Birgit Emich: In meiner Kollegforschungsgruppe „Polyzentrik und Pluralität vormoderner Christentümer“, die ein Baustein des Clusters ist, beschäftigen wir uns schon länger mit Pluralität, was wiederum sehr viel mit Verstehen und Missverstehen zu tun hat. Wir befassen uns zum Beispiel mit konfessionellen Konflikten bis hin zu den Konfessionskriegen seit der Reformation. Und da lässt sich feststellen, dass die Forschung immer unsicherer wird in Bezug auf die Frage, wieviel die Leute voneinander gewusst und von den konfessionellen Frontlinien wirklich verstanden haben. Zum Beispiel wurden in der Mitte des 16. Jahrhunderts Hebammen im Elsass befragt, was sie bei der Nottaufe, die sie oft vornehmen mussten, unter der heiligen Dreieinigkeit verstanden. Eine Antwort lautete: ‚Kaspar, Melchior, Baltasar.‘ Daran sieht man, dass der Kenntnisstand der einfachen Leute sehr gering war. Vor diesem Hintergrund stellt sich umso mehr die Frage, warum die konfessionellen Unterschiede dann eine so große Rolle gespielt haben.
Man kann aber ergänzen: Wenn es schon innerhalb des Christentums solche Probleme gibt, dann kann man davon ausgehen, dass es zwischen den Religionen noch einmal ganz andere sind. Warum war die sogenannte Türkenangst im 16. Jahrhundert so riesig? Woher kam die Angst vor dem Islam, wenn man keine präzisen Vorstellungen davon hatte, wer man selbst ist? Hätte mehr Kenntnis geholfen, eine Verständigung herbeizuführen? Und umgekehrt: Sind Missverständnisse immer konfliktgeladen, führen sie immer zu Gewalt? Offenbar nicht.
Christian Wiese: Wir haben uns diesen Fragen interreligiösen Verstehens und Missverstehens u.a. auch von unserem LOEWE-Projekt „Religiöse Positionierung“ aus genähert: Dort ging es um die wechselseitige Wahrnehmung von Religionen, um die Begegnung, die Auseinandersetzung oder den Dialog mit anderen Geltungs- und Wahrheitsansprüchen auf der Grundlage der jeweils eigenen Position. In diesem Zusammenhang sind wir auch auf Phänomene kreativen „Missverstehens“ gestoßen, etwa auf die Tatsache, dass jüdische Gelehrte in der Moderne protestantische Deutungen der biblischen Prophetie übernahmen, sie jedoch im Zuge dieser Aneignung im Sinne ihres eigenen Selbstverständnisses umdeuteten und nutzten, um die Fortexistenz und Überlegenheit des Judentums zu begründen.
Wiese: Das hängt davon ab, wer in der Minderheit oder Mehrheit ist. Das europäische Judentum im 19. Jahrhundert argumentierte eigentlich immer mit Blick auf die eigene Existenz als diskriminierte Minderheit in der christlichen Mehrheitsgesellschaft. Aber gleichzeitig fanden andere Prozesse statt: Jüdische Intellektuelle suchten auch nach Vorbildern und Modellen, um das Judentum selbst zu modernisieren, und fanden dann in protestantischen Formen etwas, das kulturell erstrebenswert schien. Da ging es auch darum, die eigene Identität zu verändern und zu stärken.
Wiese: Bernhard Jussen, Ömer Oszoy, Rebekka Voss und einige weitere Kolleginnen und Kollegen bearbeiten dieses Thema in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kontexten. Da wird gefragt: Was passiert, wenn man die Heilige Schrift in eine andere Sprache übersetzt, wenn christliche Autoren koranische Texte ins Lateinische übersetzen, wenn Begriffe und Konzepte in die eigene Vorstellungswelt übertragen werden? Welche Formen der Umdeutung oder Aneignung finden dann statt?
Emich: Wobei wir übersetzen auch im weiteren Wortsinn verstehen. Man kann die gleiche religiöse Praxis in Bildern ausdrücken, in Texten beschreiben und sie performativ vollziehen. Diese Form der Übersetzung, also etwa die Verschriftlichung eines religiösen Brauchs oder die bildhafte Darstellung einer liturgischen Vorschrift, sind auch Übersetzungsvorgänge, die uns interessieren. Man könnte sie Medienwechsel nennen.
Emich: Das „Glossar“ trägt dem Umstand Rechnung, dass bestimmte Phänomene sowohl in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen als auch von den historischen Akteurinnen und Akteuren unterschiedlich benannt werden. Und dass man sich erst einmal klarwerden muss, wer eigentlich was meint. Mit Gott, Wahrheit, Religion meinen eben nicht immer alle das gleiche.
