Wie zweieinhalbtausend Jahre alte Texte bis in die Gegenwart strahlen

Zwei groß angelegte Forschungsprojekte des Klassischen Philologen Hans Bernsdorff (eines davon abgeschlossen) widmen sich der Neuausgabe, Übersetzung und Kommentierung von Texten zweier wichtiger altgriechischer Dichter.

Ein Buch ist bereits bei Oxford University Press erschienen, an dem anderen Publikationsprojekt wird gegenwärtig noch gearbeitet: Prof. Dr. Hans Bernsdorff hat in zwei DFG-geförderten Projekten Texte der altgriechischen Dichtung, 2300 und 2600 Jahre alt, für den renommierten britischen Verlag neu kritisch ediert, übersetzt und kommentiert. Eine Arbeit, die auf digitale Datenbanken zurückgreift, aber im Wesentlichen auf traditioneller philologischer, durch neuere literaturwissenschaftliche Ansätze erweiterter Interpretation basiert, wie Hans Bernsdorff im Gespräch mit dem UniReport betont.

Anakreon: nicht nur Dichter von Trinkliedern

Manchmal sind die Wege klassischer Bildung in die Kultur des Mainstreams unergründlich: So verwendet die amerikanische Nationalhymne „Star-Spangled Banner“ die Melodie des englischen Trinkliedes „To Anacreon in Heaven“ – „auch wenn der patriotisch-militärische Duktus des Hymnentextes nur wenig mit Anakreon und der Anakreontik zu tun hat“, wie Bernsdorff bemerkt. Anakreon gehört zu den bedeutendsten Repräsentanten der archaischen griechischen Lyrik. Sein Einfluss auf die hellenistische, die römische, aber auch auf neuzeitliche Poesie ist gewaltig. Eine Stilrichtung des 18. Jahrhunderts, die Anakreontik, wurde nach ihm benannt. Damit wird in der Regel eine Lyrik bezeichnet, in der Wein, Liebe, Gesang und Geselligkeit im Zentrum stehen. „Diese Fokussierung geht aber vor allem auf Anakreons zahlreiche Imitatoren zurück. Denn seine Lyrik erschöpft sich keineswegs in diesen Themen“, sagt Hans Bernsdorff. Damit ist man auch schon bei den Aufgaben angelangt, die dem Editor antiker Texte gestellt sind: aus den vielen Schichten von späteren Abschriften, Lektüren, Imitationen, die stets mit willkürlichen oder unwillkürlichen Veränderungen verbunden waren, den Kern der ursprünglichen Dichtung zu extrahieren. Was angesichts eines nur aus Fragmenten bestehenden Werkes besonders anspruchsvoll ist, wie im Fall des Anakreon, dessen Dichtung im Unterschied zu der anderer antiker Poeten wie z. B. Horaz nur bruchstückhaft erhalten ist; bis zum Ende des 19. Jahrhunderts kannte man sie nur aus Zitaten bei späteren Autoren: „So bringen etwa antike Grammatiker Beispiele aus Anakreon, um bestimmte Versmaße oder sprachliche Erscheinungen zu belegen. Dabei werden die Texte durchaus an die Interessen des jeweils Zitierenden angepasst.“ Eine andere wichtige Quelle für Anakreon ist das Werk Die Gelehrten beim Mahle des Athenaios (2./3. Jh. n. Chr. ?), das sich mit Trinkgebräuchen der Vergangenheit beschäftigt. Seine Kenntnisse bezog der Autor vor allem aus der Literatur – u. a. auch aus Anakreons Gedichten, die Athenaios deswegen kräftig zitiert. Bereits im 16. Jahrhundert, im Zeitalter der Humanisten, gab es die erste Anakreon- Ausgabe; die seitdem erfolgten philologischen Überlegungen müssen bei der Neuedition natürlich stets einbezogen werden. Zu den Zitaten traten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vornehmlich im Sand Ägyptens gefundene Papyrusbruchstücke, von denen auch die Anakreon-Philologie profitieren konnte: Die vorhandenen Fragmente können daran abgeglichen, korrigiert oder ergänzt werden. Bernsdorff gelang es bei seiner Arbeit an den vor allem aus dem zweiten Jahrhundert n. Chr. stammenden Papyri, auch bislang unbekannte Textfragmente des Anakreon zu identifizieren, u. a. eines, das ein unerwartetes Interesse des Dichter an dem Mythos der Unterweltgöttin Persephone offenbart.

