Alle Jahre wieder: Prof. Shinya Miyamoto blickt auf drei Aufenthalte an der Goethe-Universität zurück

Professor Shinya Miyamoto war bisher schon drei Mal an der Goethe-Universität Frankfurt – als Master-Student Ende der 1990er Jahre, als post-doc knapp 10 Jahre später, und nun als Gastwissenschaftler, entsandt von der Meiji Universität (Tokio). Im Zuge dieser mehrjährigen Aufenthalte hat er einen unglaublichen Schatz an Expertenwissen in seinem Fachgebiet – der Kritischen Theorie – gesammelt, die er ganz im Sinne der Frankfurter Tradition nicht nur interdisziplinär, sondern auch interkulturell anwendet. Im Gespräch berichtet der japanische Professor für Sozialphilosophie von persönlichen Erfahrungen mit Jürgen Habermas und erklärt warum es so wichtig ist, den internationalen wissenschaftlichen Austausch zu fördern.

Professor Shinya Miyamoto
Während seines ersten Aufenthalts an der Goethe-Universität, damals als einziger japanischer Student im Bereich der Philosophie, hatte Miyamoto Shinya das Privileg, eine Sprechstunde mit Axel Honneth zu haben – „eine wunderschöne und einmalige Erfahrung.“

Professor Miyamoto, Sie kamen 1998 mit einem DAAD-Stipendium erstmals nach Frankfurt. Knapp 30 Jahre später sind Sie wieder hier, Ihr dritter Aufenthalt an der Goethe-Universität. Was bewog Sie damals dazu, diesen großen Schritt ins Ausland zu tun, und warum genau hierher?

Mit 29 Jahren – damals studierte ich für meinen Master in Humanwissenschaften an der Universität Osaka – habe ich mich für ein DAAD-Stipendium beworben. Zuvor hatte ich bereits meinen Bachelor im gleichen Fachbereich erhalten. Ein Jahr später, 1998, trat ich mein Studium in Frankfurt an. Im Nachhinein kann ich sagen, dass ich richtig Glück hatte. Zwar hatte ich schon vorher in Japan Kritische Theorie studiert, allerdings gestaltete sich dies aufgrund der doch noch sehr orthodoxen Aufteilung in Disziplinen und Fachbereiche etwas problematisch. Anders ausgedrückt: Es war schwierig, den hochgradig interdisziplinären Bereich zwischen Philosophie, Literatur und Politik, auf dem so viel in der Kritischen Theorie fußt, zu studieren. Ich hatte Glück, weil das in meinem Fachbereich, den Humanwissenschaften, zu der Zeit schon anders war, und ich somit diese faszinierende Interdisziplinarität erfahren konnte.

Zufall spielte auch eine Rolle. Denn auch wenn Kritische Theorie schon Ende der 90er Jahre sehr groß in Japan war, gab es wenige Professor*innen oder Spezialist*innen für Größen wie Immanuel Kant, Georg Friedrich Wilhelm Hegel oder Max Weber. In Osaka allerdings belegte ich Kurse bei gleich mehreren Professor*innen, die selber im Ausland studiert hatten, unter anderem auch in Deutschland. So auch Professor Kenichi Mishima, ein Spezialist im Bereich der Kritischen Theorie. Ihm habe ich viel zu verdanken. Er dolmetschte damals die Rede von Bundeskanzler Helmut Kohl vor dem japanischen Parlament (kokkei). Die philosophischen Ansätze, die er und andere mir vermittelt haben, hatten einen großen Einfluss auf mich. Darüber hinaus gab er mir den weisen Rat, dass meine Deutschkurse in Japan nicht ausreichen würden um eine Stelle an einer Universität zu erhalten. Dafür, sagte er, müsse ich nach Deutschland gehen und dort Deutsch lernen.

Dann war es Ihr Forschungsschwerpunkt – die Kritische Theorie – der Sie dazu bewog, nach Deutschland zu kommen?

Ich wollte nach Deutschland kommen, und zwar nicht nur, um an einer Universität zu studieren, sondern auch um die Medien zu konsumieren und in Untergruppen zu diskutieren – um Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erkennen. Gleichzeitig war ich ein japanischer Student, und in meiner Kultur neigen wir immer noch dazu, auch im Ausland an Möglichkeiten oder Chancen daheim zu denken, auch was die Karriere angeht. Es passte alles zusammen.

