„Politische Bildung ist höchst relevant für eine funktionsfähige und lebendige Demokratie“

Die Politikwissenschaftlerin Prof. Monika Oberle war an dem Verbundprojekt „Pilotmonitor politische Bildung“ beteiligt und erläutert im Gespräch mit dem UniReport die wichtigsten Erkenntnisse der Studie.

Monika Oberle. © privat

UniReport: Frau Oberle, der Begriff „Politische Bildung“ ist in diesen bewegten Zeiten einer, über den diskutiert und gestritten wird – heftiger als vor einigen Dekaden. Kann man sich als Wissenschaftlerin (auch) über eine solche Diskursrelevanz freuen? Oder droht auch eine Überfrachtung des Begriffs und des Lernfeldes, wenn es zum Beispiel darum geht, Demokratie zu vermitteln und einzuüben?

Monika Oberle: Als Bürgerin kann ich mich nicht freuen, in welchem Ausmaß die freiheitliche Demokratie heute von innen und außen unter Druck steht. In der Tat werden in diesen Zeiten auch Rufe nach politischer Bildung lauter. Politische Bildung ist jedoch keine Feuerwehr, die eine prekäre Demokratie alleine, und am besten kurzfristig, retten kann. Das wäre eine Überfrachtung der Erwartungen. Zugleich ist politische Bildung höchst relevant für eine funktionsfähige und lebendige Demokratie. Interventionsstudien zeigen beispielsweise Effekte politischer Bildungsmaßnahmen, die durch andere Sozialisationsinstanzen wie das familiäre Umfeld bedingte Ungleichheiten in politischen Kompetenzen ausgleichen können. Insofern ist es entscheidend, den von Ihnen skizzierten Diskurs in politisches Handeln zu überführen und die formale und non-formale politische Bildung langfristig mit angemessenen Ressourcen zu unterfüttern und auch wissenschaftlich zu begleiten.

Lassen sich die Ergebnisse des Pilotmonitors auf einen Nenner bringen, im Sinne von: Wie steht es um die Politische Bildung in Deutschland?

Der Pilotmonitor politische Bildung steht zum freien Download bereit unter https://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/561272/pilotmonitor-politische-bildung/?global=true&global-format-main=all&global-year=all&cc-license=all

Es gibt große Diskrepanzen, in welchem Umfang und in welcher Qualität Menschen in Deutschland heute politische Bildung erfahren. Dies variiert im Bildungsförderalismus nicht nur nach Bundesländern, sondern leider auch nach sozialer Herkunft. So findet sich an nicht-gymnasialen Schulformen beispielsweise ein deutlich geringerer Anteil an Politikunterricht, der von fachlich ausgebildeten Lehrkräften unterrichtet wird. Und auch in der non-formalen politischen Jugend- und Erwachsenenbildung, die überwiegend auf freiwillige Teilnahme setzt, werden oftmals vorab politisch Interessierte adressiert und Menschen mit niedrigerem Bildungsabschluss weniger erreicht. Von Egalität im Bereich politischer Bildung sind wir in Deutschland damit noch weit entfernt.

Das Fach Politik wird oft fachfremd unterrichtet – die Lehrenden sind dafür eigentlich nicht ausgebildet. Ist das grundsätzlich ein Problem? Bringen Lehrende aus anderen Fächern nicht auch wertvolle Erfahrungen ein? Wenn Politik auch in Fächern wie beispielsweise Mathematik oder im Fremdsprachenunterricht thematisiert werden soll, wie Sie vorgeschlagen haben, heißt das doch auch, dass der/die Lehrende nicht ursprünglich Politik studiert haben muss?

