50. Band der Reihe „Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters“ erschienen

Matthias Lutz-Bachmann, Professor für Philosophie an der Goethe-Universität und Mitherausgeber der Reihe, über die Bedeutung von Mehrsprachigkeit, den wichtigen kulturellen Austausch zwischen Orient und Okzidenz und die Philosophie Aristoteles‘, die im Zentrum des 50. Bandes steht.

UniReport: Herr Professor Lutz-Bachmann, 50 Bände sind eine gewaltige Zahl. Ganz persönlich gefragt: An welchen Band erinnern Sie sich besonders gerne, welches Buch hat Sie geprägt, beeindruckt? Oder andersrum gefragt: Können Sie Einsteiger*innen eines ans Herz legen?

Prof. Matthias Lutz-Bachmann. Foto: Dettmar

Matthias Lutz-Bachmann: Beeindruckt haben mich die Ernsthaftigkeit und Offenheit der „Religionsgespräche“ von Gilbert Crispin im 11. Jahrhundert, mit denen wir als dem 1. Band unsere gesamte „Bibliothek der Philosophie des Mittelalters“ im Jahr 2005 eröffnet haben; gerne erinnere ich mich an Texte in arabischer oder hebräischer Sprache, die ich ohne die sachkundige Übersetzung unserer Bibliothek als Philosoph, der in modernen Debatten steht, niemals hätte lesen können; und prägend beeinflussen können mich Texte von Johannes Duns Scotus oder Franciscus de Mayronis, deren lateinische Originalsprache ohne die Hilfe einer deutschen Übersetzung für uns heutige Leser nicht einfach zu verstehen sind. Einsteiger*innen ans Herz legen kann ich tatsächlich alle Bände unserer Bibliothek; denn alle unsere Textausgaben enthalten Einführungen und Literaturangaben, die zum Eigenstudium, zur eigenständigen Vertiefung von Einsichten führen sollen. In diesem Zusammenhang haben sich in besonderer Weise als hilfreich die Übersetzungen von ausgewählten Texten des Thomas von Aquin erwiesen; denn unsere Bibliothek weist hier einen besonderen Schwerpunkt in der Kommentarliteratur von Thomas zur antiken Philosophie wie Aristoteles oder Boethius auf, wie jetzt auch wieder am 50. Band sichtbar wird, den ein hervorragender Kenner übersetzt hat, nämlich Ruedi Imbach.

Das Projekt der „Bibliothek der Philosophie des Mittelalters“, angesiedelt am Institut für Philosophie der Goethe-Universität, ist aus dem früheren SFB 435 („Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“, Sprecher: Johannes Fried, Ko-Sprecher: Moritz Epple und Matthias Lutz-Bachmann) hervorgegangen.

Die Mehrsprachigkeit stellt ja ein besonderes Merkmal der Reihe dar. Haben denn die lateinische, arabische und hebräische Sprache in der vor allem von Anglizismen geprägten modernen Welt noch eine Chance?

Gerade in einer Zeit, in der als einzige globale Wissenschaftssprache das Englische übriggeblieben ist, ist es notwendig, die wissenschaftlich interessierten Leserinnen und Leser zu der Originalsprache zurückzuführen; denn jede Übersetzung nimmt einen Eingriff, eine Veränderung am Originaltext vor. Wenn wir aber korrekt verstehen wollen, was uns die Texte früherer Epochen und Sprachen sagen wollen, dann müssen wir – das ist ein Gebot der Wissenschaft – zur Originalsprache zurückgehen. Und hier setzt unser Programm an: Wir bieten Übersetzungen und Einführungen, die den heutigen Leserinnen und Lesern den Weg zu einem authentischen Textverstehen wieder eröffnen.

Das Denken der Gegenwart ist vielleicht stärker als früher davon geprägt, den Blick über den Tellerrand zu wagen und sich von westlich zentrierten oder gar eurozentristischen Sichtweisen zu lösen. Kann eine solche Reihe auf neue Herausforderungen reagieren und solche Impulse aufnehmen?

