Prof. Dr. Wolfgang Meseth ist seit April 2021 Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Erziehung, Politik und Gesellschaft (W3) an der Goethe-Universität Frankfurt. Einen besonderen Fokus seiner Forschung bildet das Themenfeld einer »Erziehung nach Auschwitz« (Adorno), die erziehungswissenschaftliche Erforschung ihrer schulischen und außerschulischen Praxis sowie die pädagogische Rezeption und Wirkung der von Theodor W. Adorno geprägten Formulierung bis heute. Mit dem UniReport hat er über die großen Herausforderungen für die schulische Vermittlung des Nationalsozialismus und des Holocaust, aber auch anderer aktueller Kontroversen bis hin zu Verschwörungstheorien gesprochen.
Seit dem Frühjahr 2021 ist Wolfgang Meseth Professor an der Goethe-Universität. Der Erziehungswissenschaftler war vorher unter anderem an den Universitäten in Marburg, Mainz und Koblenz-Landau tätig, ist aber ein richtiges „Eigengewächs“ der Goethe-Universität: Hier hat er studiert und über Adorno promoviert. Meseth ist sogar ein Frankfurter Bub und hier zur Schule gegangen. Befragt nach seiner wissenschaftlichen Prägung, kommt er gleich auf die Frankfurter Schule zu sprechen: „Ich habe mich sowohl in der Soziologie als auch in der Pädagogik intensiv mit der Kritischen Theorie auseinandergesetzt. Ich musste dann feststellen, dass es auf der einen Seite den kulturkritischen Adorno gibt, auf der anderen Seite aber auch den eher erziehungsoptimistischen Adorno. Dieser Optimismus zeigt sich in Adornos berühmten Vorträgen im Hessischen Rundfunk, zu denen auch der Vortrag ‚Erziehung nach Auschwitz‘ zählt, insbesondere aber auch an der pädagogischen Rezeption dieses Vortrags“, erklärt Meseth. Im 2014 gesprengten AfE-Turm ist Meseth, in der Beschäftigung mit den Verwerfungen der Moderne, gewissermaßen wissenschaftlich groß geworden: In der Soziologie dominierte der eher kulturkritische Blick auf die Welt; wenn er dann zur Pädagogik in den 5. Stock wechselte, schien die Welt wieder in Ordnung. Dieser Gegensatz hat ihn dazu veranlasst, sich näher mit der Rezeption von Adornos Auschwitz-Aufsatz zu beschäftigen. Im Zentrum stand hierbei die Frage, „wie sich nach 1945 der Umgang mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust zu einem pädagogischen Thema entwickeln hat“. Adorno sei im Nachhinein betrachtet zum Stichwortgeber einer ganzen Generation von Pädagog*innen nach 1968 geworden. Trotz der Verwerfungen, die der Holocaust für die Idee der Aufklärung hinterlassen hat, finde man bei Adorno mit dem Subjekt einen letzten Fluchtpunkt für Gesellschaftsveränderung und die Gestaltung einer besseren Welt. Das darin zum Ausdruck kommende enge Verhältnis von Politik und Pädagogik sieht Meseth bereits in Platons „Politeia“, aber auch später bei modernen Denkern wie Jean-Jacques Rousseau und John Locke. Alle bauten auf der Idee eines politischen Gemeinwesens auf, die Idee eines guten Lebens, dessen subjektive Voraussetzungen Erziehung gewährleisten soll. „Als Kind der Moderne favorisiert die Pädagogik Theorien, die Subjekte und Gesellschaftsveränderung in ein enges Verhältnis setzen.“ Wie man das Subjekt gewissermaßen „bewirtschaften“ kann, um es für das Gemeinwesen anschlussfähig zu machen, gehöre, so Meseth, zu den großen Projekten der Moderne, dessen Folgen er erziehungswissenschaftlich aufklären möchte. Man merkt bei der Verwendung bestimmter Begriffe und Konzepte, dass Meseth nicht nur von der Kritischen Theorie, sondern auch von der Systemtheorie Luhmann’scher Prägung beeinflusst wurde.
Nach der Dissertation hat sich Meseth dann vor allem damit beschäftigt, wie das Thema Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht und in außerschulischen Einrichtungen vermittelt wird. „Es stellt sich dabei die Frage, ob die hohen politisch-moralischen Erwartungen an die Vermittlung des Themas im Unterricht realisiert werden können. Es geht ja nicht nur um die Vermittlung von Wissen, sondern auch um Mündigkeit.“ Meseth sieht in der Vermittlung des Themas Nationalsozialismus und Holocaust einen besonderen Fall des Verhältnisses von Erziehung und Politik. Besonders Themen, die gesellschaftlich kontrovers verhandelt werden, stellten die Pädagogik vor hohe Herausforderungen: Weil sie letztlich nicht könne, was sie solle, nämlich auf Menschen absichtsvoll einwirken, um deren moralische Dispositionen treffsicher zu verändern. Zudem seien ihre Mittel normativ begrenzt. Sie könne nicht jedes Mittel einsetzen, wenn sie nicht wie Indoktrination, Propaganda oder Werbung wirken wolle.