Zum einen müssen auch Lehrkräfte anderer Fächer für die Umsetzung politischer Bildung in ihrem Unterricht professionalisiert werden – die Integration von Fragen der politischen Bildung und Demokratiebildung in die Aus- und Fortbildung aller Lehrkräfte ist derzeit an vielen Hochschulen und Schulen noch ein Desiderat. Zum anderen kann ein Deutsch- oder Matheunterricht den politischen Fachunterricht nur ergänzen, aber keinesfalls ersetzen – hier ist der Raum, sich vertieft mit Politik in ihren drei Dimensionen Polity (Form), Politics (Prozess) und Policy (Inhalt) sowie mit Demokratie als Herrschaftsform auseinanderzusetzen, hier können die Urteils- und Handlungsfähigkeiten der Schüler*innen bezüglich der Herbeiführung allgemein verbindlicher Entscheidungen systematisch gefördert werden. Entscheidend für einen qualitätsvollen Politikunterricht ist allerdings, dass die unterrichtenden Lehrkräfte hierfür fachwissenschaftlich und fachdidaktisch angemessen qualifiziert sind. Der Anteil fachfremd erteilten Politikunterrichts, der beispielsweise in NRW von 25 % an Gymnasien bis zu 60 % und mehr an Realschulen und Hauptschulen reicht, ist nicht hinnehmbar.

Ein großer Streitpunkt in der öffentlichen Debatte ist die Frage, ob und wie neutral sich Lehrende im Unterricht zu verhalten haben. Wie würden Sie die Rolle der Lehrenden definieren – moderierend, korrigierend, beobachtend?

Ein Neutralitätsgebot für Lehrpersonen in der politischen Bildung existiert nicht. Staatlich verantwortete politische Bildung hat einen klaren Wertebezug. Sie orientiert sich an den Grundwerten unserer freiheitlichen Demokratie: Achtung der Menschenwürde, Demokratieprinzip und Rechtsstaatlichkeit. Auch müssen Lehrende ihren eigenen politischen Standpunkt nicht verbergen – es gibt gute Argumente für dessen Offenlegung (wie Authentizität, Vorbildfunktion als politischer Mensch sowie Verhinderung einer subtilen Überwältigung), doch die Bildungsveranstaltung muss in jedem Fall so gestaltet sein, dass sie Kontroversen multiperspektivisch behandelt, die eigenständige Urteilsbildung der Lernenden fördert und diese nicht „überwältigt“ beziehungsweise indoktriniert. Der Umgang mit dem Grundwertebezug und dem Kontroversitätsgebot politischer Bildung ist manchmal eine Gratwanderung. Doch auch Graubereiche können transparent und kognitiv aktivierend problematisiert werden.

Bildungsinstitutionen sind Orte, an denen Politik nicht nur gelehrt, sondern auch gelebt werden sollte. Wie lautet da Ihre Einschätzung, was sind die Defizite und Herausforderungen?

Gerade an nicht-gymnasialen Schulformen, die in Deutschland weiterhin eher Kinder und Jugendliche aus sozioökonomisch schlechter gestellten Elternhäusern frequentieren, wird in Schule und Unterricht weniger Demokratie gelebt beziehungsweise weniger Partizipation umgesetzt. Viel hängt hier nicht nur von rechtlichen Rahmenbedingungen, sondern von der einzelnen Schulleitung und dem Kollegium ab. Daher ist es so wichtig, das Thema „Demokratiebildung als Schulauftrag“ auch in der Aus- und Fortbildung von Schulleitungen besser zu verankern und von best practices zu lernen. Wertvolle Impulse können hier auch außerschulische Akteure der politischen Bildung bieten, die ihre Angebote in einem Peer-to-Peer-Ansatz speziell an Schülervertretungen und andere Interessierte richten. Eine wichtige Bedingung für Partizipation ist allerdings auch, seitens der Bildungsinstitution echte Mitbestimmung zu ermöglichen. Wenn der persönliche Aufwand, sich freiwillig zu engagieren, strukturell ins Leere läuft, führt das natürlich zu Frustration.

Was sind auf dem Feld der außerschulischen Bildung die spezifischen Herausforderungen, was unterscheidet das Feld von den anderen? Wo findet politische Bildung im außerschulischen Feld überhaupt statt?

