Der Profilbereich Orders & Transformations analysiert zentrale gesellschaftliche Dynamiken und Umbrüche – wie sie etwa ausgelöst werden durch den Klimawandel und Pandemien, durch Finanzkrisen, Digitalisierung, durch Migration, wachsende Ungleichheit und das Aufleben des Populismus. Die Umbrüche entstehen, wenn bestehende Strukturen und Ordnungen dem gesellschaftlichen und politischen Wandel nicht mehr gerecht werden. Wie reagiert die nationale und internationale Finanzmarktarchitektur auf die Herausforderungen unserer Zeit? Welche neuen Ordnungen der Digitalität entstehen, die soziale Prozesse tiefgreifend verändern? Wie sind in Zukunft Demokratie, Gerechtigkeit, sozialer Zusammenhalt und internationale Kooperation denkbar?

Diesen Fragen gehen, normativ und empirisch forschend, zwei übergreifende Forschungsschwerpunkte nach: Normative Ordnungen sowie Finanzmarktforschung.

Rainer Forst und Nicole Deitelhoff

»Im Konflikt steckt ganz viel Potenzial«

Welche Rolle spielt Vertrauen im Konflikt? Im Clusterprojekt »ConTrust« geht es darum, das Wechselspiel von Vertrauen und Misstrauen in Krisensituationen zu erforschen. Ein Gespräch über Etappenziele und das Schlachten heiliger Kühe.

Wenn Ihr Forschungsthema »Misstrauen im Konflikt« heißen würde, würde jeder sagen: »Passt!« Es heißt aber »Vertrauen im Konflikt«. Warum?

Nicole Deitelhoff: Die meisten Menschen denken bei Konflikten an Misstrauen. Wir versuchen darauf hinzuweisen, dass auch im Konflikt Vertrauen bewahrt und sogar neues erzeugt werden kann. Gerade in einer Zeit, wo wir es mit ganz vielen Konfliktlagen zu tun haben, müssen wir in der Lage sein, in Konflikten noch Vertrauen zu erzeugen.

Rainer Forst: Es ist auch nicht so, dass wir behaupten wollen, Vertrauen entstehe nur in Konflikten. Wir gehen aber davon aus, dass es falsch ist anzunehmen, dass Vertrauen nur in Sozialformen entsteht, in denen man einander gut kennt und die Beteiligten eine weitgehend identische Herkunft haben. Diese Annahme ist zum Beispiel in den Sozialwissenschaften und der Philosophie verbreitet. Wenn man aber so denkt, kann man nicht erklären, wieso in modernen Gesellschaften Vertrauen nicht komplett abwesend ist.

Kommt Vertrauen also in der Konfliktforschung zu kurz?

Deitelhoff: Tatsächlich geht es in der Konfliktforschung eher um die Abwesenheit von Vertrauen. Die Frage ist dann immer, wie man die Konflikte beenden kann, um danach wieder Vertrauen herzustellen. In einer Zeit, die von unzähligen Konflikten und Krisen getrieben ist, ist das aber zu wenig.

Durch den Ukraine-Krieg erleben wir in Europa einen Konflikt, in dem Vertrauen den Nullpunkt erreicht zu haben scheint. Bringt Sie das noch einmal ins Nachdenken?

Deitelhoff: Es bestätigt uns natürlich in bestimmten Annahmen. Dass es etwa lange braucht, um Vertrauen aufzubauen und dass es schnell zerstört wird, etwa durch ein bewusstes Hintergehen. Aber es regt uns zugleich auch an, zu verstehen: Warum konnten es Institutionen nicht schaffen, den Konflikt so zu kanalisieren, dass Vertrauen stabilisiert wird? Es ist auch ein Ansporn für uns, darüber nachzudenken, wie es nach diesem Krieg weitergehen kann. Wie wir uns die beteiligten Institutionen vorstellen können, damit sie zukünftig vertrauenssichernd agieren können.

Forst: Unsere These ist natürlich nicht: Jeder Konflikt generiert Vertrauen. Wir interessieren uns für die Bedingungen, unter denen Konflikte produktiv verlaufen können, also kommunikativ trotz harter Auseinandersetzungen. Bei dem Ukraine-Konflikt fragen wir uns: Wenn Vertrauen ein für alle Mal zerstört wäre, welche Mediation könnte jemals aus der Situation herausführen? Vermittlungsmöglichkeiten setzen voraus, dass noch irgendwo Vertrauenspotenziale schlummern.

