»Ich habe mich auf die Rückkehr in Forschung und Lehre gefreut«

Gabriele Britz, Richterin des Bundesverfassungsgerichts a.D., lehrt seit diesem Sommersemester öffentliches Recht an der Goethe-Universität.

Mit einem spannenden Vortrag im Casino-Festsaal hat Gabriele Britz das Grundgesetz zu dessen 75. Geburtstag gewürdigt. Die 55-jährige ehemalige Bundesverfassungsrichterin forscht und lehrt seit diesem Sommersemester an der Goethe-Universität.

UniReport: Frau Britz, Sie waren 33 Jahre jung, als Sie Professorin wurden, mit 42 Jahren wurden Sie ans Bundesverfassungsgericht berufen. Haben Sie es immer so eilig?

Gabriele Britz: Eile trifft es nicht ganz. Wenn mich etwas interessiert, gehe ich sicherlich zupackend zur Sache und bin dann schnell. Aber auf die Wahl zum Bundesverfassungsgericht hatte ich selbst ja überhaupt keinen Einfluss. Allenfalls dadurch, dass ich eben früh Professorin geworden war. Dass ich mit 42 schon jahrelang vor großen Hörsälen gestanden hatte, wissenschaftliches Standing hatte, drei Jahre Dekanin und Studiendekanin und auch sonst Mitglied verschiedener Gremien gewesen war, waren vermutlich Gründe dafür, dass mir das Amt jung zugetraut wurde.

Warum haben Sie Jura studiert?

Weil ich mich für ganz unterschiedliche Dinge interessiert habe und den Eindruck hatte, dass sich davon einiges im Jurastudium kombinieren lässt. Vieles, was ich interessant fand, galt damals als brotlos, zum Beispiel  Politikwissenschaft, Philosophie oder Geschichte. Mit Jura konnte ich dem nachgehen und hatte trotzdem das Gefühl, damit später meine Brötchen selbst verdienen zu können.

Wie schwer ist Ihnen nach zwölf Jahren der Abschied vom Bundesverfassungsgericht gefallen?

Nicht sehr schwer. Ich habe das Amt vom ersten bis zum letzten Tag gerne und intensiv ausgeübt. Aber man weiß ja von Anfang an, dass es nach zwölf Jahren endet. Wiederwahl geht nicht. Ich halte das für richtig, und darauf stellt man sich ein. Zudem ist die Tätigkeit wirklich fordernd, sodass es auch eine Erleichterung ist, wenn sie endet.

Sie sind dann nahtlos auf Ihre Professur in Gießen zurückgekehrt und hatten nicht das Gefühl eines Verlusts?

Es ist wirklich einzigartig, an diesem Gericht zu arbeiten. Das ist eine bedeutende Aufgabe. Außerdem war und bin ich Verfassungsrechtswissenschaftlerin und hatte über Verfassung schon viel nachgedacht, sodass es faszinierend war, für eine Zeit selbst aktiver Teil des Verfassungsgeschehens zu sein. Aber ich habe mich auch auf die Rückkehr in Forschung und Lehre gefreut.

Schafft man es, als Richterin auch zu lehren?

Im Minimalumfang. Man behält seine Professur, ist aber von der Lehre freigestellt. Ich habe im Wintersemester regelmäßig eine Verfassungsrechtsvorlesung gehalten, gemeinsam mit einer Verwaltungsrichterin und einem Verwaltungsrichter.

Am Bundesverfassungsgericht waren Sie an wichtigen Entscheidungen beteiligt. Was hatte die größte Tragweite, was bekam die größte Aufmerksamkeit – was ja nicht unbedingt in eins fallen muss?