Das Feld der non-formalen politischen Bildung ist von einer großen Vielfalt an Trägern und Formaten gekennzeichnet. Prozesse der politischen Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildung können sich lebenslang vollziehen, in Jugendbildungsstätten und Volkshochschulen, in Theatern und Museen, aber auch im Betrieb, im digitalen Raum und an weiteren Orten des Alltags in Form von aufsuchender politischer Bildung. Die Teilnahme an Angeboten erfolgt meist freiwillig, was besondere Chancen (zum Beispiel Motivation, Offenheit), aber auch Herausforderungen („preaching to the choir“) mit sich bringt.

Für ein Monitoring liegen Herausforderungen des Feldes in der enormen Heterogenität vorliegender Daten sowie in weitreichenden Datenlücken. Dies erschwert Vergleiche zwischen Trägern, Regionen und im Zeitverlauf sowie das Ableiten allgemeingültiger Aussagen. Daher haben wir im Pilotmonitor nicht nur vorhandene Daten zu ausgewählten Kernakteuren und öffentlichen Finanzierungsströmen aufbereitet, sondern auch eigens eine trägerübergreifende standardisierte Befragung durchgeführt und repräsentative Bevölkerungsdaten erhoben.

In einem anderen Projekt von Ihnen geht es darum, Politiklehrkräfte zu Demokratiebildung und Radikalisierungsprävention zu befähigen –Antisemitismus als phänomenübergreifendes Brückennarrativ (PolRapLi-III). Was sind da die Erkenntnisse auf einem ohnehin schwierigen Feld, das durch den Krieg in Nahost an Brisanz zugelegt haben dürfte?

Politiklehrkräfte begegnen in diesen polarisierten Zeiten, in denen Desinformation und Verschwörungstheorien – nicht zuletzt in sozialen Medien – Konjunktur haben und die Auseinandersetzung mit Kriegen und „Krisen“ hochemotional erfolgt, auch im Unterricht großen Herausforderungen. Hier geht es in Anknüpfung an die Lebenswelt der Schüler*innen um die Förderung von Sachorientierung, Perspektivenübernahme und Diskursfähigkeit, um die Klärung von Grundwerten und die Auseinandersetzung mit Wertekonflikten, und nicht zuletzt auch um Ambiguitätstoleranz. Die neu entwickelte Fortbildung zu Antisemitismus als phänomenübergreifendes Brückennarrativ, das antidemokratische Strömungen ganz unterschiedlicher politischer Couleur befeuert, wird im Sommer erstmals erprobt, systematisch begleitend beforscht und evidenzbasiert weiterentwickelt. Die Ergebnisse unserer aktuellen Online-Befragung hessischer und niedersächsischer Politiklehrkräfte unterstreichen den großen Bedarf nach Fortbildungen zu dieser Thematik.

Das von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) geförderte Verbundprojekt »Machbarkeitsstudie Monitor Politische Bildung« wird seit 2021 unter gemeinsamer Leitung von Prof. Dr. Hermann Josef Abs (Universität Duisburg-Essen), Prof. Dr. Tim Engartner (Universität zu Köln), Prof. Dr. Reinhold Hedtke (Universität Bielefeld) und Prof. Dr. Monika Oberle (Goethe-Universität Frankfurt am Main) durchgeführt.

Der Pilotmonitor politische Bildung steht zum freien Download bereit →

Relevante Artikel

Prof. Cornelia Storz erhält vom Generalkonsul Takeshi Ito den Orden.

Cornelia Storz erhält Orden

Am 12. Juni 2025 hat die japanische Regierung den Kaiserlichen Orden der Aufgehenden Sonne am Halsband – Goldene Strahlen an

Einblick in die Veranstaltung QBZ3: Schmerzmedizin.

Querschnittsdenken in der Zahnmedizin

Neue Wege in Lehre und Praxis Mit der neuen zahnärztlichen Approbationsordnung (ZApprO) verändert sich die Ausbildung an deutschen Universitäten grundlegend.

Öffentliche Veranstaltungen
Kind auf einem Roller © Irina WS / Shutterstock

Wie junge Menschen unterwegs sein möchten

Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt fördert Nachwuchsgruppe CoFoKids an der Goethe-Universität „Von der ‚Generation Rücksitz‘ zu den Vorreitern der

You cannot copy content of this page