Deitelhoff: Die für uns spannende Frage ist, wie Ordnungen gebaut werden können, damit es gar nicht erst zu solchen Abbrüchen kommt. Wir sehen jetzt, dass im Konflikt die Beziehungen entflochten werden, gleichzeitig brauchen wir aber eine Verflechtung. Nur über Verflechtung können wir verstehen, warum die andere Seite etwas tut. Diese basale Empathie hilft uns nämlich, den anderen auch zu lesen, wenn man so will. Auf diesem Lesen basiert dann etwas wie Verlässlichkeit und das kann man dann institutionalisieren. Allerdings darf die Verflechtung auch nicht zu asymmetrisch werden.

Ihr Forschungsprojekt hat den Untertitel: Politisches Zusammenleben unter Bedingungen der Ungewissheit. Welche Rolle spielt die Ungewissheit?

Forst: Wir forschen nicht ausschließlich zu internationalen Konflikten. Wir haben fünf Forschungsfelder, in einem davon geht es direkt um Gewaltfragen. Die anderen beschäftigen sich mit demokratischen und zivilgesellschaftlichen Formen von Vertrauensbildung im Konflikt, mit ökonomischen Konflikten, mit Vertrauen in Wissenschaft und Medien. Da, wo es um epistemisches Vertrauen geht, kommen Ungewissheiten ins Spiel. Welchen Informationen kann man vertrauen? Welchen Medien? Die Frage nach Ungewissheit ist aber bei uns auch grundsätzlich wichtig, weil Vertrauen nur da gebraucht wird, wo man nicht kontrollieren kann, was die anderen machen. Aber derzeit kommt etwas Neues hinzu – wie die Pandemie, die Klimakrise oder auch der Krieg zeigen, leben wir in Zeiten solch gravierender Ungewissheiten, dass daraus ein fundamentales Misstrauen resultiert, welches oft in die Suche nach einfachen Vertrauenswahrheiten umschlägt. Diese irrationalen Vertrauensdynamiken interessieren uns.

Sie wollen bei Ihrer Forschung auch normatives Denken und empirische Methoden neu kombinieren. Wie genau?

Forst: Wir versuchen, Interdisziplinarität neu zu denken. Die Disziplinen sollen sich herausfordern. Gelegentlich denkt man, dass Vertrauen in der Ökonomie und Vertrauen in der Moralphilosophie nicht so viel miteinander zu tun haben. Wir gehen aber davon aus, dass sie letztlich über etwas Gemeinsames sprechen. Also versuchen wir, eine Methode zu entwickeln, um das produktiv zu wenden. Und wir sehen uns auch an, wie etwa die Ökonomie und Sozialpsychologie analytisch vorgehen, wenn sie Experimente modellieren.

Deitelhoff: Wir versuchen auch, diese sehr unterschiedlichen Erhebungen mit verschiedenen Auswertungsverfahren nicht nur ins Gespräch miteinander zu bringen, sondern fruchtbar zu kombinieren. Von experimenteller Spieltheorie bis hin zu einer ethnographischen Feldforschung. Mal gehen wir von der Ethnographie aus und übertragen deren Erkenntnisse auf andere Methoden, mal gehen wir von der Spieltheorie aus. Dafür haben wir eine Taskforce entwickelt, die versucht, diese Kombinationen zu präzisieren.

Was sind schwierige Themen, wo sehen Sie Hürden?

Deitelhoff: Da gibt es ganz viele Hürden! Es fängt ja schon an mit der Sprache, die wir sprechen. Wenn wir erklären wollen, wie es zu Vertrauen im Konflikt kommt. Da würden schon bestimmte Projektmitglieder sagen: Es geht nicht um erklären, es geht um verstehen. Das Miteinander ins Gespräch zu bringen und uns gegenseitig aus unserer Komfortzone herauszuholen, ist ganz wichtig.

Forst: Der Hinweis auf Erklären und Verstehen ist ganz wichtig. Denn wir schauen uns ja in den interdisziplinären Projekten nicht nur an, was Menschen machen, sondern wir interessieren uns dafür, was sie glauben, was sie machen. Und dann trauen wir uns auch noch Urteile darüber zu, was wir glauben, was sie machen – oder ob das eine gute Sache ist.

Haben Sie sich ein Etappenziel gesetzt?

