Die Aussicht ist spektakulär: Aus seinem Büro im sechsten Stock des IG-Farben-Gebäudes auf dem Westend-Campus kann Vinzenz Hediger, Professor für Filmwissenschaft am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft (TFM), fast bis nach Darmstadt blicken. Aber Hediger ist keiner, der im stillen Kämmerlein in schöner Aussicht schwelgt. Seine Kontakte für Forschung und Lehre reichen in die ganze Welt: Das fängt quasi vor der Haustür an, schlicht auf der anderen Mainseite, im Deutschen Filminstitut/Filmmuseum (DIF), das gemeinsam mit dem TFM den Masterstudiengang „Filmkultur: Archivierung, Programmierung, Präsentation“ anbietet. Und noch ein bisschen weiter, zur F.W.-Murnau-Stiftung nach Wiesbaden, bei der so mancher und manche Studierende dieses Master-Studienganges das obligatorische Praxissemester absolviert und mit der Hediger bei zukünftigen Forschungsprojekten auch selbst zusammenarbeiten will.
Mindestens genauso wichtig waren und sind für Hediger natürlich Kontakte ins Ausland, so dass er als Professor an der Ruhr-Universität Bochum, noch bevor er 2011 an die Goethe-Universität berufen wurde, zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaft begonnen hatte, ein europäisches Netzwerk der Filmforschung zu knüpfen. NECS, dem European Network of Cinema and Media Studies, gehören inzwischen rund 2700 Film- und Medienwissenschaftler an: Theoretiker und Theoretikerinnen aus der filmwissenschaftlichen Forschung genauso wie Anwender aus der Praxis eines Filmarchivs sowie Programmiererinnen, deren Ziel die digitale Restaurierung von Filmen und anderen Medien ist.
Grenzen überschreiten
„Mit ausländischen Filminstituten zu kooperieren ist für unsere Arbeit entscheidend“, betont Hediger und fügt hinzu, dass es in der Natur des Films liege, Grenzen zu überschreiten: „Natürlich gibt es nationale Kinematographien, betrachten Sie zum Beispiel das französische, das spanische, das deutsche Kino. Aber: Filme herzustellen ist heutzutage so teuer, dass diese von vorneherein darauf angelegt sein müssen, nationale Grenzen zu überschreiten. Da ist zum Beispiel die Weltindustrie „Hollywood“, die uns das vormacht – niemand käme auf die Idee, Hollywood als US-amerikanische Nationalfilmkunst und als nationale Filmindustrie aufzufassen.“ Auch aus diesem Grund kooperiert das von Hediger geleitete DFG-Graduiertenkolleg „Konfigurationen des Films“ eng mit den Universitäten Concordia (Kanada) und Yale (USA).
Hediger selbst befasst sich seit mehr als zwanzig Jahren intensiv mit den ökonomischen Mechanismen, nach denen die Traumfabrik Hollywood funktioniert, reist folglich häufig nach Kalifornien und recherchiert etwa im Universitätsarchiv der UCLA oder im Forschungsarchiv der Oscar-Academie: „Wir haben es hier mit einer kapital- und technologieintensiven Industrie zu tun, die mit extremen Risiken verbunden ist und keine Subventionen erhält. 80 Prozent aller Filme sind Flops, 20 Prozent der Filme erbringen 80 Prozent der Einnahmen, und niemand kann voraussagen, welches die Gewinner sind“, erläutert Hediger. Daher müssten Hollywood- Filme einerseits als Kunstwerke immer ein Element von Neuheit aufweisen, bedürften aber andererseits gewisser Standardisierung: Erfolgreiche Schauspieler würden immer wieder eingesetzt, bestimmte Erzählungen in Variationen wiederholt, Kameraeinstellungen, Licht und andere Gestaltungsmuster folgten den Konventionen des Hollywood-Kinos.
Hediger setzt sich freilich nicht nur mit dem Spannungsfeld von ökonomischem Zwang und künstlerischem Anspruch auseinander, in dem sich das Kino im hochentwickelten Industrieland USA befindet: Als einer der leitenden Wissenschaftler (PIs) des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ hat er im Deutschen Filmmuseum die Film- und Vortragsreihe „Lecture & Film“ initiiert, in der zuletzt knapp 20 Filme und Kurzfilme des brasilianischen Untergrund-Kinos gezeigt wurden; die Frankfurter Bevölkerung konnte auf diese Weise mitverfolgen, wie Hedigers wissenschaftliche Arbeit im vergangenen Jahr zu einem beträchtlichen Teil durch die Auseinandersetzung mit der brasilianischen Gegenkultur der 1960er und 1970er Jahre bestimmt wurde.
Export nach Nigeria
Filme werden allerdings nicht nur in den USA, in Europa, Südamerika und Asien gedreht, sondern auch in Afrika. „Historische Dokumentationen sind ein wichtiger Teil des Filmerbes im post-kolonialen Afrika“, stellt Hediger klar und nennt als Beispiel für diesen Aspekt den Biafra-Bürgerkrieg im westafrikanischen Nigeria. Entsprechend großes Interesse hätten nigerianische Film- und Kommunikationswissenschaftler dem TFM-Masterstudiengang „Filmkultur: Archivierung, Programmierung, Präsentation“ entgegengebracht, den Hediger 2017 bei einer Tagung in der nigerianischen Universitätsstadt Jos vorstellte. „Unterstützt durch das Präsidium der Goethe-Universität und finanziert durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) haben wir unseren Masterstudiengang kürzlich nach Nigeria exportiert“, berichtet Hediger.
Dieser Export wurde ermöglicht durch das DAAD-Programm „Transnationale Bildung“ – die Frankfurter Filmwissenschaft hat hier Ländergrenzen und Tausende von Kilometern überwunden. Das hat sie mit dem Medium Film gemeinsam, von dem Vinzenz Hediger schwärmt: „Wenn man Modernität als die Fähigkeit einer Gesellschaft definiert, Menschen, Objekte und Ideen in Bewegung und Zirkulation zu versetzen, dann ist der Film nicht nur das Leitmedium des 20. Jahrhunderts, wie es oft heißt, sondern der Moderne überhaupt.“
[Autorin: Stefanie Hense]
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 5.18 des UniReport erschienen. PDF-Download »