, möchte man fast sagen, Widerstand gegen vielfältige Ungerechtigkeiten und gegen die Zerstörungswut unserer Zeit leisten. Widerstehen kann aber auch heißen: einer Versuchung widerstehen; dem Konsum widerstehen; der Suche nach Anerkennung widerstehen, die ein konventioneller Lebenslauf einbringen würde. Zum Titel kann man auch ein Ausrufezeichen hinzudenken und ihn als Imperativ verstehen im Sinne von: Widerstehen ist das Gebot der Stunde! Diese Lesart würde mir gut gefallen.

Nach meinem Eindruck ist in den von Ihnen dargestellten Gesprächen beides vorhanden: Widerstehen als Verweigerung, als Sand-im-Getriebe-Sein und auch als positiver Gegenentwurf, als Impuls, wie es anders sein könnte.

Ja, es gibt viel Eigensinn in diesem Buch. Aber auch viel Menschlichkeit und Einsatz für andere. Für soziale Problemlagen sind unserer Wahrnehmung nach ja häufig Institutionen oder der Sozialstaat zuständig. Die Menschen, die ich getroffen habe, fühlen sich jedoch von anderen und ihrem Leid direkt, von Person zu Person, angesprochen. Die Putzfrau kämpft für andere in ihrer Branche. Der Seenotretter, der von seinem Schiff eigentlich nur Notfälle melden soll, nimmt große Risiken in Kauf, um Geflüchteten zu helfen. Die Künstlerin versteht sich als Übersetzerin zwischen den Transfrauen in der Sexbranche und der Heterowelt. Indem sich meine Protagonistinnen und Protagonisten von den Lebenssituationen der anderen anrufen lassen, führen sie ein sehr reichhaltiges Leben.

Hat Sie etwas in den Gesprächen überrascht?

Überrascht hat mich, dass die meisten von sich sagen, dass sie quasi schon von Geburt an oder seit früher Kindheit widerständig gewesen seien und nicht anders könnten. Derartige Aussagen lassen sich zumindest teilweise als Abwehr dagegen deuten, sich selbst zu heroisieren und sich über andere zu erheben.

Die Personen sind beim Erzählen ganz bei sich und sprechen den Leser doch unmittelbar an. War es das, was Sie wollten? In einem Gespräch über Ihr letztes wissenschaftliches Buch sagten Sie, es habe in Ihnen Erfahrungshunger ausgelöst.

Ja, das stimmt, und ich konnte dem nun auch Abhilfe schaffen. Als ich mein neues Buch zu planen begann, spielte auch eine gewisse Frustration darüber eine Rolle, mit akademischen Publikationen immer nur andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ansprechen zu können. Für das neue Buch habe ich mir deswegen viele Gedanken über die Form der Darstellung meines Materials gemacht. Wenn die acht Portraits nun die Leserinnen und Leser anregen, über ihre eigene Lebensführung nachzudenken, hätte sich meine Intention schon erfüllt. Wenn dann noch etwas motivierende Freude an den Figuren und der sprachlichen Verarbeitung ihrer Geschichten hinzukäme, wäre es umso schöner.

Hatten Sie Vorbilder?

Direkte Vorbilder hatte ich nicht. Eine gewisse Orientierung gab mir der legendäre Interviewer, Radiomoderator und Autor Studs Terkel, der aus dem Umfeld der Chicago School of Sociology kam. Auch die reportageartigen Werke der belarussischen Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch haben einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Ich weiß nicht, wie viele soziologische, sozialpsychologische und historische Bücher man lesen müsste, um den Übergang der Sowjetunion in den oligarchischen Kapitalismus so begreifbar zu machen, wie es Alexijewitsch mit den kleinen Episoden gelingt, aus denen sich ihr Buch „Secondhand-Zeit“ zusammensetzt.

Und ganz persönlich: Was hat das Buch bei Ihnen ausgelöst?

Erst einmal fand ich es wunderbar, den Schreibtisch und meinen Computer zu verlassen. Ich habe Zeit mit den im Buch dargestellten Menschen verbracht, und die Arbeit an ihren Interviews hat mich in meinem eigenen Denken wirklich beeinflusst. Oft sinne ich darüber nach, dass wir eine völlig andere Vorstellung von Wohlstand brauchen. Darüber kann man beispielsweise vom Bergbauernpaar viel lernen. Vom Seenotretter ist wiederum sehr viel darüber zu hören, was alles im Namen unseres Wohlstands in Europa geschieht – mit tödlichen Folgen für andere, die uns scheinbar wenig angehen. Diese Überlegungen waren mir nicht neu, aber sie wurden durch erfahrungsnahe Anschauung intensiviert und vertieft. Ein untergründiges Thema meines Buches ist, wie bereits angesprochen, auch der Verzicht auf Anerkennung nach landläufigen Kriterien. Gerade der Wissenschaftsbereich ist meines Erachtens doch sehr anerkennungssensibel. Mir scheint es daher wichtig zu sein, sich von den vielen kleinen und großen Anreizen, mit denen die universitären Steuerungsinstrumente arbeiten und Anerkennung verteilen, nicht korrumpieren zu lassen.

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