Emich: Es war unsere ursprüngliche Idee, eine gemeinsame Forschungssprache zu schaffen. Damit würden wir aber der Vielfalt unserer empirischen Bestände nicht gerecht. Unser Ziel muss es sein, mit dem Glossar ein Instrumentarium zu entwickeln, um diese Vielfalt zu verarbeiten. Ich würde daher eher von einem Thesauraus, eine Art historisch- vergleichendem Wörterbuch, als von einem Glossar sprechen. Dieser Schritt scheint uns schon anspruchsvoll genug zu sein.
Emich: Ja, das geht schon los bei so etwas Fundamentalem wie dem Gottesbegriff. Wie benennt man Gott? Das ist im interreligiösen Kontakt natürlich ein ganz großes Problem. Und wenn wir auf die Missionsgeschichte blicken, sehen wir, dass christliche Missionare Gott verschieden benennen – je nachdem, in welchem kulturellen Raum sie wirken. Die in China im 16. und 17. Jahrhundert tätigen Jesuiten finden andere Formulierungen als diejenigen, die im amerikanischen Raum unterwegs sind.
Wiese: Interessant ist auch, dass diese Prozesse wiederum Rückwirkungen auf die eigene Sprache haben. Unsere Kollegin Catherina Wenzel ist im Rahmen ihrer Forschung zur persischen Stadt Isfahan im 18. Jahrhundert auf einen italienischen Missionar gestoßen, der sich im Kontext des schiitischen Islam bewegt. Sein eigenes Selbstverständnis bleibt von der Begegnung mit dem Islam und anderen religiösen Gruppen nicht unbeeinflusst, und das spiegelt sich auch in seinen Berichten nach Rom wider.
Emich: An den Kontaktgrenzen gibt es eine große Durchlässigkeit. Viele Missionare sagen: Wenn wir auch nicht dasselbe glauben, können wir doch alle am selben Abendmahl teilnehmen. Das ist etwas, das uns interessiert: Fördert die alltägliche Pragmatik im Umgang miteinander vielleicht nicht das gelehrte religiöse Verstehen, aber doch die Bereitschaft, miteinander umzugehen?
Emich: Ja, aber nicht nur. Nehmen Sie zum Beispiel das Marktgeschehen im Kaukasus. In einem ethnologischen Projekt fragen Susanne Fehlings und Roland Hardenberg, wie Menschen verschiedener Religionen miteinander Handel treiben können. Die Antwort ist: indem sie ihre Religionen gar nicht ansprechen. Menschen haben sich zu allen Zeiten und in allen Religionen auch immer Freiräume gelassen, in denen sie Dinge nicht thematisieren. Das gehört auch zu dem Bereich des Sagbaren und Unsagbaren. Wir fragen uns dann, welche Konsequenzen hat das? Wir gehen davon aus, dass, wenn man lange genug handelt mit jemandem, von dem es heißt, dass er eigentlich der Verdammung anheimfallen muss, man diese Aussage eines Tages anders bewerten wird.
Wiese: Verflechtung und Verflochtenheit, das sind zentrale Begriffe für uns. Die drei Religionen waren eben nie kontaktlos nebeneinander, sondern hatten in ihrem Denken und Zusammenleben seit dem frühen Mittelalter ständig miteinander zu tun. Judentum und Islam waren vielfältig miteinander verflochten, zum Beispiel in ihren mystischen Traditionen – der Kabbala und dem Sufismus. Sie stellten sich dieselbe Frage: Wie macht man das eigentlich, Kontakt zum Göttlichen herstellen – durch Versenkung in Texte, durch Tanz, Ekstase, durch Bewegung im Gebet? Hier gab es zahlreiche Berührungspunkte.
Emich: Sehen wir uns noch einmal das Beispiel der kaukasischen Märkte an: Der Umstand, dass man sich überhaupt nicht versteht, weil man nicht weiß, was der andere denkt, führt nicht zwingend zu Konflikten. Man muss also davon wegkommen zu denken, wir müssen nur möglichst viel voneinander wissen, dann werden wir uns schon verstehen.
Wiese: In der Gegenwart gibt es in Bezug auf den interreligiösen Dialog den Versuch, Konflikte bewusst auszusparen. Das Projekt „Weltethos“ beruht zum Teil auf diesem Konzept. Da einigen sich Religionen auf die Vorstellungen und ethischen Werte, die alle teilen. Und das, was sie trennt, blenden sie bewusst aus. Weil die Differenz unüberwindlich ist.