Und so landeten Sie dann in der Dantestrasse in Bockenheim, dem Zentrum der Kritischen Theorie in Frankfurt. Wie lange blieben Sie?

Damals war ich zwei Jahre hier. Die ersten vier Monate verbrachte ich in Mannheim, wo ich Deutsch gelernt habe. An diese Zeit denke ich gerne zurück. Ich habe die Stadt sehr gern gewonnen, und dort viele interessante Erfahrungen gemacht. Auch ich hatte die Chance Helmut Kohl live zu erleben, denn im Sommer 1998 fanden in Deutschland Bundestagswahlen statt, und Kohl – dessen Heimatstadt Ludwigshafen unmittelbar neben Mannheim lag – sprach auch in Mannheim. Aller Reden zum Trotz kam es dann nach 16 Jahren CDU zum Machtwechsel, und die SPD übernahm unter dem neuen Kanzler Gerhard Schröder die Regierungsleitung.

Nach vier Monaten in Mannheim begann ich mein Studium an der Goethe-Universität unter Prof. Axel Honneth. Selbstverständlich habe ich mich dabei wissenschaftlich auch mit Jürgen Habermas beschäftigt. Da es zu der Zeit nur sehr wenige japanische Studierende an der Universität gab – ich war der einzige im Fachbereich Philosophie – hatte ich zudem das einmalige Privileg, während den Semesterzeiten und wenn er nicht abwesend war alle zwei Wochen eine eigene Sprechstunde mit ihm zu haben. Das wäre normalerweise unmöglich, und fühlte sich für mein damaliges ich ein bisschen an wie Privatunterricht mit einem Gymnasiallehrer. Wir verbrachten die Zeit damit, über Forschung und Weltanschauungen zu diskutieren – eine wunderschöne und einmalige Erfahrung.

Mit welchem Thema beschäftigten Sie sich damals?

Mein Fokus – damals wie heute – liegt auf Kommunikation und der politischen Öffentlichkeit. Ich bediene mich verschiedener Diskussionen innerhalb der kritischen und politischen Theorie, oder auch den Medienwissenschaften, und analysiere aus dieser Perspektive die Kommunikation in der Öffentlichkeit oder in den Medien. Hierbei vergleiche ich die Situationen in Japan und Deutschland.

Besonders in der japanischen Gesellschaft gestaltet sich die öffentliche und mediale Diskussion aufgrund kultureller Empfindlichkeiten sehr anders, auch im Bereich der Politik. Diskussionen oder Debatten werden eher als unangenehm empfunden.

Auf Basis dieses Vergleichs konstruiere ich mein ganzes wissenschaftliches Werk.

Waren Sie bei Ihrem ersten Aufenthalt viel in Kontakt mit Studierenden, auch aus anderen Ländern?

Im Fachbereich Philosophie war ich wie gesagt der einzige Student aus Japan. Aber an der großen Mensa in Bockenheim habe ich einige japanische Studierende anderer Fachbereiche kennengelernt.

Was mein Forschungskolloquium angeht: Das war damals schon sehr international, mit Studierenden aus Korea, Chile, Frankreich, Bulgarien… Es gab so viele internationale Studierende an der Universität. Aus Japan kommend, und mit meinem Hintergrund, fand ich das sehr überraschend. Natürlich studieren auch in Japan Menschen aus anderen Ländern. Aber in den Fachbereichen Philosophie oder Soziologie handelte es sich dabei vornehmlich um Studierende aus China, Taiwan oder Südkorea. Das ist übrigens bis heute der Fall. In den Naturwissenschaften war und ist die Situation natürlich sehr anders.

Sie haben Ihr DAAD-Stipendium dafür genutzt, für Ihren PhD zu recherchieren, den Sie danach an der Universität Osaka erhielten.

Eigentlich wollte ich nach meinem Aufenthalt in Deutschland hier meinen Doktortitel erhalten, aber das ging damals nicht. Um in Deutschland eine Professur oder einen akademischen Titel zu bekommen, benötigt es auch eine Habilitation. In Japan konnte man damals mit einem Mastertitel eine akademische Stelle bekommen. Das hat sich übrigens inzwischen geändert: Heute benötigt man einen obligatorischen Doktortitel, um eine Stelle zu erhalten. Es ist also viel restriktiver geworden.

Meine DAAD Finanzierung endete nach zwei Jahren, was mich natürlich auch dazu zwang, wieder zurückzukehren. In Japan verbrachte ich die erste Zeit damit, eine akademische Stelle zu finden und gleichzeitig meine eigene Forschung zu betreiben. Heute wäre ein Doktortitel das erste, was ich angehen würde, aber damals war ich noch nicht so weit.

