Die computergestützte Bildanalyse von sich verhaltenden Sepien zeigt Prinzipien der Steuerung und Entwicklung einer biologischen Tarnkappe.
Die einzigartige Fähigkeit der Sepien, Kalmare und Oktopoden, sich zu verstecken, indem sie die Farben und Texturen ihrer Umgebung nachahmen, hat Naturwissenschaftler seit Aristoteles fasziniert. Als einzige Tierart kontrollieren diese Mollusken ihr Aussehen durch direkte Einwirkung von Neuronen auf expandierbare Pixel, die sich millionenfach in ihrer Haut befinden. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung und des Frankfurt Institute for Advanced Studies/Goethe Universität nutzten diese Verbindung zwischen Neuronen und Pixeln, um einen Blick in das Gehirn von Sepien zu werfen und daraus die mutmaßliche Struktur von Kontrollnetzwerken durch Analyse der Dynamik von Hautmustern abzuleiten.
Sepien, Kalmare und Oktopoden bilden eine Gruppe von Meeresmollusken, die Kopffüßer genannt werden und einst Ammoniten umfassten, die heute nur noch als Spiralfossilien aus der Kreidezeit bekannt sind. Moderne coleoide Kopffüßer verloren vor etwa 150 Millionen Jahren ihre äußeren Schalen und wurden zunehmend zu aktiven Räubern. Mit dieser Entwicklung ging eine massive Vergrößerung ihres Gehirns einher: Moderne Sepien und Oktopoden haben die größten Gehirne (im Verhältnis zur Körpergröße) unter den wirbellosen Tieren, vergleichbar mit Fischen oder Reptilien. Sie nutzen diese großen Gehirne, um eine Reihe von intelligenten Verhaltensweisen auszuführen, einschließlich der einzigartigen Fähigkeit, ihr Hautmuster zu verändern, um sich zu tarnen oder zu verstecken.
Kopffüßer erzielen ihre Tarnung durch direkte Einwirkung ihres Gehirns auf spezialisierte Hautzellen – auch Chromatophore genannt -, die als biologische „Pixel“ auf einem weichen Displaysystem – ihrer Haut – wirken. Diese Eigenschaft ist einzig den Kopffüßern zu eigen. Sepien verfügen über bis zu Millionen von Chromatophoren, von denen jedes expandiert und kontrahiert werden kann, um lokale Veränderungen im Hautkontrast zu erzeugen. Chromatophoren gibt es auch in verschiedenen Farben. Durch die Kontrolle dieser Chromatophoren können Sepien ihr Aussehen in Bruchteilen einer Sekunde verändern. Sie nutzen diese Eigenschaft, um sich vor Räubern zu schützen, selbst zu jagen, aber auch um zu kommunizieren.
Um sich zu tarnen, passen sich Tintenfische nicht Pixel für Pixel ihrer lokalen Umgebung an. Stattdessen scheinen sie durch visuelle Wahrnehmung eine statistische Annäherung an ihre Umgebung zu erzielen und nutzen diese Heuristiken, um eine adaptive Tarnung aus einem vermeintlich großen, aber begrenzten Repertoire an wahrscheinlichen Mustern auszuwählen, die im Laufe des Evolutionsprozesses selektiert wurden. Die biologischen Lösungen zu diesem Problem der statistischen Abgleichung sind derzeit unbekannt. Da aber Sepien dieses Problem lösen können, sobald sie aus dem Ei schlüpfen, sind die Lösungen wahrscheinlich angeboren, in das Gehirn der Sepien eingebettet und relativ einfach. Ein Team von Wissenschaftlern vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung und vom Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS/Goethe-Universität), hat unter Leitung von Gilles Laurent Techniken entwickelt, die anfangen, diese Lösungen aufzuzeigen.
Die Chromatophore der Sepien sind spezialisierte Zellen, die einen elastischen Beutel mit Farbpigmentgranulaten enthalten. Jedes Chromatophor ist an winzigen sternförmig angeordneten Muskeln befestigt, die von einer kleinen Zahl von Motoneuronen im Gehirn gesteuert werden. Wenn diese Motoneurone aktiviert werden, ziehen sich die Muskeln zusammen, das Chromatophor expandiert und zeigt das Pigment an. Wenn die neuronale Aktivität nachlässt, entspannen sich die Muskeln, der elastische Pigmentbeutel schrumpft zusammen, und die reflektierende Haut darunter wird sichtbar. Da einzelne Chromatophoren Eingang von nur wenigen Motoneuronen erhalten, könnte der Expansionszustand eines Chromatophors ein indirektes Maß für die Aktivität der Motoneuronen liefern.