Was wir hier als die intellektuelle Welt „des Mittelalters“ in Gestalt zentraler Texte als Bibliothek vorlegen, ist alles andere als „eurozentrisch“ verengt. Wir machen im Gegenteil Ernst mit dem Plan, die wichtigsten Konzepte von Philosophie und deren Auseinandersetzung mit anderen Wissenschaften vorzustellen, die in der Zeit zwischen dem 8. und 16. Jahrhundert „rund um das Mittelmeer“, also auch im heute so genannten Nahen Osten oder Nordafrika vertreten wurden – und vor allem, was die „lateinische Welt“ des Westens aus der antiken Philosophie und aus dem lebendigen Austausch mit dem Denken in anderen Traditionen gelernt hat: Das wird daran sichtbar, dass wir in unseren Textausgaben arabische und hebräische Quellen, aber auch judäo-arabische oder syrische Texte mit ihren modernen Übersetzungen in die deutsche Sprache vorlegen. Dies öffnet für uns die Horizonte für die Debatten, die beginnend mit der Spätantike in der gesamten Epoche geführt wurden, die wir heute mit dem wissenschaftlich nicht präzisen Behelfsausdruck des „Mittelalters“ beschreiben. Das Zeitalter des europäischen Kolonialismus beginnt erst nach dem Ende dessen, was wir als das Mittelalter bezeichnen. Lateinische Autoren wie Albert der Große, Thomas von Aquin oder Wilhelm von Ockham haben stets nur voller Hochachtung die Texte der arabischen Tradition gelesen. Eine wissenschaftliche Überheblichkeit des Westens gegenüber „dem Rest der Welt“, also der kolonialistische Blick auf die Welt „der Anderen“ war ihnen fremd.

Können Sie uns noch einen Ausblick geben: Welche Autorinnen und Autoren, welche Themen werden künftig noch im Fokus stehen, wo klaffen noch Lücken?

Wir setzen noch in diesem Jahr mit weiteren wichtigen Bänden unsere Bibliothek fort: Band 51 bringt einen Schlüsseltext von Thomas von Aquin zur Gewissensfreiheit des Menschen, der das Programm eines modernen Freiheitskonzepts vorbereitet. Band 52 bringt mit einem zentralen Text von Bonaventura die Tradition des mittelalterlichen Neuplatonismus zur Sprache, die in unserer „Bibliothek der Philosophie des Mittelalters“ bisher deutlich zu kurz gekommen ist. Mit Texten von Ibn-Bagga, al-Ghazali und erneut Avicenna legen wir weitere wichtige Beiträge zur arabischen Philosophie und Theologie der Epoche vor, mit Barhadbesabba von Halwan eine wichtige Stimme der vor-arabischen syrischen Philosophie, mit Peter Abaelard einen zentralen Beitrag zur Geschichte der Logik sowie mit John Mair und Philipp den Kanzler wichtige, bisher viel zu wenig beachtete Autoren des lateinischen Spätmittelalters. Das sind unsere Pläne für die nächsten Bände, die z.T. bereits bald ausgeliefert werden können.

In diesen Tagen erscheint der 50. Band der Reihe. Auch wenn sich das hier wohl kaum in Kürze beantworten lässt: Worin liegt die Bedeutung der Aristotelischen Metaphysik für die abendländische Philosophie, worin die Kommentare des Thomas von Aquin?

Der 50. Band

Die Philosophie des Platon-Schülers und prominenten Platon-Kritikers Aristoteles stellt so etwas wie eine „Hochform“ philosophischen Denkens dar. Jede Auseinandersetzung mit der Frage, was die Aufgaben der Philosophie als Wissenschaft – auch und gerade im Gegenüber zu den anderen theoretischen und praktischen Wissenschaften – ausmacht, kommt bis zum heutigen Tag nicht an einer Auseinandersetzung mit Aristoteles vorbei. Das macht in der Zeit der Universitäten des 13. Jahrhunderts auf seine Weise Thomas von Aquin, der gerade in seinen Aristoteles-Kommentaren stark auf Avicenna und vor allem Averroes zurückgreift. Wenn wir diese dynamischen Debatten, die intellektuelle Brisanz und wissenschaftliche Relevanz dieser Texte heute richtig begreifen lernen, dann können wir hieraus wichtige Impulse für unsere zeitgenössische Diskussion über die Rolle und die Aufgaben der Philosophie in der modernen Welt der Wissenschaften und der Gesellschaft gewinnen – einer Welt, die kommunikativ immer mehr zusammenwächst und in der sich auf bedrängende Weise die Fragen nach Rationalität, Wahrheit und Gerechtigkeit stellen. Aristoteles und auch sein Kritiker Thomas von Aquin stellen uns hier bis heute wichtige Fragen, auf die wir in den Wissenschaften, aber vor allem in der Philosophie versuchen, begründete Antworten zu geben.

Fragen: Dirk Frank

Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 4/2021 (PDF) des UniReport erschienen.

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