Deitelhoff: Ja, es ist für uns ganz entscheidend, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Das ist dann gewissermaßen eine Kunstsprache, in der sich keiner ganz zu Hause fühlen wird. Damit haben wir selbst bereits die Chance, einen Konflikt zu erleben, zu analysieren und zu lösen. Das nächste Etappenziel ist dann, auf Basis einer solchen Sprache gemeinsame Verständnisse zu erzielen. In welchen Konfliktsituationen erlernen wir welches Vertrauen? Wo lässt sich das beobachten? Das Dritte ist: Wir wollen verstehen, wie bestimmte Konfliktsituationen sich auf die Bereitschaft der Konfliktteilnehmer auswirken, sich aufeinander zuzubewegen. Aus der Binnenperspektive sehen diese Schritte wie ein riesiges Wagnis aus.

Forst: Alle Schritte fließen aber in der Frage zusammen: Wie können Konflikte im staatlichen und im überstaatlichen Raum so vermittelt werden, dass diese Konflikte rationales Vertrauen generieren? Es geht ja um begründetes Vertrauen. Denn wir sehen: Demagogie und Ideologie führen auch zu Vertrauen.

An Ihrem Projekt sind keine naturwissenschaftlichen Disziplinen beteiligt. Ist Interdisziplinarität einfacher, wenn Geistes- und Sozialwissenschaften unter sich sind? Oder täuscht die Nähe Verständnis nur vor?

Deitelhoff: Ich würde Letzteres unterschreiben. Oft denken wir, dass wir über dasselbe sprechen. Dann merken wir im Verlauf einer Kontroverse, dass wir das nicht tun. Da wird dann auch erbittert gefochten. Bei den Naturwissenschaften scheint es doch sehr klare Linien zu geben, durch die die Sprachen getrennt sind.

Forst: Was die Naturwissenschaften betrifft: Wir müssen natürlich über gegebene Tellerränder hinausschauen, zugleich aber das Projekt, das sehr viele Disziplinen enthält, überschaubar halten. Wichtig ist also, die Anschlussstellen für andere Forschung wie etwa die Hirnforschung benennen und offenhalten zu können. Im Übrigen haben wir auch Forscherinnen und Forscher dabei, die über die Wirkung von Hormonen auf den Vertrauenshaushalt von Menschen forschen.

Gibt es eine Erkenntnis, die Sie sehr geprägt hat und die Sie in das Projekt miteinbringen?

Deitelhoff: Für mich kann ich sagen: Es ist die Erfahrung der Arbeit im Exzellenzcluster »Normative Orders«. Diese Erfahrung war für mich ganz, ganz prägend, um zu erkennen, dass sich der Aufwand lohnt. Bis dahin war ich eine reine Politologin und habe schön in meinem eigenen Haus »Housekeeping« gemacht. Dann habe ich gelernt, dass es andere Häuser und ganze Landschaften zu durchreisen gilt. Seitdem sieht mein Haus viel hübscher aus. Das ist ein unermesslicher Schatz, den ich nicht mehr hergeben möchte.

Forst: Ich kann mich nur anschließen, weil wir auf eine sehr produktive Zeit in dem früheren Exzellenzcluster zurückblicken; sehr viele, die wir damals berufen haben, sind heute federführend dabei. Wir sehen auch jetzt, dass die Goethe-Universität immer noch der Ort ist, der kluge Köpfe für solche Projekte anzieht, auf unterschiedlichen Karrierestufen.

Was liegt Ihnen ganz persönlich an Ihrem Forschungsthema?

Deitelhoff: Bei mir wäre es wahrscheinlich, dass ich den Konflikt gerne retten möchte. Tatsächlich stört es mich sehr, dass Konflikt immer wieder als etwas Gefährliches und Negatives angesehen wird. Dabei habe ich den Eindruck, dass im Konflikt ganz viel Potenzial steckt. Da entsteht auch Innovation. Deshalb möchte ich gern im öffentlichen Bewusstsein stärker verankern: Man muss keine Angst vor Konflikt haben, sondern man muss lernen, ihn richtig zu führen.

Forst: Mich interessiert besonders, ein paar heilige Kühe in einigen Fachdisziplinen infrage zu stellen. Zum Beispiel die Prämisse, dass Vertrauen ein Wert ist. Wenn man darüber nachdenkt, sieht man, dass Vertrauen überhaupt nichts Wertvolles ist, wenn es schlecht begründet ist wie etwa autoritäres Vertrauen. Dann wird auch gerne gesagt, Vertrauen ist eine Erwartung auf moralisch motiviertes Handeln anderer. Das ist aber bei Vertrauen am Markt oder in politischen Zusammenhängen gar nicht der Fall. Diese Fragen zu stellen, macht Spaß.