„Wir haben uns vorgenommen, die Leistung des Gehirns einfach und indirekt zu messen, indem wir die Pixel auf der Haut des Tieres abbilden“, sagt Laurent (MPI für Hirnforschung). Tatsächlich bot die Beobachtung des Verhaltens von Sepien mit chromatophorer Auflösung die einzigartige Möglichkeit, indirekt sehr große Populationen von Neuronen in sich frei verhaltenden Tieren „abzubilden“. Sam Reiter (MPI für Hirnforschung), Erstautor dieser Studie, und seine Co-Autoren zogen Rückschlüsse auf die Aktivität der Motoneuronen, indem sie die Details der chromatophoren Co-Fluktuationen analysierten. So konnten sie durch die Analyse der Co-Variationen dieser abgeleiteten Motoneuronen die Struktur noch höherer Steuerungsstufen vorhersagen und durch detaillierte statistische Analyse des Chromatophoren-Outputs das Sepiengehirn immer tiefer „abbilden“.
Der Weg dorthin erforderte viele Jahre harter Arbeit, einige gute Erkenntnisse und ein paar glückliche Umstände. Eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg war, dass es gelang, Zehntausende von einzelnen Chromatophoren gleichzeitig mit 60 hochauflösenden Bildern pro Sekunde abzubilden, und jedes Chromatophor von einem Bild zum nächsten, von einem Muster zum nächsten, von einer Woche zur nächsten, weiter zu verfolgen, während das Tier atmete, sich bewegte, sein Aussehen veränderte, wuchs und ständig neue Chromatophoren einbaute. Eine Schlüsseleinsicht war es, „zu erkennen, dass die physische Anordnung der Chromatophore auf der Haut unregelmäßig genug ist, um lokal einzigartig zu sein, wodurch lokale ‚Fingerabdrücke’ für das Zusammensetzen von Bildern entstehen“, sagt Matthias Kaschube vom FIAS/GU. Durch iterativen und stückweisen Bildvergleich wurde es möglich, Bilder so zu anzupassen, dass alle Chromatophore richtig ausgerichtet waren und nachverfolgt werden konnten, selbst wenn ihre individuellen Größen unterschiedlich waren – wie es bei Veränderungen von Hautmustern der Fall ist – und sogar wenn neue Chromophore erschienen – wie es von einem Tag auf den nächsten der Fall ist, wenn das Tier wächst.
Mit Erkenntnissen wie dieser und mehreren Supercomputern gelang es Laurents Team, ihr Ziel zu erreichen und somit in das Gehirn des Tieres und sein Tarnkontrollsystem zu blicken. Dabei machten sie auch unerwartete Beobachtungen. Wenn ein Tier beispielsweise sein Aussehen ändert, ändert es dieses in einer sehr spezifischen Weise durch eine Folge genau bestimmter Zwischenmuster. Diese Beobachtung ist wichtig, da sie interne Einschränkungen bei der Mustererzeugung nahelegt und somit versteckte Aspekte der neuronalen Steuerschaltungen offenbart. Auch fanden die Wissenschaftler heraus, dass Chromatophore systematisch ihre Farbe im Laufe der Zeit ändern, und dass die für diese Änderung erforderliche Zeit an die Geschwindigkeit der Produktion neuer Chromatophore gekoppelt wird wenn das Tier wächst; so bleibt der relative Anteil jeder Farbe konstant. Schließlich haben sie aus der Beobachtung dieser Entwicklung minimale Regeln abgeleitet, die die Morphogenese der Haut in dieser und möglicherweise allen anderen Arten von coleoiden Kopffüßern erklären könnten.
Diese Studie eröffnet eine Vielzahl neuer Fragen und Möglichkeiten. Einige betreffen die Texturwahrnehmung und sind für das wachsende Feld der theoretischen kognitiven Neurowissenschaften relevant. Andere betreffen die Beschreibung des genauen Zusammenhangs zwischen Hirnaktivität und Verhalten, ein Forschungsfeld, das Neuroethologie genannt wird. Noch andere betreffen die zellulären Entwicklungsregeln der Gewebemorphogenese. Schließlich öffnet diese Arbeit ein Fenster zum Gehirn von Tieren, deren Abstammungslinie sich vor über 540 Millionen Jahren von unserer getrennt hat. Das Kopffüßer-Gehirn bietet somit eine einzigartige Gelegenheit, die Entwicklung einer anderen Form der Intelligenz zu untersuchen, die auf einer Geschichte basiert, die seit über einer halben Milliarde Jahren völlig unabhängig von der der Wirbeltierlinie verläuft.
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Publikation: Elucidating the control and development of skin patterning in cuttlefish.
Sam Reiter, Philipp Hülsdunk, Theodosia Woo, Marcel A. Lauterbach, Jessica S. Eberle, Leyla Anne Akay, Amber Longo, Jakob Meier-Credo, Friedrich Kretschmer, Julian D. Langer, Matthias Kaschube & Gilles Laurent.
Nature (18. Okt. 2018)
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Quelle: Pressemitteilung, Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Frankfurt Institute for Advanced Studies/Goethe Universität