In Yucatáns Karsthöhlen lebt der Salzwasserkrebs Xibalbanus tulumensis. Über seine Biologie ist kaum etwas bekannt, denn er lebt sehr versteckt und ist zudem selten. Neue Erkenntnisse zeigen, dass er seine Beute mit einem Nervengift zur Strecke bringt, das großes Potenzial zur Entwicklung neuer Medikamente mitbringt. Ein Frankfurter Tiergiftforscher ist dem Krebstier auf der Spur.
Wenn Björn von Reumont nach Mexiko reist, wird er am Flughafen in der Regel eingehend kontrolliert. „Das liegt daran, dass ich jede Menge verdächtig wirkendes Equipment dabeihabe“, schmunzelt der Biologe. Denn auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán erforscht er eine exotisch anmutende Krebstier-Gruppe, deren Vertreter sich nur dort und an wenigen anderen Orten der Welt finden lassen. Angefangen hat alles am Forschungsmuseum Alexander König in Bonn, wo der Biologe eine Doktorarbeit über die Evolution von Krebsen angefertigt hat. „Damals habe ich Exemplare aus allen wichtigen Gruppen der Krebstiere gesammelt und untersucht“, erinnert sich von Reumont, der derzeit Gastwissenschaftler an der Goethe-Universität ist.
Dazu gehörten auch die Remipeden – Krebse, die heute ausschließlich im Salzwasserbereich von Unterwasserhöhlen in Mexiko, auf Cuba, den Bahamas, auf der Kanarischen Insel Lanzarote und in Westaustralien leben. Dieses Verbreitungsmuster stellt für die Wissenschaft ein Rätsel dar, wie der Forscher ausführt: „Möglicherweise leben die Tiere versteckt in der Tiefsee und können auf diesem Weg von einem Höhlensystem zum anderen gelangen.“ Zeigen konnte das bisher niemand.
Auch sonst liegt noch vieles über die Biologie der Remipeden-Krebse im Dunklen: Nicht nur leben sie an abgelegenen Orten, sodass man die wissenschaftliche Ausrüstung oft weite Strecken zu Fuß tragen muss. Man sollte auch tauchen können, wenn man die Tiere finden möchte. „Höhlentauchen ist nicht ungefährlich und sollte unbedingt richtig erlernt werden“, sagt von Reumont, der selbst wegen seiner Faszination für die Remipeden eine spezielle Tauchausbildung gemacht hat. Eine mitgeführte Orientierungsleine und Sicherungstaucher gehören zum Standard.
Leben in der Unterwelt
Knapp 20 Jahre ist es her, dass von Reumont an der Ostküste von Yucatán erstmals Vertreter der Remipeden-Art Xibalbanus tulumensis gesammelt hat. Typisch für die mexikanische Halbinsel ist ein Verbundsystem von Karsthöhlen, die mit Salzwasser und darüber geschichtetem Süßwasser gefüllt sind. Durch den Einsturz der Höhlendecke entstehen kraterförmige Öffnungen, die den Zugang zum Höhlensystem ermöglichen. Beides – die Höhlen und die Einsturzkrater – wird nach einem Begriff aus der Maya-Sprache als Cenoten bezeichnet. Den Maya waren die Höhlen heilig und sie vermuteten darin den Eingang zur Unterwelt. Ein Grund dafür: Die Cenoten stellen das einzige natürliche Trinkwasserreservoir Yucatáns dar.
Heute sind die Cenoten ein Anziehungspunkt für Touristen, was dieses empfindliche Ökosystem auf eine Belastungsprobe stellt. „Häufig werden Abwässer ungeklärt in die Cenoten eingeleitet, wo sie sich im Höhlensystem schnell ausbreiten“, erklärt von Reumont. Ein weiteres Problem wären Baumaßnahmen für Hotelanlagen oder die Zugverbindung „Tren Maya“, die die Halbinsel umrundet und auch ins Innere vordringt. „Wenn das empfindliche Ökosystem der Cenoten zerstört wird, verschwinden auch die Krebse, die in ihrer Biologie daran angepasst sind“, ist der Biologe überzeugt. Es sei deshalb nicht nur wichtig, die Cenoten zu schützen, sondern auch mehr über die Tiere und ihre Lebensweise herausfinden.
Erster Giftkrebs gefunden
Auffällig sind die Anpassungen an das Leben im dunklen Salzwasserbereich der Höhle: So besitzen Remipeden keine Augen und haben eine bleiche Haut. „Wie Krebse sehen sie überhaupt nicht aus, sondern eher wie etwa 3 bis 4 Zentimeter lange Hundertfüßer“, berichtet von Reumont. In seiner Doktorarbeit konnte er aber keine enge Verwandtschaft zeigen. Stattdessen gibt es wohl einen gemeinsamen Vorfahren mit den Insekten. „Wann und wie die Insekten aus den Remipeden hervorgegangen sind, wissen wir leider noch nicht“, bedauert der Forscher. Niemand weiß, wie sich die Krebstiere entwickeln, wie lange sie leben oder warum sie auf dem Rücken schwimmen. Selbst ihr Nahrungsspektrum ist noch unbekannt. Vermutlich nutzen sie ihren Geruchs- und Tastsinn, um kleinere Krebse wie Garnelen oder Borstenwürmer aufzuspüren. „Remipeden in der Dunkelheit bei der Jagd zu beobachten, ist technisch eine Herausforderung“, sagt der Höhlenforscher, der stattdessen eine Untersuchung des Mageninhalts anstrebt. Über das sogenannte Barcoding, das bestimmte Erbgutabschnitte analysiert, könnte er daraus die gefressenen Tierarten bestimmen.