Die Politologin Prof. Dr. Nicole Deitelhoff und der politische Philosoph Prof. Dr. Rainer Forst sind das Sprecherteam des Clusterprojekts ConTrust.

ConTrust. Vertrauen im Konflikt. Politisches Zusammenleben unter Bedingungen der Ungewissheit

Goethe-Universität Frankfurt und Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK)

Beteiligte Institutionen – Partner:

Forschungskolleg Humanwissenschaften (Bad Homburg), MPI-LHLT, MPIL (Heidelberg), MPI-MMG (Göttingen), TU Darmstadt, Hessisches Kompetenzzentrum für verantwortungsbewusste Digitalisierung (Darmstadt), Universität Mannheim

Der Eintritt in die Schule, der erste Job, der Beginn der Rente – das Graduiertenkolleg »Doing Transitions« untersucht, wie Übergänge im Leben zustande kommen und wie sie gestaltet werden. Dafür wurde das Kolleg 2021 zum zweiten Mal bewilligt.

Menschen bewegen sich im Laufe ihres Lebens zwischen verschiedenen Lebensphasen – dazu gehören nicht nur etablierte und deutlich markierte Übergänge wie der von der Schulbildung zur Ausbildung oder der Eintritt ins Arbeitsleben. »Immer mehr soziale Veränderungsprozesse werden als individuelle Übergänge wahrgenommen«, erklärt der Erziehungswissenschaftler Prof. Andreas Walther, der das Graduiertenkolleg »Doing Transitions« gemeinsam mit seiner Tübinger Kollegin, Prof. Barbara Stauber, an den Standorten Frankfurt und Tübingen leitet. Weniger offensichtliche oder selbstverständliche Übergänge rückten ins Zentrum der Aufmerksamkeit – wie etwa Laufenlernen im Kindesalter, Elternwerden, Sich-Weg-Orientieren vom zugewiesenen Geschlecht, Alleinleben nach der Familienphase im höheren Alter, Integration als Migrant*in und Inszenieren des eigenen Erwachsenwerdens im Internet. In der Vergangenheit interessierte sich die Forschung insbesondere für die Bedingungen, unter denen Übergänge erfolgreich verlaufen bzw. unter denen sie »scheitern«. »Übergänge erschienen wie Hürden, die bewältigt werden müssen, die umfallen oder stehen bleiben«, so Walther. Aus diesem Grund gerieten Übergänge – etwa der Wechsel von der Schule in den Arbeitsmarkt – häufig als Probleme in den Blick: Sie galten als unsicher und ungewiss, als Auslöser für soziale Ungleichheit und als Risiken, sozial ausgeschlossen zu werden. Und noch etwas verband diese herkömmlichen Forschungsansätze: dass die Übergänge als »naturgegeben« erschienen.

Das Graduiertenkolleg »Doing Transitions« markiert seit seinem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Start 2017 einen Neuansatz: Im Zentrum des Kollegs steht die Frage, worauf die unterschiedlichen Übergänge eigentlich antworten, wie sie zustande kommen, wie und unter welchen sozialen Bedingungen sie gestaltet werden – und vor allem auch wie Übergänge dabei immer wieder neu definiert werden. Erforscht werden die Übergänge aus dem Blickwinkel von Erziehungswissenschaft, Psychologie und Soziologie. Dabei wird der »Übergang« in der Mikroperspektive, im genauen Blick auf die Bewegung zwischen Lebensphasen, selbst hinterfragt. »Was Übergänge genau sind, erscheint uns immer komplexer«, sagt Walther. »Was wir sagen können: Es handelt sich um Bewegungen zwischen Positionen in einem sozialen Raum.«

Dass dieser soziale Raum auch durch geschichtliche, zeitliche Perspektiven geprägt ist, soll in der zweiten Förderphase des Graduiertenkollegs bis 2025 stärker beleuchtet werden. Und es kommen noch weitere Dimensionen hinzu: Was geschieht, wenn mehrere Personen gleichzeitig verschiedene Übergänge erleben, wenn etwa der Jobwechsel eines Elternteils den Umzug der Familie und den Schulwechsel der Kinder nach sich zieht? Welche zeitlichen Dimensionen sind in Übergängen enthalten, etwa der institutionell und subjektiv »richtige« Zeitpunkt für einen Übergang? Gibt es ein »zu früh« oder »zu spät« etwa für Ausbildung oder Elternschaft?