Pluralisierung von Perspektiven
In einer Gesellschaft, die sich in den letzten Dekaden stark verändert hat, die bunter und diverser geworden ist, stellen sich die Fragen noch einmal anders, sagt Meseth: „Für mich stellt sich als Erziehungswissenschaftler auf der einen Seite die Frage, wie ich diese Dynamiken, die sich jetzt beispielsweise durch eine Pluralisierung von Perspektiven auf die Geschichte des Nationalsozialismus einstellen, im Unterricht untersuchen kann. Was kommt denn eigentlich durch unterschiedliche biografische und herkunftsbedingte Erfahrungen neu in den Unterricht hinein und erzeugt dann für die Lehrkraft die Herausforderungen, diese oft konfligierenden Perspektiven zu moderieren?“ Der Schulunterricht sei immer auch ein Resonanzboden für gesellschaftliche Kontroversen und Konflikte. Wenn man heute über die Impfdebatte im Unterricht spreche, müsse man sich als Lehrkraft auch schon mal zu den trivialen NS-Vergleichen, die von den sogenannten Querdenkern gezogen werden, verhalten. Aber nicht nur in diesem Kontext, auch durch die Transnationalisierung der Holocaust-Erinnerung, werden Vergleiche wahrscheinlicher. „Wenn im Geschichtsunterricht zur NS-Geschichte plötzlich jemand die Frage stellt, warum denn nur der Holocaust und nicht auch ein Thema wie ‚Völkermord an den Armeniern‘ im Unterricht behandelt werde, ist fachliches Detailwissen und situatives Handeln gefordert.“
In einem Aufsatz hat sich Meseth mit dem Historikerstreit auseinandergesetzt, der in Deutschland für eine gewisse Tabuisierung bestimmter Aspekte im Umgang mit der NS-Vergangenheit gesorgt habe. Durch Transnationalisierungs- und Migrationsprozesse, aber auch durch eine Digitalisierung des Erinnerungsthemas, stünden heute viele Themen in Konkurrenz mit dem Narrativ der Bundesrepublik. Dies brächten Migrant*innen mitunter mit in die pädagogischen Gespräche hinein; da bedürfe es eines hohen Maßes an pädagogischer Professionalität. „Lehrkräfte müssen diskursfest und diskurssicher sein, um in solchen Konstellationen souverän zu agieren. Das möchte ich erforschen: in unterschiedlichen Kontexten, schulisch, aber auch außerschulisch.“ Jede neue Schüler*innen-Generation verhalte sich nicht nur affirmativ zu dem, was die Erwachsenengeneration ihnen vorlebe und für selbstverständlich halte, sondern auch im Modus einer sich absetzenden, distanzierenden Aneignung. „Wir sehen heute einen Wandel des Unterrichts von einem klassischen, mehr lernzentrierten Frontalunterricht zu einem differenzierenden, individualisierenden Unterricht. Auf der einen Seite besteht der pädagogische Anspruch, individualisierend auf Einzelpersonen einzuwirken und deren Aneignungsverhalten zu verbessern. Auf der anderen Seite gilt natürlich weiter das Gebot der Standardisierung von Wissen mit Blick auf die Zertifizierung der erbrachten Leistung in der Form von Noten. Dieses Spannungsfeld von pädagogisch forcierter Individualisierung und bildungspolitischer Standardisierung gilt für alle fachlichen Vermittlungsprozesse.“ Im Unterricht, der politisch-moralische Themen, wie etwa die NS-Geschichte beinhaltet, spitzt sich dieses Spannungsfeld zu.
