UniReport: Herr Professor Allert, die sogenannte Mund-Nasen-Maske zu tragen gehört mittlerweile mehr oder minder zum Alltag (und das wird vorerst wohl auch so bleiben). Warum sind Beobachtungen zum Umgang damit für den Soziologen so fruchtbar?
Tilman Allert: Für die Soziologie ist die Maske in verschiedener Hinsicht von Bedeutung. Die Maske ist die wichtigste Metapher für ein Verständnis des menschlichen Handelns als ein Spiel, das seine Dynamik daraus bezieht, dass mit einem Gegenüber wechselseitig um das Verhältnis von Maske und Authentizität gerungen wird, zu Last und Vergnügen der Beteiligten. Mit der Maske ist, wie der Soziologe Georg Simmel formulierte, die Geheimnishaftigkeit des sozialen Lebens angesprochen. Zentral für diesen Blick auf den Austausch ist die Frontalität des Gesichts mit dem Mund als herausragenden Medium der Mitteilung und Selbstmitteilung, ergänzt um das Ent- und Verschlüsselungspotenzial von Mimik und Gestik. Von hier aus lässt sich die Starre, von der Maske diktiert, verstehen. Das ist als solches natürlich keine große Einschränkung: Schließlich ist das Sprechen nicht behindert. Mancher Satz muss wiederholt werden, aber mehr nicht. Allerdings schwindet die Elastizität der Kommunikation, die Abstandsregel lässt das Gegenüber in Verdacht geraten. Begegnungen unter der Prämisse des Verdachts kennen wir genau genommen nur bei der Misanthropie. Und auszuhalten ist eine diktierte Zurückhaltung nur für einen absehbaren Zeitraum.
Sie haben mal geschrieben, dass die Maske ein »magisches Mittel der Situationsbewältigung« darstelle. Also ist das Tragen nicht nur rational begründet?
Vieles von dem, was Menschen tun, ist magisch überdeterminiert, ein harmloses Beispiel wäre der Talisman oder der zu jedem Heimspiel ins Stadion geschleppte Adler der Eintracht Frankfurt – das ist längst eine Gewohnheit geworden, am magischen Versprechen ändert das nichts. Magie wird bemüht, in modernen Gesellschaften eher unbewusst als strategisch, gegen die Übermacht des Wahrscheinlichen. Und die Masken erfüllen nun für viele Menschen die Funktion des Talisman, eine Selbstsuggestion jenseits der Rationalität einer hygienischen Vorbeugung
– die Maske ist gleichsam beinah schon der Impfstoff. Das Tragen wird veralltäglicht und Veralltäglichung macht lässig bzw. nachlässig, damit ist die derzeitige Sorge der Regierung angesprochen.
Bestimmte Formen der Geselligkeit gibt es auch noch im »Lockdown light«, wie zum Beispiel kleinere familiäre Treffen. Sie beklagen aber, dass durch die Maskenpflicht und Abstandsregelungen die »Beiläufigkeit des sozialen Austausches« fehle. Was verstehen Sie darunter?
Nicht der Austausch fehlt, sondern die Bezugnahme auf die Mitmenschen ist überschattet durch den Gedanken an Infektionsketten. Daraufhin reduziert man die Kontaktintensität, ohne es zu wollen. Es geschieht. Wenn die Kaufhäuser leer bleiben – in den Zeitungen heißt es, Konsumlaune wolle sich nicht einstellen –, dann zeigt sich hier die Spitze eines Eisbergs geschrumpfter Geselligkeit. In jedem Grundkurs Soziologie wird Handeln als ein Vorgang gelehrt, der aus der Perspektive eines Gegenübers erfolgt. Genau genommen machen Menschen sich – bleiben wir beim Konsum, beim Klamottenkauf – für die anderen schön und darin auch für sich selbst. Durch Corona brechen Bühnen weg, wer will da noch das kleine Schwarze anziehen? Ein triviales Beispiel mag die eigene Situation sein: Seitdem ich vor dem Laptop meine Veranstaltungen online durchführe, trage ich keine Krawatte, zu normalen Seminarzeiten ein selbstverständliches Stück Kleidung und – um nicht falsch verstanden zu werden – natürlich nicht zwingend. Zur Zeit käme ich mir jedoch blöd vor, mir vor Uni-Zoom eine Krawatte anzulegen.
Warum blockiert die Maske bei flüchtige Begegnungen den aufmerksam-interessierten Blickkontakt?
Georg Simmel hat in dem Blick eine grundlegende Form menschlicher Reziprozität erkannt. Aber dieser Gedanke ist missverständlich. Blicke können höchste Intimität kommunizieren („Humphrey Bogart in dem Film Casablanca: Schau mir in die Augen, Kleines“), jedoch auch hohe Abgrenzung, Distanz, ja Sanktionsschärfe (– der böse Blick). Manche mögen sich noch erinnern an die Berichte aus Bergamo und das Interview mit einer Krankenschwester, die verzweifelt von ihrer Not sprach, weil sie einen Sterbenden nicht wenigstens mit einem menschlichen Lächeln, vielmehr nur mit ihrem Blick habe verabschieden können.
Denken Sie, dass auch nach dem Wegfall der Corona-Regeln – wenn zum Beispiel ein Impfstoff das normale Miteinander wieder ermöglicht – das soziale Miteinander sich verändert haben bzw. sich verändern wird?
Das ist eine schwierige Frage. Wenn moderne Gesellschaften zwingend auf Vertrauen basieren und nicht auf Verdacht, dann werden wir schnell in die komfortable Normalität bürgerschaftlicher Kontakte, zu Klatsch und Tratsch in Familie, Beruf oder Verein zurückkehren und vermutlich die Corona-Zeit als nicht mehr als einen gespenstischen Spuk in Erinnerung behalten. Einige werden sich Kurzurlaube oder gar den Urlaub gründlicher überlegen, einige werden die Zeit der erzwungenen Muße als Mahnung erinnern, nicht alles für machbar zu halten. Möglicherweise wird es erst in der Zeit nach den Impfungen zu einer Belastungskrise der Sozialordnung kommen, wenn deutlich wird, dass der Lockdown der Volkswirtschaft enorme Kosten aufgebürdet hat. Aber das wissen wir nicht. Hinterher sind wir klüger, das gilt auch für die Wissenschaften – die diagnostische Klugheit der Soziologie ist nicht viel weiter als die der Meteorologie und die Vorhersagen aus Offenbach gehen meist nicht über eine oder zwei Wochen hinaus. Bescheidenheit ist also angesagt.
Fragen: Dirk Frank
Tilman Allert ist Professor für Soziologie und Sozialpsychologie mit dem Schwerpunkt Bildungssoziologie
Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 6.20 (PDF) des UniReport erschienen.