Während meiner Forschungstätigkeit bewarb ich mich auf viele offene Stellen, und schließlich bekam ich eine Stelle an der Meiji-Universität, die zu den renommiertesten Universitäten Japans gehört, mit den höchsten Standards in Lehre und Forschung. Ich bin mir sicher, dass mir meine Forschungsleistungen und meine Auslandserfahrung in Deutschland bei der Einstellung sehr geholfen haben.

Meinem Schwerpunkt, der Kritische Theorie, bin ich dabei immer treu geblieben. Um mein Wissen weiter zu vertiefen, habe ich mich nach ein paar Jahren entschieden, erneut nach Deutschland zu kommen.

Also kehrten Sie 2010, 10 Jahre später, an die Goethe-Universität zurück.

Ja, als Professor war ich zwei Jahre hier, um zu forschen, lesen, diskutieren, und schreiben. Ermöglicht hatte mir das ein Forschungsstipendium meiner Universität. Meine Frau und mein Sohn kamen mit – damals war mein zweites Kind noch nicht auf der Welt. Bevor wir heirateten hatte ich ihr tatsächlich bereits gesagt, dass ich eines Tages nach Deutschland zurückmuss, und sie gefragt, ob sie diese Bedingung akzeptieren konnte. Sie hat ja gesagt.

Mein Forschungsthema damals beschäftigte sich vornehmlich mit Anerkennungstheorie und der Anwendung von Sozialpathologie. Um es etwas genauer zu beschreiben: Axel Honneth, unter dem ich während meines ersten Aufenthalts studiert hatte, ist ein Spezialist auf dem Feld der Anerkennungstheorie, also der sozialen Anerkennung die jeder Mensch in der Gesellschaft erhält. Dabei habe ich mich darauf fokussiert, was fehlende Anerkennung auslöst. Hier gibt es eine Reihe an Möglichkeiten, von Leiden zu sozialen Problemen bis hin zur sozialen Pathologie. In unseren kapitalistischen Gesellschaften existieren verschiedene Ausprägungen dieser Pathologie auf unterschiedlichen Ebenen. Mein Schwerpunkt damals bestand darin, diese anhand von Honneths Anerkennungstheorie zu analysieren und zu kritisieren.

Sowohl Ihr vorheriger als auch Ihr jetziger Aufenthalt sind der Forschung gewidmet. Nutzen Sie diese Aufenthalte auch für den Austausch mit Studierenden?

Während meines vorherigen Aufenthalts in Frankfurt, also 2010-2012, war ich zugegebenermaßen weniger aktiv in diesem Bereich, auch weil andere Dinge pressierten, wie beispielsweise die engere Verzahnung zwischen meiner Hochschule in Japan und der Goethe-Universität. Darüber hinaus ist es im Fachbereich Philosophie nicht immer einfach, Studierende anzusprechen. Natürlich möchte ich noch viele heiße Diskussionen führen, aber ich bin etwas vorsichtiger in der direkten Ansprache.

Jetzt habe ich dank Prof. Michael Kinski aus der Japanologie ein Zimmer, was mir eine große Chance bietet, mit deutschen Studierenden ins Gespräch zu kommen und uns über Weltanschauungen auszutauschen. Deswegen halte ich einmal in der Woche für ungefähr zwei Stunden eine Austauschrunde, wo wir gemeinsam unterschiedliche Themen – politisch, philosophisch, … – diskutieren. Prof. Kinski bin ich übrigens nicht nur beruflich verpflichtet – er hat mir und meiner Familie auch geholfen, eine möblierte Wohnung in Frankfurt zu finden, und das ist wie wir alle wissen nicht einfach.

Auch wenn ich eher zurückhaltend bin, ist mir das Thema Austausch ein wichtiges. Deshalb bin ich besonders froh darüber, dass wir während meines zweiten Aufenthalts gemeinsam einen Austausch zwischen meiner Fakultät in Japan und der Japanologie an der Goethe-Universität beschlossen haben. Dieses Jahr sind je zwei Austauschstudierende aus den respektiven Universitäten an der jeweiligen Partnerinstitution. Dabei stammen die japanischen Studierenden aus allen möglichen Fachbereichen, während die deutschen Austauschstudierenden ausschließlich aus der Japanologie kommen.

