Von Künstlicher Intelligenz bis zu Rechtspopulismus: Begleitveranstaltungen zu 100 Jahre Soziologie an der Goethe-Universität.
Am 1. April vor 100 Jahren wurde der erste Lehrstuhl für Soziologie eingerichtet, am 1. Oktober 1919 trat Franz Oppenheimer seine Stelle als Professor an. Grund genug, die Feierlichkeiten auszudehnen und neben dem Sommersemester 2019 auch das Wintersemester 2019/20 für das Jubiläum vorzusehen. Auch im Wintersemester wird es neben der Vortragsreihe ein umfangreiches Angebot an Begleitveranstaltungen geben.
Die Begleitveranstaltungen sollen die Relevanz der Soziologie für Wissenschaft und Gesellschaft unterstreichen – die Soziologie gibt mithin irritierende Antworten auf drängende Fragen der Zeit. Mit aktuellen Fragen im Bereich Künstlicher Intelligenz und sozialer Robotik wird sich das international ausgerichtete Symposium „Diffracting AI and Robotics: Decolonial and Feminist Perspectives“ am 12. und 13. Oktober 2019 beschäftigen.
Wie kann Künstliche Intelligenz und wie können Roboter jenseits vergeschlechtlichter und rassialisierter Stereotype gedacht werden? Wie formen kulturelle Kontexte Narrative über die KI und autonome Maschinen? Wie lassen sich Diversität und Gerechtigkeit in Code und Maschinen programmieren? Und was bedeutet es, eine diverse und inklusive KI zu entwickeln?
Das zweitägige Symposium zielt darauf ab, die Diskurse um die KI und autonome Roboter aus dem engen Bereich der Informatik und Ethik herauszulösen und in einem kritisch interdisziplinären Kontext zur Debatte zu stellen. Im Rahmen einer fokussierten Auseinandersetzung mit aktuellen Entwicklungen in der KI und Robotik soll dabei nicht zuletzt die Frage nach konkreten Möglichkeiten für gesellschaftliche Interventionen in gegenwärtige und zukünftige technische Entwicklungen ins Zentrum gerückt werden.
Das gemeinsam mit Forscher*innen der TU Berlin und Universität Wien organisierte Symposium wird zusätzlich einen Workshop anbieten, bei dem vor allem Nachwuchswissenschaftler*innen die Möglichkeit gegeben werden soll, ihre Qualifikationsarbeiten und Forschungsprojekte gemeinsam mit Expert*innen im Feld zu besprechen.
Rechtspopulismus in Brasilien
Mit dem Erstarken des Rechtspopulismus befassen sich Soziolog*innen, in kritischer Tradition, insbesondere seit dem Wahlsieg von Donald Trump. Beim Rechtspopulismus handelt es sich um ein verbreitetes, ja weltweites Phänomen. Als autoritäre und reaktionäre Bewegung richtet sich der Rechtspopulismus dabei interessanterweise immer einerseits gegen Flüchtlinge (als nationale Zumutung) und andererseits gegen den menschengemachten Klimawandel (im Namen agro-/industrieller Geschäftsmodelle).
Um derlei wider bessere Gesetze und besseres Wissens durchzusetzen, greift der Rechtspopulismus die demokratische Gewaltenteilung an: hier die Autonomie der Justiz, des Kulturbetriebs und der Wissenschaft. Ein wichtiger Termin im Begleitprogramm ist aufgrund dieser Entwicklungen auch in Europa der öffentliche Vortrag von Prof. Jessé de Souza. Er untersucht den Rechtspopulismus in Brasilien mit Blick auf die sozial- wie umweltpolitischen Folgen. Sein Vortrag am 13. November wird die dortigen Entwicklungen soziologisch einordnen und erklären, wie sich die Gesellschaft – etwa auch der Status der Indigenen – unter der neuen Präsidentschaft verändert.
Eine enge Kooperation verbindet das Institut für Soziologie mit dem Institut für Sozialforschung. Mit ihrem Workshop „Normativität und Kritik in der Feldforschung“ wollen die Veranstalter*innen über die Bedeutung der qualitativen Sozialforschung für die Sozial- und Gesellschaftskritik diskutieren. Der am 12. und 13. Dezember 2019 am Institut für Sozialforschung stattfindende Workshop wird von Mitgliedern beider Institute ausgerichtet.