Unterricht als emergentes Interaktionssystem
Dass das Thema Meinungsfreiheit heute in der Öffentlichkeit und selbst in der Wissenschaft so leidenschaftlich, mitunter auch unerbittlich diskutiert wird, ist für Meseth zuerst einmal eine Herausforderung des politischen Systems. Doch im schulischen Unterricht stelle sich die Situation noch viel herausfordernder dar, sagt er: „Als Lehrkraft ist man immer zuerst einmal darauf bedacht, pädagogisch zu agieren, das heißt, die Schüler* innen werden, wenn sie eine extreme oder abweichende Meinung kundtun, nicht einfach politisch angegangen oder gar aus dem Unterrichtsgespräch ausgeschlossen. Man setzt immer voraus, dass Schüler*innen noch nicht sind, was sie werden sollen. Man gibt ihnen daher Spielraum, sich zu verändern. Das macht pädagogisches Handeln so anspruchsvoll, weil immer zwischen pädagogischen und politischen Interventionen unterschieden werden muss: Steht ein bestimmter provozierender Kommentar zum Nationalsozialismus für eine gewisse Naivität oder ist es strategisches Kalkül? Kann ich das erst einmal im Raum stehen lassen oder muss ich tatsächlich mal in medias res gehen mit der Schülerin oder dem Schüler?“ Der schulische Unterricht, hier merkt man Wolfgang Meseth die intensive Beschäftigung mit der Systemtheorie an, ist für ihn auch an dieser Stelle ein kontingenter emergenter Prozess der Wissenserzeugung. Wenn man sich als Lehrkraft mit Stereotypen, Verschwörungstheorien und anderen nicht wahrheitsbezogenen Meinungen auseinandersetze, um sie in guter Absicht als argumentativ nicht haltbare Positionen auszuweisen, müsse man diese oft überhaupt erst einmal aufrufen. Damit seien sie aber in der Welt und führten dann möglicherweise im Unterricht und darüber hinaus ihr Eigenleben. „Der Unterricht ist ja kein Transferprozess, sondern ein hochdynamisches Interaktionssystem, das man zwar in der pädagogischen Planung als kontrollierbar behandelt, das aber immer auch Wissen produziert, das man nicht voraussehen kann.“ Der Erziehungswissenschaftler ist nicht der Meinung, dass sich im Zeitalter des Internets und Social Media die Lage komplett verändert habe. Eine für die Schule herausfordernde Pluralisierung der Wissensbezüge war beispielsweise auch schon in den 1970er-Jahren ein öffentliches Thema: „Damals gab es eine große Kontroverse in der Geschichtsdidaktik darüber, dass über die sogenannten ‚mächtigen Miterzieher‘ – also Kirche, Familie und Freunde – krudes und pädagogisch nicht kontrolliertes Wissen über die NS-Zeit in den Unterricht hineingetragen wurde.“ Sicherlich habe sich aber heute die Geschwindigkeit, mit der dieses geschehe, durch digitale Medien erhöht. „Wenn mit dem Smartphone ein YouTube-Video mit fragwürdigen Inhalten eingespielt wird, kann das die Autorität der Institution Schule und der Lehrkraft schon untergraben.“
Projekte und Kooperationen
Meseth möchte langfristig ein Lehr- und Lernforum „Erziehung nach Auschwitz“ auf die Beine zu stellen. Dieses soll auf der einen Seite Forschung zur Vermittlung der NS-Geschichte beinhalten. Auf der anderen Seite soll die Forschung dann in die Lehrer*innenbildung einfließen. „Ich möchte zum einen, dass Lehramtsstudierende am Ende des Studiums über profundes Wissen in den Handlungsfeldern der Erinnerungspädagogik verfügen, damit sie diese gesellschaftlichen Konflikte, so wie sie sich auch im Unterricht materialisieren, einfangen können. Angesprochen werden sollen zum anderen aber auch jene Lehrende, die sich vielleicht gar nicht selber mit dem Thema Nationalsozialismus beschäftigen, aber gleichwohl damit im schulischen Alltag konfrontiert werden. Schulunterricht ist eingebettet in politisierte Erinnerungsdiskurse, die grundsätzlich in allen pädagogischen Kontexten virulent werden können.“ Meseth hat bereits auch schon Kontakt geknüpft mit wichtigen erinnerungspolitischen Playern in Frankfurt: mit dem Historischen Museum, mit dem Studienkreis Deutscher Widerstand, der Begegnungsstätte Anne Frank und der neugegründeten Jüdischen Akademie.
Im Augenblick ist Wolfgang Meseth auch noch dabei, ein Forschungsprojekt zum Thema Inklusion abzuschließen. „Ich untersuche, wie die UN-Behindertenrechtskonvention in das pädagogische Programm gewissermaßen eingewandert ist und in pädagogische Praktiken umgesetzt wird.“ Und der Erziehungswissenschaftler hat noch weitere hochaktuelle Themen in der Pipeline: Im Rahmen der Wissenschaftsforschung möchte er untersuchen, wie das Fach Erziehungswissenschaft als wissenschaftliche Disziplin überhaupt entstanden ist. „Das Fach ist eine recht junge Disziplin, erst in den 1920er Jahren aus dem Geiste des Anspruchs einer Akademisierung der Lehrerbildung, d. h. auch als politisch motiviertes Projekt entstanden. Die Erziehungswissenschaften hatten immer Probleme damit, sich von anderen, bereits etablierten Fächern wie der Psychologie und der Soziologie abzugrenzen. Untersucht werden soll unter anderem auch, welche Methoden in ihr zur Anwendung gekommen sind, wie sie sich von einer Geisteswissenschaft zu einer empirischen Sozialwissenschaft entwickelt hat.“
Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 1/2022 (PDF) des UniReport erschienen.