Die Doktorand*innen des Graduiertenkollegs fügen dem »5000-Teile-Puzzle der Übergangsforschung«, so Walther, durch ihre quantitativen und vor allem qualitativen Mikroanalysen zahlreiche, erhellende Puzzleteile hinzu. Das Bild der Übergangsforschung differenziert sich. Die Soziologin Luisa Bischoff erforscht quantitativ und qualitativ Übergänge in die Partner*innenlosigkeit, also Scheidung, Trennung und Verwitwung im höheren Lebensalter. Jana Heer beobachtet als Erziehungswissenschaftlerin in der Tradition ethnografischer Feldforschung, wie junge Menschen Übergänge des Erwachsenwerdens in kollektiven Onlinepraktiken thematisieren, vor allem im Spannungsverhältnis zu normativen Erwartungen. Und Louka Maju Goetzke erforscht in einem soziologischen Projekt, mit welchen Alltagspraktiken geschlechtliche Übergänge – Gendertransitionen – zustande kommen, wie etwa durch Ausprobieren von Kleidung oder Vornamen und Beobachtung der eigenen Gefühle. In allen Arbeiten werden aus verschiedenen Fachdisziplinen die Diskurse untersucht, mit denen die Teilnehmer*innen Prozesse beschreiben, ob es institutionelle Mechanismen oder soziokulturelle Rituale gibt und nicht zuletzt auch, wie Prozesse des Lernens und der Bildung individuell erlebt werden.

Alle Teilnehmer*innen des Graduiertenkollegs, das wird im Gespräch mehr als deutlich, schätzen den kollektiven, intensiven, interdisziplinären Forschungsprozess. »Selbst im Lockdown haben wir uns quer zu unseren Standorten beispielsweise in Doc-AGs digital ausgetauscht«, erzählen die Doktorand*innen. In jeder Kohorte werden elf oder zwölf Promovierende sowie ein oder zwei Postdocs finanziert und können sich vollständig der Promotion bzw. Habilitation widmen. Außerdem sind jeweils fünf oder sechs Promovierende assoziiert. In vier Workshops im Jahr wird der erarbeitete Forschungsstand zudem intensiv interdisziplinär diskutiert. »Das ist ein sehr lebendiger, kollektiver Forschungsprozess«, bestätigt Walther, »sowohl für die theoretische Entwicklung der Übergangsforschung als auch für uns alle«. Alle – das sind nicht nur die bald 30 Promovend*innen, deren dritte Kohorte 2023 beginnen wird und in deren Finanzierung vor allem die Fördersumme von insgesamt 9 Millionen Euro fließen wird. Alle – das sind auch die betreuenden Professor*innen, die durch die Vielzahl der Kollegarbeiten neue Impulse für ihre Forschung erhalten – in Frankfurt neben Andreas Walther aus der Erziehungswissenschaft die Kindheit- und Jugendforscherin Prof. Sabine Andresen, die Allgemeinpädagogin Prof. Barbara Friebertshäuser, die Professorin für Erwachsenenbildung Christiane Hof und Prof. Frank Oswald, der Interdisziplinäre Alternswissenschaft betreibt, außerdem aus der Soziologie die Bildungssoziologin Prof. Birgit Becker, die Geschlechterforscherin Prof. Sarah Speck und die Alternsforscherin Prof. Anna Wanka.

Im Leben bewegen

Andreas Walther

Doing Transitions

Welches Problem wollen Sie mit Ihrem Projekt gern besser verstehen?

Wir wollen gerne verstehen, wie Übergänge im Lebenslauf zustande kommen, wer und was daran beteiligt ist und wie sich die Hervorbringung von Übergängen dadurch auch ständig verändert.

Was ist Ihnen daran wichtig?

Besonders wichtig daran ist, die wissenschaftliche Weiterentwicklung der Übergangsforschung mit der Förderung von Wissenschaftler*innen in der frühen Berufsphase zu verbinden. Dies ermöglicht einerseits unsere Doing Transition-Perspektive auf viele unterschiedliche Übergänge anzuwenden, andererseits aber auch eine personelle Entwicklung dieses Forschungsfeldes und berufliche Perspektiven für die Kollegiat*innen in einem sich dynamisch entwickelnden interdisziplinären Forschungsfeld.