Das Augenmerk richtet sich auf in Frankfurt stark vertretene qualitative Forschungsweisen und deren kritische Potenziale. Anhand verschiedenen qualitativen Schulen, von der Ethnografie über die Hermeneutik bis hin zur Ethnomethodologie, soll der Frage nachgegangen werden, wie hier Kritik angelegt wird und welche Rolle dabei Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie spielen. Auf der Tagung sind drei Sessions vorgesehen, an denen aktuelle wie ehemalige Mitglieder des Instituts (u. a. Vera King, Thomas Scheffer, Vanessa Thompson, Sabine Flick sowie Ursula Apitzsch und Ulrich Oevermann) Fragen der Normativität, der Kapitalismuskritik oder der kritischen Methodologie diskutieren.
Ein öffentlicher Vortrag von Robin Celikates ist für den 12. Dezember 2019 vorgesehen. Eine Anmeldung für den Workshop ist unter der E-Mail-Adresse normativitaet. kritik@gmail.com möglich. Ihr Verständnis der Soziologie als eine Instanz der kritischen gesellschaftlichen Selbstreflexion hat die Frankfurter Soziologie weltweit bekannt gemacht. Die Arbeitsgruppe „Kritische Soziologie“ setzt sich mit Blick auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen – etwa in der Arbeitswelt oder in den Naturverhältnissen – mit der kritischen Tradition auseinander.
In einer neuerlichen Vortragsreihe treffen die Frankfurter Soziolog*innen mit nationalen und internationalen Kolleg*innen aufeinander und diskutieren „Gegenstände der Kritik“. Die Vorträge versuchen die Frankfurter Tradition kritischer Theoriebildung zu (re-)aktualisieren und fortzuentwickeln. Die Teilnehmer*innen sind außerdem aufgefordert, weitere Spielarten kritischer Soziologie, sei es nun herrschafts- und machtkritische oder praxis- bzw. diskurstheoretische Theorieanbindungen empirisch auszuloten.
Im Wintersemester wird es fünf Vorträge geben: von Andrew Sayer (Lancaster University/ UK), der sich mit Fragen eines kritischen Realismus auseinandersetzt, von Emmanuel Renault (Paris X-Nanterre/F), der zu Marxismus und Pragmatismus forscht, sowie von ehemaligen und aktuellen Mitgliedern des Instituts für Soziologie, etwa Katharina Hoppe, die sich mit einer postanthropozentrischen Soziologie beschäftigt, Christine Resch, die Theodor W. Adornos Fortschrittsbegriff aktualisieren wird, und Jan Sparsam, der das Verhältnis von soziologischem und ökonomischem Denken untersucht.
Rückblick
Anfang 2020 folgt ein historischer Rückblick auf die Frankfurter Soziologie im Vortrag von Dr. Dirk Braunstein und Dr. Fabian Link: „Die Soziologie an der Goethe-Universität im Nationalsozialismus.“ In der Forschungsliteratur wird oftmals konstatiert, die Soziologie als reformorientierte und tendenziell linke Wissenschaft habe in Deutschland nach dem Machtwechsel 1933 einen Niedergang erfahren. Tatsächlich gingen zahlreiche, oftmals jüdische und linke Soziologen nach 1933 ins Exil.
Das NS-Regime ließ nur noch Soziolog*innen zu, die eine völkisch ausgerichtete „deutsche Soziologie“ vertraten. Dieses gilt insbesondere für die Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt, die in der Weimarer Republik als linke und liberale Hochschule bekannt war. Im Vortrag soll aufgezeigt werden, wie sich die Frankfurter Soziologie in zwei Richtungen wandelte: Zum einen hatte der Weggang zahlreicher Soziologen einen Zugang meist junger regimekonformer Akteure bewirkt, womit eine völkische Ausrichtung der soziologischen Inhalte einherging.
Zum anderen ist ab den späten 1930er Jahren eine stärkere Ausrichtung auch der Frankfurter Soziologie auf eine angewandte empirische Sozialforschung zu verzeichnen, die soziologische Expertisen für die von den Nationalsozialisten angestrebte demografische Neuordnung Europas erstellte. Der Vortrag findet am 22. Januar 2020 um 19 Uhr im Renate-von-Metzler-Saal statt. Eine englischsprachige Vortragsreihe findet im Rahmen des InFER Colloquiums über das ganze Wintersemester statt.
Zu den regelmäßigen Terminen werden aktuelle Arbeiten und Forschungen aus dem Bereich der empirisch- analytischen Sozialforschung vorgestellt und diskutiert. Gastvorträge von nationalen und internationalen Forscher*innen geben einen umfassenden Einblick insbesondere in die Meinungsforschung, die demografische Forschung sowie, verstärkt, in Fragen zur Analyse der sogenannten „Big Data“.
Heike Langholz
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 5.19 des UniReport erschienen.