Aufgelesen

Stirbt eine Sprache, gehen Perspektiven verloren

Caleb Everett
1000 Sprachen – 1000 Welten.
Wie sprachliche Vielfalt unser
Menschsein prägt
Frankfurt am Main,
Westend Verlag 2025,
ISBN 9783864894817,
gebunden, 320 Seiten, 26 Euro

Im Zuge der Globalisierung drängt die Menschheit zunehmend in dieselbe sprachliche Richtung, was das Aussterben von Sprachen mit sich bringt. Die globale Vereinheitlichung wird vor allem im Westen durchaus als Fortschritt gesehen. In seinem Buch »1000 Sprachen – 1000 Welten« erklärt der US-amerikanische Kognitions­forscher Caleb Everett (Universität Miami) anschaulich, wie Sprache den jeweiligen Blick einer Sprachgemeinschaft auf die Welt ausdrückt und weshalb der Erhalt sprachlicher Vielfalt für die kulturelle Vielfalt auf der Erde so wichtig ist.

Everett nimmt seine Leserinnen und Leser mit auf eine Reise durch verschiedene Themenbereiche, etwa den der Sinneseindrücke oder des Bereichs Zeit und Raum, und erklärt anhand von Beispielen aus verschiedenen Sprachen Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Weltsicht der entsprechenden Sprachgemeinschaften. Am Ende jedes Kapitels kommt er zu einer Schlussfolgerung, dabei vergleicht er häufig kleinere Kulturen mit den »WEIRD-Gesellschaften« (Western, Educated, Industrialized, Rich, Democratic). Die westliche Rezensentin hat dabei mehr als ein Aha-Erlebnis.

Sprache hängt eng damit zusammen, wie Menschen denken, wie sie zählen, wie sie sich im Raum orientieren – und wie sie ihre Beziehung zur Natur verstehen. Everett zeigt dies zum Beispiel anhand indigener Sprachen im Amazonasgebiet, die keine abstrakten Zahlwörter kennen. Und auch, wenn in diesen Gemeinschaften nicht gezählt wird wie bei uns – Alltag und Handel funktionieren nicht weniger gut, nur eben anders.

Auch räumliche Orientierung wird je nach Sprache unterschiedlich gedacht: Während wir Begriffe wie »rechts« und »links« haben, die etwas in Bezug zur eigenen Perspektive und zu einem anderen Punkt im Raum verorten, orientiert sich die Sprachgemeinschaft des australischen Guugu Yimithirr ausschließlich an Himmelsrichtungen – selbst in geschlossenen Räumen. Dieser ständige Bezug zur geographischen Lage führt dazu, dass sich die Angehörigen der Sprachgemeinschaft intensiver mit Himmelsrichtungen vertraut machen müssen.

In vielen Sprachen gibt es keine grammatikalische Unterscheidung zwischen Zukunft und Gegenwart – was auch die Art, über Zeit zu denken, beeinflussen kann. In anderen Sprachen wiederum wird Besitz nicht als etwas Individuelles ausgedrückt, sondern relational: Statt »mein Haus« heißt es hier »das Haus, das mit mir verbunden ist«.

Die Erkenntnisse über andere Sprachen und Denk­weisen erschüttern die Weltsicht der eigenen Kultur, derer man sich beim Lesen bewusster wird: Man kann die Dinge eben auch ganz anders sehen, ganz anders handhaben. Das Fremdartige der anderen Kultur und Gesellschaft, in der die fremde Sprache gesprochen wird, ernst zu nehmen, kann sicher neue Perspektiven bereithalten.

Die Autorin

Foto: Nina Ittermann

Joana Gerheim, Jahrgang 1998, studiert an der Goethe-Universität Linguistik und arbeitet als studentische Hilfskraft im Büro für PR und Kommunikation.

gerheim@em.uni-frankfurt.de

Zur gesamten Ausgabe von Forschung Frankfurt 1/2025: Sprache, wir verstehen uns!

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