Fragment von Anakreon
(Poetae Melici Graeci 360)


ὦ παῖ παρθένιον βλέπων,
δίζημαί σε, σὺ δ’ οὐ κλύεις,
οὐκ εἰδὼς ὅτι τῆς ἐμῆς
ψυχῆς ἡνιοχεύεις.

O Knabe, mädchenhaft blickender,
ich suche dich, du aber hörst nicht,
nicht wissend, dass du meine
Seele mit Zügeln lenkst.

Moderne Lektüreansätze

Bei der Interpretation eines Gedichtes von Anakreon geht der Klassische Philologe nicht anders vor, als es ein Germanist mit einem Gedicht Goethes täte. Das lyrische Ich wird zwar in der Regel mit dem Dichter Anakreon identifiziert, ist dabei aber keineswegs ein biographisches Pendant. „Anakreon schlüpft mitunter bewusst in eine Rolle und entfernt sich damit von seinem biographischen Ich. Gleichwohl können historische Ereignisse und Lebensumstände ihren Widerhall in den Texten Anakreons finden“, erklärt Bernsdorff. Für ihn sind auch neuere Ansätze in den Literatur- und Kulturwissenschaften wichtig, um aktuelle Fragen an die Texte zu stellen, jenseits der althergebrachten philologischen Interpretation: „Die Intertextualitätstheorie hat beispielsweise gezeigt, dass Texte aufeinander reagieren, sodass sich dadurch in einem Text neue Bedeutungsschichten ergeben können.“ So findet man bei Anakreon Anspielungen auf die ältere Dichterin Sappho – eine besonders interessante Konstellation, weil dadurch ein weibliches Ich in ein männliches verwandelt wird. Gerade durch die Neufunde von Texten Sapphos seit 2000 habe auch die Anakreon-Exegese neue Impulse erhalten, betont Bernsdorff. Einen zweiten Anstoß geben strukturalistische Interpretationsansätze, bei denen untersucht wird, wie Analogien und Oppositionen ein Textgeflecht organisieren. Weitere fruchtbare Ansätze aus dem neueren Theoriespektrum bieten für Bernsdorff die Gender Studies: „Die Konstruktion des Geschlechts, die Beziehungen von Frauen und Männern sowie Wesen und historische Erscheinungsformen von Sexualität sind wichtige Aspekte, die bei einer heutigen Lektüre Anakreons eine Rolle spielen müssen.“

Schlangentöter Herakles

Bildnisstatue eines kleinen Jungen in der Gestalt des schlangenwürgenden Herakles (um 200 n. Chr.), Rom, Kapitolinische Museen, Palazzo Nuovo, Galleria 59, Inv.-Nr. 247.

