Der Japanologe Michael Kinski wirft einen Blick in die Geschichte der Mund-Nasenschutz-Masken in Japan.
Wer Laura Spinneys Pale Rider (2017), eine populärwissenschaftliche Darstellung der sogenannten Spanischen Grippe der Jahre 1918 bis 1920, aufschlägt, findet noch vor Beginn der Einleitung ein Foto von 1920. Es zeigt junge japanische Frauen oder Mädchen mit Lederschuhen, Strümpfen, einem Hosenrock (hakama) und einem offenen Kimono – eine nicht unübliche Gewandung auf dem Weg zur Schule. Das Erstaunliche aber: Die Mädchen tragen alle vor Mund und Nase weiße Masken, wie sie uns gegenwärtig im Alltag begegnen.
Eine Recherche im Internet liefert schnell eine Fülle von ähnlichen Fotos aus der Zeit, nicht nur aus Japan. Es scheinen diese Jahre zu sein, in denen sich der Mund-Nasen-Schutz weltweit verbreitet und alsbald in Japan zu einem festen Bestandteil des Alltagslebens wird. Nicht nur das Tragen der Masken als Schutz während der Pandemie von 1918 –20 weist Gemeinsamkeit mit unseren Tagen auf. Auch auf problematische Begleitumstände trifft dies zu. Am 15.1.1920 veröffentliche eine der großen Tageszeitungen, der „Tokyo Tagesanzeiger“ (Tôkyô Nichinichi Shinbun), einen Artikel, in dem das Emporschnellen der Preise für Masken angeprangert wird.
„Die Verbreitung der bösartigen Grippe wird tagtäglich schlimmer, und die Zahl der Verstorbenen hat eine wahrhaft erschreckende Höhe erreicht.“ Die Krematorien kämen nicht hinterher, und einer Statistik des Polizeipräsidiums zufolge seien allein in der Hauptstadt mehr als 140 000 Opfer zu beklagen – fünfundsechzig Mal so viele wie ein Jahr zuvor! Die Behörden mahnten unentwegt zu Schutzimpfungen und dem Tragen von Masken, aber die Produktion sei darauf nicht eingestellt und könne die Nachfrage nicht befriedigen.
Folge sei eine rasante Preissteigerung: Vor wenigen Tagen kostete ein Mund-Nasen-Schutz noch 20 oder 30 sen (damalige Untereinheit des Yen). Gestern waren es schon 50 bis 60 sen, und auf der Flaniermeile Ginza überbietet ein Geschäft gar diesen hohen Preis noch um das Dreifache. Eindeutig das Werk von Wucherern, gegen das die Behörden etwas unternehmen müssten. Der Direktor des Hygieneamtes, so der Bericht, wies allerdings darauf hin, dass kein Mangel an Materialen für Masken herrsche. Man solle sie daher zu Hause selbst herstellen.
Gebleichten Baumwollstoff dreilagig zusammennähen, dann habe man für gerade einmal 3 sen eine Maske. Man könne aber auch Stofftaschentücher oder dünne Handtücher verwenden. Diese böten sogar den Vorteil, dass man sie waschen kann und dass sie unter Hygieneaspekten sehr wirksam seien. Die Preissteigerung möge durch Wucherer ausgelöst worden sein, aber die Bürger sollten nicht so viel Wert auf ein modisches Äußeres legen, sich nicht so zieren und an den praktischen Nutzen denken, den auch schlichte, selbst gefertigte Masken erfüllten.
»Munddeckel« und »Atemschutzgeräte«
Der Artikel zeigt, dass Wörter für Mund-Nasen- Schutzmasken im damaligen Japanischen noch nicht heimisch geworden waren. Zwei Ausdrücke in chinesischen Schriftzeichen werden verwendet – jeweils mit einer Lesehilfe in kleiner gedruckten Silbenschriftzeichen auf der rechten Seite versehen. Die Lesehilfe lautet jeweils masuku, offensichtlich ein Derivat des englischen mask. Diese steht im ersten Fall in der Überschrift, neben einer Kombination aus zwei chinesischen Zeichen, die wörtlich „Munddeckel“ bedeuten.
Im Text selbst kommt dreimal ein seriöserer Ausdruck aus fünf Schriftzeichen vor, der mit „Atemschutzgerät“ wiedergegeben werden kann. Das Tragen solcher „Atemschutzgeräte“ wird in der Zeit auch auf Plakaten und Aufrufen angemahnt. Ein schönes buntes Exemplar zeigt zwei Szenen, eine in der Eisenbahn, eine zu Hause. Die Überschrift „Masken und Gurgeln“ wird durch einen Schriftzug ergänzt: „In der Eisenbahn, der Straßenbahn und unter Leuten: Tragt Masken! Und vergesst das Gurgeln im Anschluss an das Ausgehen nicht!“
In der oberen Bildhälfte tragen mehrere weibliche Fahrgäste (und ein Mann) kleine schwarze Masken. Einer der beiden nebeneinandersitzenden Männer hustet ganz entsetzlich mit offenem Mund, während sein Nachbar – in einer Gedankenblase – einen Kranken im Bett sieht, über dem ein Fieberthermometer und der Schriftzug „Wenn man keine Maske trägt …“ schweben. Interessanterweise findet sich auf diesem Plakat als Schreibung für den Mund-Nasen-Schutz nur die Bezeichnung masuku in einfachen Silbenschriftzeichen.
