Erasures: kreatives Streichen als Widerstand

Bücherverbote bedrohen nicht erst seit Trump das demokratische Zusammenleben in den USA. Die Amerikanistin Heike Schäfer untersucht die Formen, gegen den kulturellen Backlash künstlerisch aufzubegehren.

Prof. Heike Schäfer, Foto: privat
Prof. Heike Schäfer, Foto: privat

Bereits kurz nach seinem Amtsantritt prägt Donald Trump mit seinen unzähligen Dekreten die Schlagzeilen der Medien weltweit. Einiges davon, mutmaßen Juristen, dürfte zwar keinen Bestand haben, doch ein Klima der Angst und Unsicherheit macht sich breit, gerade und im besonderen Maße im Kultur- und Bildungsbereich der USA. Erzkonservative Kräfte fühlen sich offensichtlich motiviert, gegen liberal-progressive Kräfte zu agieren und den Schutz von Minderheiten auszuhebeln. Prof. Heike Schäfer, Amerikanistin und Literaturwissenschaftlerin an der Goethe-Universität, beobachtet intensiv den von Trump und seinen Mitstreitern ausgerufenen „Kulturkampf“. Bücherverbote gehören dabei zu den beliebten Maßnahmen, auf den schulischen Literaturunterricht und die Literaturvermittlung einzuwirken. „Die rechtskonservative Kampagne für Bücherverbote läuft seit dem Ende von Trumps erster Amtszeit. Seit 2021 sind die Verbote in öffentlichen Büchereien und Schulbibliotheken sprunghaft angestiegen. Für das Schuljahr 2023/24 allein hat der Schriftstellerverband Pen America über 10 000 Verbotsverfahren und das Verbot von über 4200 Einzeltiteln gezählt. Das ist besorgniserregend. Vor allem, weil sich hier meist nicht einzelne Bibliotheksnutzer über irgendein Buch beschweren, sondern die Bücherverbote von rechtskonservativen Lobbyverbänden, wie zum Beispiel den Moms for Liberty, vorangetrieben werden und in einem Antrag die Zensur von gleich Hunderten Büchern gefordert wird. Mittlerweile werden 72 Prozent aller Verfahren von diesen Pressure Groups angestrengt, wie die American Library Association ermittelt hat. Das sind konzertierte Aktionen“, erklärt Heike Schäfer. „Auf rechtskonservativen Buchbewertungsportalen wird Material ins Netz gestellt, das Interessierten erklärt, wie man am besten vorgeht. Laut ALA wurden sämtliche der 120 Buchtitel, die im vorigen Jahr am häufigsten von Zensurversuchen betroffen waren, auf diesen Webseiten gelistet.“ Die Bücherverbote finden in mindestens 29 Bundesstaaten statt, ganz weit vorne liegen konservative Staaten wie Texas oder Florida. „Das Fatale daran: Oftmals werden die Bücher bereits vom Eingang der Beschwerde an aus der Zirkulation genommen und stehen dann den Leserinnen und Lesern bis zum Ende des Verfahrens nicht mehr zur Verfügung. Auch Verbotsverfahren, die letztendlich nicht zur Zensur führen, haben also konkrete Auswirkungen und können den Zugriff der Leser auf Bücher einschränken. Ziel ist es sicherlich auch, die Bibliothekar*innen einzuschüchtern, damit sie aus vorauseilendem Gehorsam bestimmte Bücher nicht anschaffen oder aus dem Verkehr ziehen.“