Professor Shinya Miyamoto mit Studierenden
Auch wenn sich beim dritten Aufenthalt von Miyamoto Shinya vieles um Forschung dreht, findet er die Zeit, Studierende der Goethe-Universität, die einen Aufenthalt in Japan planen, zu unterstützen.

Was genau erforschen Sie gerade?

Während dieses Forschungsaufenthaltes stand ich in Kontakt mit Prof. Rainer Forst vom Forschungszentrum „Normative Ordnungen“ und Prof. Martin Saar von der Philosophischen Fakultät, um meine Kenntnisse über die aktuellen Diskussionen in der Kritischen Theorie zu erweitern, und besuchte ihre Kolloquien und Symposien. Dieses Mal habe ich drei Teilprojekte.

Das erste ist sehr theoretisch und beschäftigt sich mit der „Dialektik der Aufklärung“. Ich möchte die Debatten in Deutschland über dieses Thema neu verstehen und rekonstruieren. Da es so spezifisch ist, gehe ich lieber detaillierter auf die anderen beiden ein.

Das zweite Projekt ist für mich persönlich ganz besonders: Ich möchte eine Rezeptionsgeschichte über Kritische Theorie in Japan schreiben. Dazu muss ich ein bisschen ausholen. Ein Gründer der Kritischen Theorie ist bekanntermaßen Max Horkheimer. In der Kriegszeit schrieb der japanische Aktivist Osamu Kuno ihm einige Briefe, die seine eigenen philosophischen und politischen Gedanken darlegten. Laut seiner Autobiographie bat Kuno Horkheimer unter anderem um Erlaubnis, einige seiner Texte aus der Zeitschrift für Sozialforschung ins Japanische zu übersetzen. Aber dann kam der Krieg, und er erhielt nie eine Antwort. Japans militärische Niederlage und die verheerende Zerstörung des Landes hinterließen bei Kuno und vielen anderen eine tiefe Enttäuschung. Wie viele andere Forschende und auch Verleger in Japan fand er sich jedoch ermutigt durch die Veröffentlichung der Erklärung von acht herausragenden Sozialwissenschaftlern in der Juli 1948 Ausgabe des UNESCO Courier. Unter ihnen: Max Horkheimer. Die renommierten Forscher machten internationale Spannungen für den Krieg verantwortlich. In seiner Autobiographie schreibt Kuno, dass er sich aufgrund der Publikation ermutigt sah, aktiv in der durch den japanischen Wissenschaftsrat (nihon gakujutsu kaigi) neu geschaffenen „Forschungsgruppe für die Friedensfrage“ einzubringen.

Das Hauptthema, das den Wissenschaftsrat damals beschäftigte, war die Auseinandersetzung damit, dass sich Japans Forschungsinstitutionen während des Zweiten Weltkriegs aktiv am Krieg beteiligt hatten, sowie die Bemühungen, die Aufrechterhaltung des Friedens und der akademischen Freiheit neu zu beleben. Auf ihrer Plenarsitzung Ende 1948 debattierten die japanischen Forscher darüber, wie sie auf die UNESCO-Erklärung reagieren sollten. Im Rahmen des erwähnten „Forschungsgruppe für die Friedensfrage“ wurde schließlich im Januar 1949 eine Erklärung („A Statement by Scientists in Japan on the Problem of Peace“) in der liberalen japanischen Zeitschrift Sekai (Welt) veröffentlicht.

Es gibt viele solcher Geschichten in Japan, keine von ihnen komplett. Auch ist diese Korrespondenz bisher nicht bestätigt. Deswegen sichte ich jetzt die entsprechenden Korrespondenzarchive in der Universitätsbibliothek.

Auszug aus "Sekai: A Statement by Scientists in Japan on the Problem of Peace"
Das Ende des Zweiten Weltkriegs, die Vereinten Nationen und Max Horkheimer: Sie alle spielten laut Miyamoto Shinya eine Rolle in der Rezeptionsgeschichte von Kritischer Theorie in Japan. (Illustration: Sekai: A Statement by Scientists in Japan on the Problem of Peace)

Sie schauen also kritisch nochmal über die Geschichte der Kritischen Theorie in Japan?

