Für ihre Abschlussarbeit über Gewalt gegen jüdische Frauen auf dem Gebiet der Ukraine ist die junge Historikerin Lilia Tomchuk vom Förderverein des Fritz-Bauer-Instituts ausgezeichnet worden.
Immer wenn es ihr zu viel wurde, hat Lilia Tomchuk auf „Pause“ gedrückt. Und sie hat oft auf „Pause“ gedrückt. Die Videoaufnahmen der Shoah Foundation, die sie für ihre Abschlussarbeit ausgewertet hat, haben auch nach vielen Jahrzehnten nichts von dem Schrecken verloren, den die Erzählenden an Seele und Körper miterleben mussten. Sie sind für heutige Ohren zum Teil nur schwer zu ertragen. Für Lilia Tomchuk stellten diese Aufzeichnungen die Hauptquelle ihrer Staatsarbeit dar. Frauen in Ghettos und Zwangsarbeitslagern wurden auf besondere Weise zu Opfern – und diese sexualisierte Gewalt hat Tomchuk näher untersucht.
Späte Aufarbeitung
Sexuelle Gewalt in unterschiedlichen Ausprägungen gehörte für jüdische Frauen in den besetzten Gebieten zum Alltag – auch auf dem Gebiet der heutigen Ukraine. Die Täter waren vor allem die deutschen Besatzer und ihre rumänischen und ukrainischen Kollaborateure. Wie viele Frauen betroffen waren, lässt sich heute nicht mehr ermitteln. Aber offenbar ging die Gewalterfahrung für die meisten nach dem Krieg weiter – vor allem, weil sie sich zum Stillschweigen gezwungen fühlten. „Die Thematik war in der Gesellschaft und im jüdischen Überlebendenkollektiv mit Scham und Schande konnotiert.
Es bestand insgesamt kein Interesse oder Mitgefühl für ihr Schicksal – eher wurden sie sogar kritisch be- und verurteilt, insbesondere mit dem Blick auf die sozialpolitischen Umstände in der Sowjetunion. Viele Opfer wollten aber auch die stark traumatisch behafteten Erfahrungen einfach nur ‚vergessen‘“, berichtet Lilia Tomchuk. Die professionelle Aufarbeitung – die juristische, aber auch die wissenschaftliche – ließ auf sich warten. Erst in den 1990er Jahren kam es zu einigen wichtigen interdisziplinären Veröffentlichungen zum Thema Gewalt gegen jüdische Frauen. Das Schicksal jüdischer Frauen in der Ukraine blieb bislang ganz unerforscht.
Das hat sich nun geändert. Lilia Tomchuk, die an der Goethe-Universität Geschichte und Spanisch für das gymnasiale Lehramt studierte, kam durch ein Seminar bei Prof. Sibylle Steinbacher, der Leiterin des Fritz-Bauer- Instituts, mit den Zeitzeugnissen der Shoah Foundation in Kontakt. Schon seit Längerem interessierte sie sich für den Holocaust in der Ukraine. „Der Zugang zum digitalen Videoarchiv, den mir Frau Steinbacher möglich machte, ebnete den Weg, dass ich mich umfassend an das Thema wagen konnte“, berichtet Tomchuk. Das Thema sei insgesamt bis zur Jahrtausendwende stark tabubehaftet gewesen, eine „Aura des Schweigens“ habe darüber gelegen.
Sexuelle Gewalt gegen Frauen galt als „gewöhnliche Praxis“ in kriegerischen Kontexten. „Die Unterscheidung zwischen Opfergruppen in Hinblick auf Sexualität und Geschlecht war generell nicht erwünscht, man fürchtete eine Trivialisierung oder Verbrämung der Shoa durch eine ‚feministische Agenda‘, die den Frauen ein besonderes Leid zusprechen wollte“, erklärt es sich Tomchuk. Ihr gehe es jedoch nicht darum, eine Hierarchie der Opfergruppen zu erstellen. Aber es sei wichtig, die Besonderheiten des Schicksals von Frauen herauszuarbeiten und ihre Überlebensmechanismen zu erforschen. „Ich wollte der von Schweigen und Tabus umhüllten Thematik endlich eine Stimme geben“, formuliert Tomchuk, die selbst in der Ukraine geboren wurde.
„Gewalt gegen jüdische Frauen auf dem Gebiet der Ukraine 1941–1945. Themen, Muster und Narrative sexueller Gewalt in Zeitzeugnissen der USC Shoah Foundation“, so lautet der Titel ihrer Arbeit, die Anfang des Jahres in die Reihe „Geschichte und Wirkung des Holocaust bis heute“ aufgenommen wurde. Ausgewählte studentische Arbeiten können hier auf Einladung des Fritz-Bauer-Instituts und seines Fördervereins präsentiert werden. Die Veranstaltungsreihe soll ein Forum für Fragestellungen junger Menschen an die Geschichte und Wirkung des Holocaust sein und darüber hinaus verschiedene Disziplinen zusammenführen.
Sexuelle Gewalt
Tomchuk legte in ihrer Arbeit den Schwerpunkt auf die Entschlüsselung der Narrative der sexuellen Gewalt, wie sie in den Interviews der Shoah Foundation zum Ausdruck kommen. Dabei versuchte sie, aus 30 Zeitzeugnissen jüdischer Überlebender – davon 18 weiblich, zwölf männlich –, Erkenntnisse über Täter, Erklärungsmuster, Überlebensstrategien und den Umgang mit den Opfern in der Nachkriegszeit zu gewinnen. Dabei stieß sie auf Unbegreifliches wie die Tatsache, dass langjährige Nachbarn oder anders Bekannte als „Schutzmänner“ an Vergewaltigungen beteiligt waren.
Bei Weitem stammen nicht alle Informationen von den Frauen selbst, sondern oft auch von Menschen, die das Geschehen beobachtet haben. Selbst Betroffene berichteten oft, dass sie drohender sexueller Gewalt entkommen konnten, indem sie den Täter zum Beispiel bissen oder ihm davonliefen. „Man muss aber davon ausgehen, dass die Zahl der Frauen, die zu Opfern wurden, deutlich höher war, als es in den Interviews den Anschein hat. Manche haben sicher aus Selbstschutz die eigene Geschichte aus der Außenperspektive geschildert“, vermutet Tomchuk. Mit der Zeit habe sich eine kanonisierte Erzählung herausgeschält: Die Frauen seien in der Regel sehr schön gewesen, die Täter hätten viel Alkohol getrunken, das große Machtgefälle diente als Erklärung für animalische Verhaltensweisen.
Das Machtgefälle begünstigte auch den „sexuellen Tauschhandel“, der eine Überlebensstrategie darstellen konnte. Viele Frauen wurden unter dem Druck ihrer eigenen Gemeinde zu „erzwungenen Heldinnen“. Auch wenn die Arbeit am Thema sehr belastend für sie ist, kommt Lilia Tomchuk nicht so schnell davon los: Für ihr Dissertationsvorhaben hat sie die Fragestellung auf jüdische Frauen generell ausgedehnt, die auf dem Gebiet der besetzten Ukraine gelebt haben, und untersucht nun deren Erfahrungsdimensionen und ihre Rolle im Holocaust. Das Fritz-Bauer-Institut fördert die Arbeit mit dem Jürg-Breuninger-Promotionsstipendium.
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 2.20 des UniReport erschienen.