Ultrakonservativer Hass auf queere Literatur

Welche Bücher geraten nun überhaupt ins Visier der Pressure Groups? Im Fokus steht vor allem Jugendliteratur: Geschichten über queere oder nicht-weiße Protagonist*innen, über Rassismus- und Ausgrenzungserfahrungen, aber auch über Sexualität, Gewalt und psychische Gesundheit. „Alles, was von ultrakonservativer Seite als zu woke gilt, was nicht heteronormativ ist oder queere Menschen oder People of Color in den Mittelpunkt stellt, kann auf den Index geraten“, erklärt Heike Schäfer. Die ersten Bücher, die den Hass der Buchbanner auf sich gezogen haben, waren autobiografische Texte, wie Gender Queer von Maia Kobabe und All Boys Aren’t Blue von George M. Johnson, die die queere Identitätsfindung und das Coming-out von Jugendlichen thematisierten. Konservative behaupteten, dass Heranwachsende durch eine solche Literatur korrumpiert würden. Schäfer sieht darin den Versuch, die durch die Bürgerrechtsbewegung der 50er und 60er Jahre und spätere soziale Bewegungen in Gang gesetzten Demokratisierungsprozesse wieder zurückzudrehen. „Die Bücherverbote fügen sich nahtlos in andere rechtskonservative Versuche ein, auf der Ebene der Gesetzgebung politisch Einfluss zu nehmen auf Lehrpläne und Unterrichtsmaterialien, um im Backlash gegen die Förderung von Diversität und Teilhabe die eigene Vormachtstellung und Privilegien abzusichern. Ein bekanntes Beispiel ist das sogenannte ,Don’t Say Gay‘-Gesetz von 2022, dass verbietet, sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität in Floridas öffentlichen Schulen zum Unterrichtsgegenstand zu machen. Und die Trump-Regierung stellt ja gerade flächendeckend nicht nur die staatlichen Förderprogramme für Diversität und Gleichstellung ein, sondern sie hat im März auch die Auflösung des Institute of Museum and Library Service angeordnet und die Angestellten beurlaubt. Damit sind die öffentlichen Bibliotheken und Museen von einer ihrer größten Förderquellen abgeschnitten und haben enorme Schwierigkeiten, ihre Bildungsaufgaben zu erfüllen. Die ALA hat zwar bereits dagegen geklagt, aber die Taktik der anderen Seite beruht ja darauf, erst einmal zu schauen, wie weit man mit diesen Maßnahmen kommt, bevor die Justiz eingreift.“ Mittlerweile hat ein Gericht die Verfügung der Regierung blockiert, der Rechtsstreit geht in die nächste Runde.

Doch die Betroffenen – Eltern, Schülerinnen und Schüler und Literaturverbände – setzen sich zur Wehr: Proteste gegen Bücherverbote werden vor Ort organisiert, Buchhandlungen richten spezielle Tische mit Banned Books ein, es gibt eine nationale Banned Books Week. „Solche Aktionen kurbeln die Diskussion über Meinungs- und Kunstfreiheit an“, sagt Heike Schäfer. „Das ist wichtig, weil es bei den Bücherverboten ja nicht nur um die Grenzen der Redefreiheit geht, also wer was wo sagen darf und wer darüber zu bestimmen hat, sondern es werden Formen kultureller Teilhabe verhandelt. Letztendlich geht es um die Frage, wer zur Mehrheitsgesellschaft dazugehört und wer ausgegrenzt wird.“

Wie sieht Heike Schäfer den Einwand, dass im Rahmen einer linksliberalen Kulturpolitik durchaus auch eine Form der Zensur stattgefunden habe? Kann man diesen sogenannten Kulturkampf von rechts als Reaktion darauf sehen? „Das kann man sicherlich als eine Form des Backlashs verstehen. Aber der zielt leider nicht darauf, eine pluralistische Diskussionskultur sicherzustellen. Im Gegenteil, nun findet eine viel systematischere Ausgrenzung von gesellschaftlichen Positionen statt. Wir sehen einen systematischen Angriff auf die Rede- und Meinungsfreiheit, der früher stark benachteiligte Gruppen wieder an den Rand drängt und versucht, sie weitgehend aus dem kulturellen Gedächtnis zu löschen, um eine rechtskonservative Form des amerikanischen Nationalverständnisses durchzudrücken.“