Bei den Entscheidungen, für die ich Berichterstatterin war, stehen mir da aus den ersten sieben Jahren die zum Familien- und Personenstandsrecht und zum Eltern- und Erziehungsgeld noch sehr lebhaft vor Augen. Da war zum Beispiel das sehr umstrittene Betreuungsgeld dabei, das wir mangels Gesetzgebungskompetenz für verfassungswidrig gehalten haben. Viele andere Entscheidungen betrafen Kinderschutzverfahren. Diese Verfahren erregen die Gemüter oft sehr. Wir haben da von den Familiengerichten genauere Begründungen dafür verlangt, warum Kinder von ihren Eltern getrennt wurden – oder trotz Anhaltspunkten für Kindeswohlgefahren nicht getrennt wurden. In diese Zeit fielen auch die Entscheidungen zur Adoptionsmöglichkeit für Gleichgeschlechtliche, die auf viel Begeisterung, aber auch auf viel Ablehnung gestoßen sind. Genau wie die Entscheidung zum sogenannten dritten Geschlecht, zur „dritten Option“. 

Dass es beim standesamtlichen Eintrag neben »männlich« und »weiblich« noch eine dritte Möglichkeit gibt.

Ja, genau. Dann haben meine Zuständigkeiten gewechselt und ich wurde auch Berichterstatterin fürs Umweltrecht. Aus dieser Zeit hat sicher der Klimabeschluss die größte Aufmerksamkeit bekommen, aber es gab auch andere wichtige Entscheidungen, zu Windenergienutzung und zum Rechtsschutz im Umweltrecht. Dann habe ich noch die Zuständigkeit für Teile des Datenschutzrechts übernommen. Da waren zum Beispiel die Urteile zum Bayerischen Verfassungsschutz und zur automatisierten Datenanalyse in Hessen dabei.

Ist man für die Themen zuständig, für die man eine Expertise schon mitbringt?

Nein. Ich habe einfach die Zuständigkeit meiner Vorgängerin übernommen. Deshalb war ich in den ersten Jahren fürs Familienrecht zuständig, obwohl ich nie zuvor mit Familienrecht zu tun gehabt hatte.

Frauen sind ja immer für Familienthemen zuständig.

Ja, es gab am Bundesverfassungsgericht jahrzehntelang überhaupt nur fürs Familienrecht eine Richterin, alle anderen Mitglieder des Gerichts waren Männer. Derzeit ist das Familienrecht aber in männlicher Hand.

Schön. Das bildet ja aber auch nur ab, wie sich die Gesellschaft inzwischen verändert hat. Beschäftigten Sie manche Dinge auch über den Tag hinaus?

Ja, auf ganz unterschiedliche Weise. Die vielen Kinderschutzverfahren haben mich sehr beschäftigt, weil das individuelle menschliche Leid so greifbar war. Da sind nicht nur die Kinder die Leidtragenden, das ist für alle Beteiligten schlimm. Andere Entscheidungen haben mich wegen ihrer gesamtgesellschaftlichen Tragweite stark beschäftigt, Fragen zum Verfassungsschutz etwa oder zu den Befugnissen der Polizeibehörden. Solche Entscheidungen müssen dem Schutz der Freiheit vor staatlicher Überwachung auf der einen Seite und dem Schutz etwa vor terroristischen Anschlägen auf der anderen Seite gerecht werden. An der Verantwortung für solche Entscheidungen trägt man schon schwer.

Lehrt man anders, wenn man Richterin am Bundesverfassungsgericht war?

Vermutlich schon. Meine Verfassungsrechtsvorlesung hat sich sicherlich etwas verändert. Wenn man so viele Jahre erlebt hat und daran mitgewirkt hat, wie Verfassungsrecht in der Gerichtspraxis funktioniert und wie sich das Grundgesetz dort konkret weiterentwickelt, bekommt man noch einmal einen anderen Blick auf die Verfassung. Ich bemühe mich, davon etwas weiterzugeben.

Muss das Bundesverfassungsgericht besser vor Eingriffen geschützt werden?

Nach meiner Einschätzung wären gewisse kleine Änderungen sehr sinnvoll. Das betrifft zum einen die Wahl der 16 Richterinnen und Richter. Diese Wahl erfolgt mit Zweidrittelmehrheit, so steht es im Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Das Zweidrittelerfordernis sorgt dafür, dass das Bundesverfassungsgericht seit Jahrzehnten ausgewogen und nicht einseitig nach den Regierungsfarben besetzt wird und dass die Personen, die da hineingewählt sind, breit vermittelbar sind.

