Nicole Deitelhoff: Die meisten Menschen denken bei Konflikten an Misstrauen. Wir versuchen darauf hinzuweisen, dass auch im Konflikt Vertrauen bewahrt und sogar neues erzeugt werden kann. Gerade in einer Zeit, wo wir es mit ganz vielen Konfliktlagen zu tun haben, müssen wir in der Lage sein, in Konflikten noch Vertrauen zu erzeugen.
Rainer Forst: Es ist auch nicht so, dass wir behaupten wollen, Vertrauen entstehe nur in Konflikten. Wir gehen aber davon aus, dass es falsch ist anzunehmen, dass Vertrauen nur in Sozialformen entsteht, in denen man einander gut kennt und die Beteiligten eine weitgehend identische Herkunft haben. Diese Annahme ist zum Beispiel in den Sozialwissenschaften und der Philosophie verbreitet. Wenn man aber so denkt, kann man nicht erklären, wieso in modernen Gesellschaften Vertrauen nicht komplett abwesend ist.
Deitelhoff: Tatsächlich geht es in der Konfliktforschung eher um die Abwesenheit von Vertrauen. Die Frage ist dann immer, wie man die Konflikte beenden kann, um danach wieder Vertrauen herzustellen. In einer Zeit, die von unzähligen Konflikten und Krisen getrieben ist, ist das aber zu wenig.
Deitelhoff: Es bestätigt uns natürlich in bestimmten Annahmen. Dass es etwa lange braucht, um Vertrauen aufzubauen und dass es schnell zerstört wird, etwa durch ein bewusstes Hintergehen. Aber es regt uns zugleich auch an, zu verstehen: Warum konnten es Institutionen nicht schaffen, den Konflikt so zu kanalisieren, dass Vertrauen stabilisiert wird? Es ist auch ein Ansporn für uns, darüber nachzudenken, wie es nach diesem Krieg weitergehen kann. Wie wir uns die beteiligten Institutionen vorstellen können, damit sie zukünftig vertrauenssichernd agieren können.
Forst: Unsere These ist natürlich nicht: Jeder Konflikt generiert Vertrauen. Wir interessieren uns für die Bedingungen, unter denen Konflikte produktiv verlaufen können, also kommunikativ trotz harter Auseinandersetzungen. Bei dem Ukraine-Konflikt fragen wir uns: Wenn Vertrauen ein für alle Mal zerstört wäre, welche Mediation könnte jemals aus der Situation herausführen? Vermittlungsmöglichkeiten setzen voraus, dass noch irgendwo Vertrauenspotenziale schlummern.
Deitelhoff: Die für uns spannende Frage ist, wie Ordnungen gebaut werden können, damit es gar nicht erst zu solchen Abbrüchen kommt. Wir sehen jetzt, dass im Konflikt die Beziehungen entflochten werden, gleichzeitig brauchen wir aber eine Verflechtung. Nur über Verflechtung können wir verstehen, warum die andere Seite etwas tut. Diese basale Empathie hilft uns nämlich, den anderen auch zu lesen, wenn man so will. Auf diesem Lesen basiert dann etwas wie Verlässlichkeit und das kann man dann institutionalisieren. Allerdings darf die Verflechtung auch nicht zu asymmetrisch werden.
Forst: Wir forschen nicht ausschließlich zu internationalen Konflikten. Wir haben fünf Forschungsfelder, in einem davon geht es direkt um Gewaltfragen. Die anderen beschäftigen sich mit demokratischen und zivilgesellschaftlichen Formen von Vertrauensbildung im Konflikt, mit ökonomischen Konflikten, mit Vertrauen in Wissenschaft und Medien. Da, wo es um epistemisches Vertrauen geht, kommen Ungewissheiten ins Spiel. Welchen Informationen kann man vertrauen? Welchen Medien? Die Frage nach Ungewissheit ist aber bei uns auch grundsätzlich wichtig, weil Vertrauen nur da gebraucht wird, wo man nicht kontrollieren kann, was die anderen machen. Aber derzeit kommt etwas Neues hinzu – wie die Pandemie, die Klimakrise oder auch der Krieg zeigen, leben wir in Zeiten solch gravierender Ungewissheiten, dass daraus ein fundamentales Misstrauen resultiert, welches oft in die Suche nach einfachen Vertrauenswahrheiten umschlägt. Diese irrationalen Vertrauensdynamiken interessieren uns.