Beim Bürgerforum im Rahmen der Friedrich Merz-Stiftungsgastprofessur informierten Wissenschaftler über neurodegenerative Krankheiten.
An eine wirksame Therapie scheint kaum noch jemand zu glauben: nicht die großen Pharmaunternehmen, nicht die Betroffenen oder Angehörigen, nicht die vielen Bürger, die durch dramatische Medienberichte alarmiert sind. Gegenüber „neurodegenerativen Erkrankungen“, also insbesondere gegenüber Altersschäden des Gehirns, sind die Menschen bislang machtlos.
Die aufsehenerregenden Forschungsergebnisse des Genetikers Aaron D. Gitler von der US-amerikanischen Universität Stanford (Kalifornien) geben jetzt aber zum ersten Mal ernstzunehmenden Anlass für die Hoffnung auf Heilung. Für seine Forschungsarbeit ist Gitler ausgezeichnet worden – das Frankfurter Pharmaunternehmen Merz hat ihn auf die Friedrich Merz-Stiftungsgastprofessur 2017 an der Goethe-Universität berufen.
Bei dem Bürgerforum, das kürzlich im Arkadensaal des Goethe-Hauses stattfand, stellte Gitler der interessierten Bevölkerung seine Forschungen vor: Sein wissenschaftliches Interesse gilt insbesondere der Therapie der Alzheimer-Krankheit und anderer Demenzen, aber auch des Parkinson-Syndroms, das beispielsweise den Boxer Muhammad Ali tötete, und von ALS (Amyotrophe Lateralsklerose), die den britischen Astrophysiker Stephen Hawking seit Jahrzehnten an den Rollstuhl fesselt.
Die Symptome neurodegenerativer Krankheiten – in den genannten Fällen: fortschreitender Gedächtnisverlust, Bewegungsstörungen beziehungsweise Lähmungserscheinungen der Skelettmuskulatur bis hin zum Atemstillstand – konnten bislang im günstigsten Fall verlangsamt und abgemildert werden. An Heilung war freilich nicht zu denken.
Allen neurodegenerativen Erkrankungen ist gemein, dass sie mit der Fehlfunktion von Proteinen einhergehen. Diese kaputten Proteine lagern sich in den Nervenzellen an, werden mehr, verklumpen schließlich, die Nervenzellen können ihre Aufgaben nicht mehr wahrnehmen. Gitler und seine Arbeitsgruppe haben jetzt einen Weg gefunden, die Entstehung der fehlerhaften Proteinklumpen zu unterdrücken:
Nachdem die DNA von Nervenzellen in RNA übersetzt worden ist, aber bevor entsprechend dieser RNA Aminosäuren zu Proteinen zusammengesetzt werden, schalten Gitler und seine Forscherkolleginnen und -kollegen bestimmte Abschnitte auf den RNA-Strängen ,stumm‘, indem sie kurze, komplementäre RNA-Schnipsel dazugeben. Je nachdem, was für einen RNASchnipsel sie zugeben, wird ein anderer Abschnitt der RNA und damit die Bildung eines anderen Proteins blockiert, so dass eine andere neurodegenerative Erkrankung behandelt werden kann.
Erste Studien an Hefe und Mäusen
Gitler hat die Wirkungsweise der RNA-Schnipsel nicht von Anfang an in echten Nervenzellen studiert. Er hat den Mechanismus in Zellen der Bäckerhefe saccharomyces cerevisiae erforscht, deren Lebenszyklus nicht Monate oder Jahre dauert, sondern innerhalb gerade mal eines Tages abläuft. Zusammen mit Georg Auburger, dem Frankfurter Professor für experimentelle Neurologie, hat Gitler seinen Behandlungsansatz dann auf genmanipulierte Mäuse übertragen:
Mäuse mit einem „ALS-artigen“ Gendefekt werden nicht einmal 25 Tage alt, infolge der Behandlung durch Gitler und Auburger kann der Krankheitsverlauf jedoch über mehr als ein Jahr aufgehalten werden. In Therapiestudien am Menschen verbieten sich natürlich Genmanipulationen, aber die Injektion der RNA-Schnipsel ist hier längst Realität.
So hat inzwischen die Arzneimittelbehörde der Vereinigten Staaten die Behandlung mit RNA-Injektionen bei schweren Fällen von spinaler Muskelatrophie (SMA) zugelassen, am Universitätsklinikum Ulm laufen erste Versuche, in denen ALS-Patienten die RNA-Injektionen erhalten, und auch am Klinikum der Goethe-Universität werde es vermutlich bald Therapiestudien geben, in denen die RNA-Stücke Patienten injiziert würden, ist Auburger überzeugt.
Bevor Patienten, die an ALS und anderen neurodegenerativen Krankheiten litten, routinemäßig mit RNA-Injektionen behandelt werden könnten, müsse beispielsweise noch geklärt werden, in welchen Zeitabständen die Injektionen erfolgen sollten und wo genau die RNA zu injizieren sei, erläutert er – ob in den unteren Rücken, ins Genick oder sogar in eine oder auch beide Gehirnkammern.
„Der Erfolg dieser Studien hängt ganz entscheidend davon ab, dass wir von den Teilnehmenden eine Rückmeldung erhalten, wie die Injektionen wirken“, sagt Gitler. „Je mehr Patienten frühzeitig an der Behandlung teilnehmen und je mehr Erfahrungen wir sammeln, desto früher können wir zufriedenstellend behandeln.“
Mit den etablierten objektiven Messverfahren, beispielsweise bei der Therapie von ALS, könne man im Allgemeinen erst nach Monaten feststellen, ob eine Besserung oder Verschlechterung aufgetreten sei; das Nervensystem lasse sich zur Untersuchung ja nicht einfach aus dem Körper herausnehmen, „die Rückkopplung der Patienten erhalten wir hingegen schon Tage oder Wochen nach der Behandlung“.
Hoffnung auch für Epileptiker
Gitler zeigt sich bei dem Bürgerforum überzeugt davon, dass, auch wenn noch eine Menge Forschungsarbeit notwendig ist, im Prinzip alle neurodegenerativen Erkrankungen durch die Injektion von speziell gestalteter RNA geheilt, wenn nicht gar von vorneherein verhindert werden können. Und, wie anschließend der Neurologie-Professor Felix Rosenow erläutert, möglicherweise nicht nur die:
RNA-Injektion eignet sich nämlich auch zur Therapie von Epilepsie. Längst stehe die Medizin nicht mehr hilflos der Krankheit gegenüber, die vor 200 Jahren noch Christiane von Goethe einen qualvollen Tod bescherte, so Rosenow. Allerdings schlage die Behandlung längst nicht bei allen Patienten an. Insbesondere werde fast ein Drittel aller Patienten mit Hilfe der konventionellen Therapie (medikamentös oder chirurgisch) nicht anfallsfrei, könne daher weder Auto fahren noch einen Beruf ausüben.
Die Krankheit wird am Klinikum der Goethe-Universität durch Rosenow erforscht, der hier nach neuen Therapieansätzen sucht, unter anderem danach, wie kurze RNA-Stücke die Übersetzung von RNA in Proteine blockieren. Für ein Forschungsprojekt an dem von ihm geleiteten Epilepsie-Zentrum erhält er von 2018 bis 2021 aus dem LOEWE-Förderprogramm der hessischen Landesregierung 4,7 Millionen Euro.
[Autorin: Stefanie Hense]
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 6.17 (PDF-Download) des UniReport erschienen.