Und das funktioniert nicht mehr?

Doch. Aber es ist nicht auszuschließen, dass es bei der Wahl von Richterinnen und Richtern zu einer dauerhaften Blockade kommt. Wenn bestimmte Parteien oder Fraktionen, die insgesamt mehr als ein Drittel ausmachen, nicht an der Verteilung der Vorschlagsrechte für Richterpositionen beteiligt werden, könnten sie sich revanchieren, indem sie mit ihrer Sperrminorität die Richterwahl blockieren. Der Gesetzgeber gerät dann in Versuchung, die Blockade zu lösen, indem er das Zweidrittelerfordernis abschafft. Weil das nicht im Grundgesetz steht, könnte er es mit einfacher Mehrheit abschaffen.

Aber das wäre keine gute Lösung?

Nein! Das Zweidrittelerfordernis ist wirklich essenziell dafür, dass das Bundesverfassungsgericht personell nicht von Regierungen vereinnahmt werden kann, dass es objektiv besonders unabhängig ist und dass es auch entsprechend wahrgenommen und geschätzt wird.

Wie könnte man das besser regeln?

Eine Lösung kann nur über das Grundgesetz erfolgen. Man müsste das Zweidrittelerfordernis für die Richterwahl dort festschreiben und eine Regelung aufnehmen, wie eine Blockade zu lösen ist, ohne das Zweidrittelerfordernis aufzugeben. Da die Richterinnen und Richter nach dem Grundgesetz zur Hälfte vom Bundestag und zur Hälfte vom Bundesrat gewählt werden, wäre insofern eine besonders einfache Lösung, bei dauerhafter Blockade in einem Organ, das andere Organ mit Zweidrittelmehrheit wählen zu lassen. Aber es gibt noch eine ganze Reihe anderer Möglichkeiten.

Gibt es weitere Probleme?

Ja. Eine einfache Mehrheit im Bundestag könnte das Bundesverfassungsgericht ziemlich leicht schwächen und sich damit von den Fesseln der Verfassung zu befreien. Das Verfahren und die Organisation des Bundesverfassungsgerichts sind insgesamt nicht im Grundgesetz selbst geregelt und abgesichert, sondern im einfachen Gesetz, das man leichter ändern kann. Eine akute Gefahr, dass der Gesetzgeber das Bundesverfassungsgericht durch dysfunktionale Verfahrensregeln lahmlegen wollte, sehe ich zwar nicht. Aber in Polen und zum Beispiel auch in Ungarn hat sich gezeigt, dass das sehr schnell gehen kann und nur schwer zurückzudrehen ist. Da sollte man jetzt mit breiter verfassungsändernder Mehrheit eine verfassungsrechtliche Sicherung einbauen, damit das hier nicht passieren kann.

Wie könnte man diese Gefahr bannen?

Eigentlich wäre das einfach möglich. Ein simpler, aber wirksamer Weg wäre, Änderungen der Verfahrensregeln für das Bundesverfassungsgericht von der Zustimmung des Bundesrats abhängig zu machen. So könnte es kaum zu Regeln kommen, die das Bundesverfassungsgericht ausschalten sollen. Das ist ja ein Vorteil unseres Föderalismus: Dass Bundestag und Bundesrat gleichzeitig kippen, ist nicht sehr wahrscheinlich. Bislang ist der Bundestag aber alleine für das Bundesverfassungsgerichtsgesetz zuständig.

Was macht die Goethe-Universität heute für Sie attraktiv?

Der Fachbereich Rechtswissenschaft ist ein großer Fachbereich mit breitem und interessantem Lehrangebot und Forschungsprofil und guten Verbindungen zu anderen Fachbereichen und Zentren. Dabei sagt mir auch die nach wie vor starke Grundlagenorientierung der Frankfurter Rechtswissenschaft zu. Der Westend-Campus ist besonders schön, und es ist ein Vorteil, dass die Gesellschafts- und Geisteswissenschaften hier alle auf einem Campus versammelt sind. Außerdem gefällt mir die Internationalität Frankfurts, die auch auf dem Campus sehr präsent ist.

Fragen: Anke Sauter

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