Ja, in gewisser Weise kann man das sagen. Aber warum genau ist diese Geschichte wichtig? Leider – und hier kommt die Kritik – möchte die heutige japanische Regierung oder das Erziehungsministerium die Wissenschaftler*innen beeinflussen. Das betrifft alle Bereiche. So hat der japanische Wissenschaftsrat zum Beispiel seit Ende des Kriegs sehr starke Aussagen über die friedliche Nutzung von Kernenergie oder Wissenschaften gemacht. Unter jungen Wissenschaftler*innen, die sich mit Kritischer Theorie befassen, gibt es jedoch die Tendenz, die Verbindung zwischen Gesellschaftstheorie und Sozialkritik bzw. zwischen Sozialphilosophie und öffentlicher Kommunikation aufzulösen. Außerhalb der Akademie, verliert die Kritische Theorie in Japan ihre Bedeutung.

Wissen Sie ob Kunos Ideen Anklang in Deutschland gefunden haben?

In diesem Fall war es wohl eher einseitig. Tatsächlich hat Kuno lange nicht über seine Ideen geredet, und diese ausschließlich in Korrespondenz gefasst. Bisher habe ich leider keine Antwort von Max Horkheimer gefunden; ich glaube persönlich auch nicht, dass es eine gegeben hat.

Was ist das dritte Teilprojekt?

Mit diesem Projekt könnte ich während meines Aufenthalts fast fertig werden. In Japan gibt es eine legendäre Zeitschrift auf dem Gebiet der Philosophie, des Denkens und der Kunst, namens Shisō (Gedankenwelt). Seit einem Jahr arbeite ich mit den Herausgebern an einer Sonderausgabe anlässlich des 100-jährigen Bestehens des Instituts für Sozialforschung. Für diesen Band habe ich einen eigenen längeren Artikel beigesteuert, der die Geschichte des IfS skizziert, insbesondere die Forschungsprojekte im 21. Jahrhundert und einige der Veranstaltungen zum 100-jährigen Jubiläum. Auch japanischen Forscher*innen ist das Institut für Sozialforschung gut bekannt, ebenso wie die Geschichte der Frankfurter Schule, aber es ist nicht viel darüber bekannt, wie das IfS die zeitgenössische „Kritische Theorie“ konzipiert. Anhand eines Überblicks über die derzeit verfügbare Literatur habe ich die Aussichten für die künftige „Kritische Theorie“ kritisch untersucht. Die Ausgabe wird in Japan im Dezember erscheinen.

Ihre Arbeitsgruppe in der Japanologie bietet Orientierung für Studierende, die einen Austausch mit Japan anstreben. Nehmen Sie dabei die Rolle eines Botschafters ein?

Korrekt – das ist genau die Rolle, die ich während meines jetzigen Aufenthalts in Frankfurt wahrnehmen möchte. Dabei stehe ich allen Goethe-Universität Studierenden zur Verfügung, die nach Japan gehen wollen – egal ob an die Meiji Universität oder eine andere Hochschule. Natürlich unterstütze ich auch gerne Studierende anderer Einrichtungen, die einen Aufenthalt in Japan planen, nach den mir gegebenen Möglichkeiten.

Eine ehemalige Austauschstudentin, die aus der Japanologie kommend ein Semester bei uns an der Meiji Universität verbracht hatte, nimmt auch an den Diskussionen teil. Ihre Erfahrungsberichte sind natürlich für künftige Austauschstudierende äußerst wertvoll.

D.h. Sie schauen sich nicht nur an, wie der Ideenaustausch zwischen Deutschland und Japan unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs verlief – Sie bauen heute diesen Austausch weiter auf und aus.

Lassen Sie mich dazu noch ein paar Worte sagen.

Auch japanische Forschende und Studierende sind an der Debatte zwischen Soziologie und Philosophie in Deutschland interessiert. Allerdings gibt es zwei Probleme. Erstens scheint Deutschland für japanische Studierende in diesen Bereichen immer noch weit weg zu sein, oder besser gesagt, unter dem Druck der Arbeitswelt noch weiter weg. Zweitens gibt es immer noch eine starke Trennung zwischen Theorie und sozialer Praxis, zwischen Universität und Gesellschaft, und Diskussionen über Kultur, Gesellschaft und Geschichte sind in der öffentlichen Kommunikation verpönt. Viele meiner ehemaligen deutschen Studierenden haben nach ihrer Rückkehr aus Japan den Eindruck geäußert, dass ihre japanischen Kommilitonen nicht über Politik diskutieren, und ich denke, diese Tendenz ist auch hier zu beobachten.