Während das Anakreon-Projekt bereits abgeschlossen und der Kommentar 2020 erschienen ist, arbeitet Bernsdorff an dem zweiten Projekt, einer kommentierten Edition von Theokrits Herakliskos („Der kleine Herakles“). Der maßgebliche Kommentar ist 70 Jahre alt, somit ergibt sich die Notwendigkeit einer Neukommentierung, die die umfangreiche Forschung berücksichtigt, die mittlerweile dazu erschienen ist. Theokrits Text stammt aus dem 3. Jahrhundert v. Chr., aus der sogenannten hellenistischen Epoche. Theokrit wurde lange Zeit vornehmlich als Bukoliker (Hirtendichter) betrachtet, sodass hier eine ähnliche Verengung der Rezeption wie bei Anakreon stattgefunden hat. Bernsdorff wählte ein Gedicht aus, das rein mythologischer Natur ist. Der Herakliskos erzählt in gerade einmal 172 Versen von den Taten des Herakles, stellt dabei aber die auch durch die bildende Kunst berühmte Szene, wie der Zeussohn als Säugling zwei Schlangen, die ihm von seiner eifersüchtigen Stiefmutter Hera aus Rache in die Wiege geschickt werden, erwürgt, in den Mittelpunkt. Damit folgt der Text einem allgemeinen Interesse der hellenistischen Kunst und Literatur an der Welt des kleinen Kindes. Geschrieben wurde der Text am Hofe der Ptolemäer im ägyptischen Alexandria. „Besonders amerikanische Forscher untersuchen verstärkt, ob sich in diesem Text der altgriechischen Kultur auch Elemente der altägyptischen Gesellschaft und Religion nachweisen lassen“, sagt Hans Bernsdorff. Auch solche neueren Ansätze müssen in der Kommentierung berücksichtigt werden. „Die ersten 140 Verse des Herakliskos sind auf mittelalterlichen Kodizes vollständig überliefert. Der Schluss tauchte dann erst im 20. Jahrhundert auf Papyrus auf, allerdings nur stark fragmentiert“, erläutert Bernsdorff. Hier muss der Philologe kreativ kombinieren, um die fehlenden Teile zu ergänzen: Zwar steht mit dem Thesaurus Linguae Graecae eine digitale Datenbank zur Verfügung, in der verzeichnet ist, wo ein Wort in der griechischen Literatur vorkommt. „Aber das bedeutet nicht, dass die Aufgabe der Interpretation entfällt“, betont Bernsdorff. In der Datenbank kann z.B. überprüft werden, ob das für eine Lücke im Papyrus gewählte Wort passt – auf die Idee für ein solches Wort muss der Philologe aber in der Regel selber kommen. „Die digitalen Werkzeuge sind wichtig, machen aber die jahrhundertealte Arbeit philologischer Gelehrsamkeit nicht überflüssig und ersetzen nicht die Imagination beim Ergänzen fragmentarischer Texte, zumal wenn diese poetischer Natur sind.“

Die Relevanz klassischer Bildung

Prof. Dr. Hans Bernsdorff forscht am Institut für Klassische Philologie (Fachbereich Sprach- und Kulturwissenschaften der
Goethe-Universität) zur griechischen und lateinischen Dichtung.
Foto: privat

Lohnen die Texte des Anakreon und des Theokrit einen solchen philologischen Aufwand? Auch wenn ihre Bedeutung für die europäische Geistesgeschichte deutlich ist, haben sie doch keinen unmittelbaren Nutzen für die Gesellschaft, räumt Bernsdorff ein. „Aber“, so fragt er, „hat ein Goethegedicht, das man im Deutschunterricht interpretiert, prinzipiell einen größeren ‚unmittelbaren Nutzen‘?“ Unsere Gesellschaft hält am Umgang mit der Poesie vergangener Zeiten als Bestandteil höherer Bildung fest (im Rhein-Main-Gebiet gibt es eine Reihe altsprachlicher Gymnasien, die auch Griechischunterricht anbieten). Damit legitimiert sich aber auch die wissenschaftliche Erforschung dieser Literatur an den Universitäten. „Es fällt nicht schwer, heutigen Leserinnen und Lesern zu vermitteln, wo der Bezug dieser alten Texte zu unserer Welt liegt: Im Falle des Anakreon, der oft ein liebendes Ich und seine Emotionen in das Zentrum seiner Lyrik stellt (siehe Beispieltext in Kasten), gelingt das besonders leicht. Aber auch die Geschichte vom ‚Superman‘ Herakles (lateinisch Hercules) strahlt vielfältig bis in die Neuzeit, man denke nur an den Kasseler Hercules, der in Hessen jedem bekannt sein dürfte.“ Bernsdorff wird im Sommer noch einmal nach Oxford reisen, um dort in der Bodleian Library weitere Recherchen zu betreiben. „Kodizes und Papyri sind zwar alle bereits in hoher Auflösung digitalisiert, aber bei speziellen Fragen muss man diese in Plexiglas eingefassten und sehr fragilen Schriftstücke unter das Mikroskop legen.“ Der Herakliskos ist bereits bis zur Hälfte kommentiert, im anstehenden Forschungsjahr will sich Bernsdorff den Rest vornehmen. 2025 soll dann auch diese Ausgabe fertig werden.

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