»Aufbaupräparate« für Hausfrauen
Und eine Aufforderung des Innenministeriums: „1. Nähert Euch nicht – Leuten, die husten. 2. Bedeckt Nase und Mund – aus Rücksicht auf andere und für Euch selbst. 3. Lasst Euch eine Schutzimpfung geben – bevor es zu spät ist. 4. Gurgelt – morgens und abends!“ Nicht nur Masken und Gurgeln wurden angepriesen. Einblicke in das medizinische Verständnis dieser Jahre bietet eine Werbung, die bereits am 29.10.1918 in einer anderen großen Tageszeitung, der Yomiuri Shinbun, abgedruckt wurde.
Sie richtete sich an Hausfrauen und klärte diese darüber auf, wie man der Influenza begegnen könne. Die gegenwärtig grassierende Grippe sei überaus bösartig, aber man könne sich leicht vor ihr schützen. Dafür benötige man allein „Dr. Tsubois Aufbaupräparat“. Dieses wirkt nämlich „der Verminderung des Plasmas in den Zellen, aus welchen sich der menschliche Körper zusammensetzt“, entgegen. Außerdem unterstützt das Mittel die Arbeit der weißen Blutkörperchen. Der Artikel erläutert, dass deren Kraft, Bakterien zu töten, enorm sei.
„Selbst wenn man von den Grippebakterien infiziert wird, töten die weißen Blutkörperchen diese schnell ab, und daher wird man nicht krank. Und selbst wenn man krank werden sollte, ist der Verlauf leicht, und es geht einem schnell wieder besser.“ Die Schlussfolgerung: „Das Aufbaupräparat anzuwenden, Krankheiten bereits vor dem Ausbrechen zu verhindern und so dem ganzen Haushalt Glück zu bescheren, ist das vorausschauende notwendige Handeln einer richtigen Hausfrau.“ Anschließend werden Ort und Telefonnummer des Herstellers und die Bezugsquellen genannt. Offensichtlich unterliegt diese Werbung dem Frauenbild der damaligen Zeit. Und auch das medizinische Verständnis ist durch die Zeitumstände geprägt.
Die japanische Forschung besaß – eine Folge der vielen Auslandsstudenten, die bei Robert Koch und anderen studiert hatten – eine Stärke auf dem Gebiet der Bakteriologie. Aber der virale Erreger der Influenza war hier und andernorts noch unbekannt. Geblieben ist die Macht der Masken. Sie spielen im Bewusstsein vieler Menschen in Japan eine wichtige Rolle beim Umgang mit Erkältungskrankheiten und grippalen Infekten in der Öffentlichkeit wie auch in den eigenen vier Wänden. So konnten sie unlängst fast staatstragende Bedeutung erlangen.
Für einen zögerlichen Umgang mit Covid- 19 im eigenen Land kritisiert, fasste Ministerpräsident Abe Shinzô vor kurzem den Plan, jedem Haushalt des Landes – auf Kosten des Staates (also der Steuerzahler) – zwei Mundschutzmasken mit der Post zu senden. Jetzt ist „Abenomasuku“ (Premier Abes Masken) zu einem geflügelten Wort geworden, das den Slogan „Abenomikusu“ (Premier Abes Wirtschaftspolitik; eine Kontraktion aus „Abe“ und „economics“) zu verdrängen droht.
Mit „Abenomikusu“ war der Politiker zu Beginn seiner Amtszeit für die Ansätze einer Wirtschaftspolitik, die Japan aus der Rezession führen sollte, gefeiert worden. Nun führten die Masken zu Häme. Nicht nur wegen der Limitierung des Kontingents auf zwei pro Haushalt. Die aus Stoff gefertigten und wiederverwertbaren Artikel waren um einiges kleiner als die handelsüblichen. Es befanden sich verschmutzte, verschimmelte oder von Insekten bewohnte Exemplare unter ihnen. Ein Unding in einem so hygienebedachten Land wie Japan (siehe z. B. Japan Times vom 17.4.2020 und 23.4.2020).
Michael Kinski
Michael Kinski ist Professor für Japanologie an der Goethe-Universität.
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 3.20 des UniReport erschienen.