Ich möchte interessierten Studierenden einen Anstoß geben, und Ihnen dabei helfen, bestehende Chancen wahrzunehmen – genauso wie das einst bei mir der Fall war. Wenn wir weiter voneinander lernen können wir gemeinsam dazu beitragen, unsere Gesellschaft zum Besseren zu verändern. Abgesehen davon bin ich der festen Überzeugung, dass Wissenschaftler*innen internationale Erfahrungen in anderen Kulturen und Ländern sammeln sollten und müssten – auch um sich selbst zu relativieren.

Haben Sie schon einen Ihrer eigenen Studierenden, also aus dem Bereich Kritische Theorie, in den Austausch mit der Goethe-Universität gebracht?

Tatsächlich war unter den bisherigen Austauschstudierenden niemand mit einem Schwerpunkt auf Kritische Theorie. Irgendwie ironisch, wenn ich es genauer betrachte. Austauschstudierende meiner Universität sind nicht auf mein Seminar beschränkt. Daher werden häufig Studierende der interkulturellen Kommunikation oder des Journalismus Austauschstudierende an der Goethe-Universität. Dessen unberührt halte ich es natürlich für wichtig, Studierenden, die ein anderes Forschungsthema wählen, die Perspektive der Kritischen Theorie zu vermitteln.

Was mich aber nur in meinen Plänen bestärkt, nach meiner Rückkehr die Kritische Theorie noch breiter und intensiver an meiner Universität zu bewerben. In meinen Seminaren lese ich natürlich die entsprechenden Texte mit meinen Studierenden. Aber meist beginnt die richtige theoretische Auseinandersetzung erst ab dem Master-Level.

Wie hat Ihr interdisziplinäres, japanisch-deutsches Studium der Kritischen Theorie Ihr Leben verändert?

Das ist eine sehr große Frage, die sich nicht so einfach beantworten lässt.

Spontan kann ich sagen, dass ich gelernt habe, verschiedene Perspektiven gleichzeitig einzunehmen, und dabei meine festgelegte Startposition zu reflektieren oder auch zu relativieren. Diese Art von Denkexperiment funktioniert natürlich nicht nur im theoretischen oder abstrakten Bereich – sie ist auch im Alltag anwendbar. Das ist für mich eine sehr wichtige Lehre von Kritischer Theorie – die Fähigkeit, eine Szene, einen Text, oder eine Begebenheit auf unterschiedlichen Niveaus zeitlich neu zu kontextualisieren, zu analysieren und ratifizieren. Vor allem scheint sie uns eine Möglichkeit gegeben zu haben, eine Perspektive unter vielen zu verstehen, die für Japan, das räumlich in Asien liegt und politisch und wirtschaftlich auf die USA ausgerichtet ist, besonders ist. Japaner*innen wird oft nachgesagt, sie seien kritikunwillig. Seit meinem ersten Auslandsaufenthalt bin ich jedoch der Meinung, dass wir irgendwie vermitteln müssen, dass ohne gesellschaftliche Kritik die von den Menschen gewünschten gesellschaftlichen Veränderungen nicht zustande kommen werden.

Haben Sie einen Lieblingsplatz auf dem Universitätscampus?

Tatsächlich liebe ich die große Wildwiese und der Übergang in den Grüneburgpark. Ich finde es toll, dass die Natur so einfach erreichbar ist.

Wenn ich nach innen gehen müsste, wäre einer meiner zwei Lieblingsplätze das Cafe in der Rotunde des IG-Farben-Haus, auch wenn es hier manchmal sehr laut ist. Hier habe ich über die Jahre schon viele Diskussionen geführt. Ansonsten fühle ich mich natürlich immer wohl unter Büchern, also in den Bibliotheken – auch wenn sich deren Namen über die Jahre immer wieder verändert hat.

Im März 2025 kehren Sie wieder nach Japan zurück. Fast forward 10 Jahre – sehen wir uns dann wieder?

Wer weiß? Aber es hat schon etwas von Regelmäßigkeit, wie eine Weltmeisterschaft oder ein Olympiaspiel.

Austausch mit Partneruniversitäten in Japan
Neben der Partnerschaft mit der Meiji-Universität gibt es auch weitere japanische Partneruniversitäten, mit denen die Goethe-Universität zusammenarbeitet. Neben der Doshida University in Kyoto gehört hier auch die Osaka University dazu. Neu ab 2025/26 sind zudem Austauschprogramme mit der Dokkyo University.

Die Bewerbungsfrist für die Japan-Programme läuft noch bis zum 4. Februar 2025. Mehr Informationen →

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