Künstlerischer Widerstand

Ein ganz anderer Protest formiert sich nun aber dort, wo der freie Geist unter Beschuss geraten ist: in der Literatur, mit der Praxis der sogenannten Erasures. „Das sind literarische Texte, die durch das Auslöschen anderer Werke entstehen. Eine Autorin nimmt also einen Text und streicht Passagen daraus aus. Die Wörter, die stehen gelassen werden und die Tilgungszeichen bilden den neuen Text. Das reicht in die Konzeptkunst der 50er zurück. Als literarische Form boomen die Erasures aber erst seit Trumps erster Amtszeit. Da haben Schriftsteller sich im Netz über seine Reden und Erlasse ausgetauscht und diese dann redaktionell bearbeitet und zirkulieren lassen. Mittlerweile ist das im Mainstream angekommen. Beispiele sind der Gedichtband Wade in the Water der damaligen Poet Laureate of the US Tracy K. Smith und der Gewinner des National Book Awards for Fiction in 2023, Justin Torres’ queerer Roman Blackouts. Ich finde die Form hochspannend, weil die Texte ein Mittel der Zensur, also das Auslöschen von Textpassagen, nutzen, um Formen der literarischen Gegenrede zu schaffen. Natürlich sind nicht alle Erasures politisch motiviert. Die Technik kann für alle möglichen ästhetischen Zwecke eingesetzt werden. Aber viele Schriftsteller nutzen die Form derzeit, um Prozesse der Diskriminierung und der sozialen und kulturellen Ausgrenzung zu thematisieren. Es geht beispielsweise um Sklaverei, Verfolgung, Polizeigewalt und Folter. Die Lücken im Text stehen oft für die Sichtweisen und Stimmen, die im gesellschaftlichen Diskurs unterdrückt, unsichtbar gemacht oder zum Schweigen gebracht werden. Die Texte lenken den Blick auf das, was fehlt – auf der Buchseite oder im kollektiven Gedächtnis. Und sie machen dies vorstellbar und ästhetisch erfahrbar.“ Ein Beispiel ist das Gedicht „Declaration“ der afroamerikanischen Dichterin Tracy Smith, in dem sie ein zentrales Dokument der amerikanischen Geschichte, die Declaration of Independence, bearbeitet. Darin erklären die britischen Kolonialisten, welches Unrecht ihnen der englische König angetan habe und warum sie daher zu Recht eine Revolution gestartet haben. Die Neubearbeitung als Erasure zeigt den Rassismus dieser Revolutionäre auf und macht die von ihnen versklavten Menschen zu den Sprechern des Gedichts. „So wird sichtbar, dass Sklaverei und Rassismus eine Grundlage für die Entwicklung der amerikanischen Demokratie waren“, erklärt Heike Schäfer.

Heike Schäfer stellt sich als Literaturwissenschaftlerin, die auch Mitglied der Forschungsgruppe „Democratic Vistas“ ist, die Frage, wie die westlichen Gesellschaften wieder an den Punkt kommen, die Demokratie als gelebte Form der Kultur zu sehen: „Welche Praktiken brauchen wir, damit unser Miteinander im Alltag selbstbestimmt und repressionsfrei, gleichberechtigt, kooperativ und solidarisch ist oder zunehmend wird?“ Da rücken auch Praktiken des Dissenses in den Fokus von Lehre und Forschung. „Ich bin aber ursprünglich auf die Erasures aus ganz anderem Grund aufmerksam geworden. Ich beschäftige mich in meiner Forschung seit Jahren mit der Frage, wie die materielle Form und mediale Verfasstheit von Literatur die Ausdrucksmöglichkeiten der Autorinnen und Autoren mitbestimmen und wie sie unsere Lese- und Verständnisweisen prägen. Die Erasures sind da als Objekte sehr interessant.“

In diesem Semester behandelt Heike Schäfer das Thema Erasures auch in einem Seminar, in dem die Studierenden literarische Auslöschungen nicht nur analysieren, sondern auch selbst herstellen. In der ersten Stunde diente ein Benimmbuch aus dem 19. Jahrhundert als Vorlage, in dem Frauen massive Verhaltensregeln diktiert werden. „Das hat bei den Studierenden gleich eine große Lust aufs Streichen produziert“, lacht Heike Schäfer.

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