Was ist ein Etappenziel?

Aktuelle Etappenziele sind die Auswahl der Kollegiat*innen der 3. Kohorte im Herbst 2022, der Abschluss der Förderung und der Dissertationen der 2. Kohorte im ersten Halbjahr 2023 sowie unsere nächste große internationale Doing Transitions-Konferenz vom 10. bis 12. Mai 2023 an der Goethe-Universität.

Was ist die größte Hürde?

Wissenschaftlich ist eine Herausforderung unser Anspruch einer reflexiven Übergangsforschung, d.h. den Beitrag der Forschung in der Herstellung von Übergängen fortlaufend zu reflektieren. Organisatorisch war und ist eine Hürde die Pandemie und dass - bei aller Großzügigkeit und Flexibilität von Deutscher Forschungsgemeinschaft und Universitätsverwaltung in der Kompensation für die Kollegiat*innen – sich die gesamte Förderlaufzeit nicht anpassen lässt. So werden wir im 1. Halbjahr 2023 zwei Kohorten gleichzeitig haben, das heißt betreuen und räumlich unterbringen müssen.

Gibt es eine Erkenntnis, die Sie besonders geprägt hat und die Sie in dieses Projekt quasi als „Rüstzeug“ mitnehmen?

Neben aller wissenschaftlichen Exzellenz und effizienter Organisationsstruktur ist für ein großes Verbundprojekt das soziale Miteinander ein immer wieder unterschätzter Aspekt, weshalb Raum und Zeit für Informalität nötig sind.

Prof. Dr. Andreas Walther leitet das Graduiertenkolleg »Doing Transitions« an den Standorten Frankfurt und Tübingen gemeinsam mit seiner Tübinger Kollegin, Prof. Barbara Stauber.

Mit Start des Wintersemesters 2021/22 hat die Goethe-Universität wieder ihre Räume für die Studierenden geöffnet. Doch nach der geballten Digitalerfahrung während der Pandemie ist dort nichts wie zuvor. Der Fachbereich Wirtschaftswissenschaften zum Beispiel hat ein Experimentaljahr ausgerufen.

»Seid kreativ und habt keine Angst zu scheitern.« So klar und unverblümt sind die Lehrenden des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften in einem extra einberufenen Town Hall Meeting wohl selten zum Improvisieren aufgefordert worden. »Wir haben ein Experimentaljahr ausgerufen«, bringt Dr. Lars Pilz, Dekansbeauftragter für Studienfragen, die Initiative seines Fachbereichs auf den Punkt. »Das heißt: Dinge dürfen auch schiefgehen.«

Pilz spricht damit aus, was vielen Lehrenden vor der Rückkehr in die Präsenzlehre im Wintersemester 2021/22 durch den Kopf ging. Denn so groß die Freude auf das Lehren vor Ort auch war, auf Diskussionen und intensiven Austausch – die unumgängliche Erfahrung mit digitalen Lehr- und Lernformaten hat Spuren hinterlassen. »In meinem Team gab es die bewusste Entscheidung, nicht in den Zustand von vorher zurückzukehren.« Nicht jeder formuliert es so klar wie der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Bernd Skiera. Klar, gedacht haben es aber wohl die allermeisten.

Bernd Skiera haben die Flipped-Classroom-Modelle der Online-Lehre für sein neues Vorlesungsformat inspiriert. In der Veranstaltung »Marketing II« können sich die Studierenden nun mit Erklärvideos zu Hause auf den Präsenzunterricht vorbereiten. Dieser besteht dann aus Übungen ähnlich den virtuellen Breakout-Rooms, die die Studierenden in Gruppen lösen. Skiera und seine Tutoren gehen im Hörsaal durch die Reihen – jede zweite, geblockte Sitzreihe ermöglicht einen pandemiegerechten Abstand – und beraten dort, wo Fragen aufkommen. Dass er in Live-Gesprächen unmittelbar wahrnimmt, wo die rund 100 Studierenden Probleme haben, erlebt er als »sehr reizvoll« – und hilfreich für seine Vorbereitung der weiteren Veranstaltung. Skiera hat die Teilnehmer*innen vorab auf das neue Format eingestimmt, das ihnen mehr Verantwortung überträgt: Nur wer sich vorbereitet hat, sagt er, kann dann auch in den Übungen und im Austausch mit den Lehrenden und den anderen Studierenden in die Tiefe gehen.