Um zu verhindern, dass ein gefangenes Beutetier doch noch entwischt, nutzen die Remipeden einen Trick: Mit speziellen Kieferklauen injizieren sie ein Gift, das die Beute lähmt. Die Erforschung von Tiergiften ist inzwischen ein wesentliches Forschungsgebiet von Björn von Reumont. Dazu kam es allerdings durch Zufall, genauer durch den Tipp eines Kollegen. Von Reumont machte sich auf die Suche und fand tatsächlich Eiweiße, die aus anderen Tiergiften als Toxine beschrieben waren. Damit hatte er den ersten aktiv giftigen Vertreter der Krebstiere gefunden – wobei sich „aktiv“ darauf bezieht, dass die Tiere das Gift durch einen Giftapparat aktiv verabreichen.
Nervengift als Wirkstoffkandidat
In den folgenden Jahren studierte der Biologie, der inzwischen am Naturkundemuseum in London forschte, den Giftapparat von X. tulumensis und die Zusammensetzung seines Giftes mit modernsten Methoden wie Computertomographie sowie Transkriptom- und Proteomanalysen. Letztere zeigen, welche Giftbestandteile ein Tier herstellt. Deren genaue Charakterisierung musste allerdings warten, bis von Reumont erneut nach Yucatán reisen konnten, um weitere Exemplare des Höhlenkrebses zu sammeln. „Leider wissen wir zu wenig über die Lebensweise der Tiere, um sie im Labor zu halten“, bedauert der Forscher. Um das Gift zu gewinnen, muss man sie aufgrund ihrer geringen Größe in der Regel töten. „Dafür entnehme ich der Natur nur so wenig Tiere wie unbedingt nötig“, erklärt der Biologe, der immer eine offizielle Sammelgenehmigung des Gastlandes mit sich führt. Direkt vor Ort wird das benötigte Gewebe so vorbereitet, dass im Labor damit weitergearbeitet werden kann.
Bei X. tulumensis fand von Reumont einige neue Toxin-Familien, die nach ihrer Herkunft aus Xibalbanus tulumensis „Xibalbine“ genannt wurden. Eine davon ist durch ein Strukturelement charakterisiert, wie es vor allem von Nervengiften aus Spinnen bekannt ist. Da Nervengifte Ionenkanäle hemmen, die auch bei Säugetieren wichtige Aufgaben erfüllen, sind sie interessante Kandidaten für die Entwicklung neuer Medikamente – etwa gegen Schmerzen oder für die Behandlung von neurologischen Erkrankungen einschließlich der Epilepsie.
Einsatz in Aquakulturen
Um dieses Potenzial auszuloten, haben die Frankfurter Forscher die Wirkung der Xibalbine auf Säugerzellen getestet und damit bestätigt, dass es sich um Neurotoxine handelt. Dies sei aber erst der erste Schritt auf einem langen Weg zum Medikament, betont von Reumont. Für den Grundlagenforscher sind indes noch andere Fragen offen: „Für uns ist natürlich interessant, ob das Remipeden-Gift auch die natürliche Beute lähmt.“ Sollte das Remipeden-Gift wie erwartet gegen Krebstiere wirken, könnte man damit möglicherweise Parasiten wie Fischläuse in Aquakulturen bekämpfen. Das Vorkommen von Bestandteilen im Gift, die Teil der Außenhaut von Krebsen abbauen können, legt nahe, dass die Remipeden-Krebse ihre Beute verflüssigen und aussaugen – analog zu Spinnen.
Für den Evolutionsbiologen spannend ist die Frage, wie und wann die Gene für die Giftproteine entstanden sind. Dies ist für die meisten Gifttiere noch ungeklärt und erfordert Analysen ihres Erbguts. „Gerade das Genom von X. tulumensis ist von Bedeutung, um die Evolution von Giften in Krebsen, vor allem aber auch den nächst verwandten Insekten besser zu beleuchten“, sagt der Forscher. Mit seiner ehemaligen Gruppe „Tiergifte“ im LOEWE-Zentrum Translationale Biodiversitätsgenomik der Justus-Liebig-Universität in Gießen sowie Kollegen von Senckenberg Frankfurt konnte er dieses Genom bereits entschlüsseln. Die nächsten Studien wird von Reumont von Karlsruhe aus durchführen, denn am dortigen Naturkundemuseum leitet er ab Januar das Referat Insektenkunde. „Ich möchte auf jeden Fall noch einmal nach Yucatán zurückkehren und dort Remipeden, aber auch ihre potenziellen Beutetiere sammeln. Es gibt inzwischen viele neue Methoden, mit denen man die Toxine detaillierter und ohne viele Tiere zu töten untersuchen könnte.“ Ein Grund, um an das alte Netzwerk anzuknüpfen und wertvolle Kontakte wieder aufleben zu lassen.
Larissa Tetsch