Es sind vor allem die neun großen, mit rund 800 Erstsemestern besucherstarken Orientierungsveranstaltungen, etwa zu Volkswirtschaft und Rechnungswesen, Statistik und Mathematik, »bei denen der Einsatz digitaler Methoden zu größeren Lernerfolgen führen können«, erzählt Pilz. Darüber nachgedacht wird nicht erst seit der Corona-Pandemie. Seit sich die Hochschule nach Ausbruch der Pandemie verstärkt digitalisiert hat, gibt es aber erstmals technische Möglichkeiten, die Alternativen weisen: gescreente Vorlesungen zur Informationsvermittlung, die sich die Studierenden »asynchron«, also wann immer es ihnen zeitlich passt, ansehen können. Im Hörsaal können dann Fallstudien besprochen, Lösungen diskutiert werden – interaktiv, also im Austausch der Studierenden untereinander und mit den Lehrenden.

Experimentieren erwünscht

Viele Lehrende haben inzwischen eine gelassene Routine im Umgang mit Online-Unterrichtselementen – auch dank der im Lockdown eilends einberufenen AG Virtuelle Lehre mit Mitarbeiter*innen aus studiumdigitale, der zentralen eLearning-Einrichtung der Goethe-Universität, dem Interdisziplinären Kolleg Hochschuldidaktik sowie dem Hochschulrechenzentrum, die Lehrende umfassend und intensiv mit Materialien wie Vorlagenkursen in den Lernplattformen OLAT und Moodle versorgten. Wer zudem Neues in der Lehre wagen will, wird weiterhin individuell von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Interdisziplinären Kollegs Hochschuldidaktik sowie von studiumdigitale beraten.

Langjährige Erfahrungen mit den Reaktionen von Wiwi-Studierenden auf Notenanreize haben etwa Prof. Matthias Blonski bewogen, weiterhin die große Endklausur in »Mikroökonomie 1« durch bewertete Mentorien-Hausaufgabenblätter während des Semesters zu ergänzen – und damit etwas gegen das bulimieartige Lernen vor dem Semesterende zu tun.

Seine Kollegin Prof. Anna Rohlfing-Bastian ergänzt ihre Vorlesung zum Accounting seit 2019 mit eLearning-Formaten, stellt den Studierenden eine Lernapp zur Verfügung, mit der sie ihre Lernerfahrungen und -fortschritte selbst kontrollieren. Auch dies ein Verfahren, das Studierende dabei unterstützen will, semesterbegleitend zu lernen und Prüfungsstress gegen Semesterende zu reduzieren. Rohlfing-Bastian weiß bereits (durch eine wissenschaftliche Arbeit ihres Mitarbeiters Julian Langenhagen), dass die App in der Pandemie mehr genutzt wird – in dem Sinne, dass die Nutzer im Durchschnitt mehr Fragen beantworten als vor der Online-Phase.

Die Internationalisierung der universitären Lehre sei ein weiteres wichtiges Ziel, betont Pilz, auf das sich die Universität durch das hybride Unterrichten zubewege. »Wir können zu Spezialthemen einfach einmal Expertinnen und Experten aus dem Ausland in eine Veranstaltung einladen.« Warum nicht früher? »Wir hatten kein Zoom.«

Dinge dürfen auch schiefgehen: Lars Pilz hat bei seinen eigenen Veranstaltungen bereits eine Erfahrung gemacht, die er im kommenden Semester nicht wiederholen wird. »Ich habe alle Vorlesungsaufzeichnungen ins Netz gestellt – mit dem Resultat, dass jetzt weniger Studierende in die Vorlesung kommen.« In Zukunft werde er zwar weiterhin Vorlesungen digital anbieten, aber nur für eine begrenzte Zeit. »Wir wollen doch, dass unsere Studierenden vor Ort sind, dass sie Fragen stellen und wir Probleme gemeinsam besprechen. Das ist effektiver und macht auch einfach mehr Spaß.«

Das Experimentalsemester, stellt Lars Pilz klar, haben übrigens Lehrende und Studierende gemeinsam ausgerufen. Entsprechend gut werden viele Initiativen von den Studierenden auch angenommen. Gemeinsam will man man im Sommer Bilanz ziehen.

Unser Forschungsprofil: Raum für gute Antworten

Mit sechs Profilbereichen will die Goethe-Universität ihre Kompetenzen stärker bündeln.

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