Ein Blick auf einige Frankfurter Nobelpreiskandidaten, die zwar von der Jury in Stockholm nicht berücksichtigt wurden, gleichwohl als herausragende Forscherpersönlichkeiten ein Aushängeschild der Goethe-Universität waren und sind.
Nimmt man sich einen Nachmittag Zeit, um durch die verschiedenen Stadtviertel von Frankfurt zu spazieren, begegnen einem vielerorts die Spuren Frankfurter Wissenschaftspioniere, so flaniert man in der Innenstadt an der ehemaligen Wohnadresse Helene Brauns (1914–1983) vorbei, die als eine der ersten Frauen eine Professur in Mathematik erhielt, Autorin zahlreicher Publikationen ist und am Boykott von NS-Professoren mitwirkte. Einige der Frankfurter Wissenschaftler wurden mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, darunter Otto Stern (1888–1969), Paul Ehrlich (1854–1915) und Hartmut Michel (*1948). Insgesamt erhielten rund 20 Forscher, die in Frankfurt gewirkt haben, einen Nobelpreis, zuletzt wurde 2021 der Nobelpreis für Chemie an den an der Goethe-Universität Frankfurt promovierten Wissenschaftler Benjamin List (*1968) verliehen. Oftmals als der prestigeträchtigste Preis überhaupt angesehen, zeigt der Nobelpreis deutlich die internationale Bedeutung der Arbeit der mit ihm ausgezeichneten Frankfurter Forscher. Dass der Nobelpreis in jedem Jahr jedoch nur einmal in jeder Kategorie vergeben wird, bringt mit sich, dass Jahr für Jahr zahlreiche hervorragende Wissenschaftler leer ausgehen. Dies gilt auch für Forscher in Frankfurt. Allein für den Nobelpreis in Physiologie oder Medizin gingen zwischen 1901 und 1953 103 Nominierungen für Frankfurter Forscher in Stockholm ein. Übertroffen nur von Berlin, galt also mehr als jede Zehnte der insgesamt 1205 Nominierungen im betrachteten Zeitraum einem Frankfurter Wissenschaftler. Diese beeindruckenden Zahlen machen Frankfurt innerhalb Deutschlands zu einem regelrechten „Nobel hotspot“. Einige dieser „hochbegabten Verlierer“, die trotz mehrmaliger Nominierung von unterschiedlicher Seite nie das Glück hatten, den Nobelpreis zu erhalten, sollen in diesem Überblick betrachtet werden.
Ludwig Edinger
Gründerväter der Universität Frankfurt, der Neuroanatom Ludwig Edinger (1855–1918). In Gießen geboren, studierte Edinger in Straßburg und Heidelberg Medizin. Während seiner Habilitation wandte er sich dem Studium des Zentralnervensystems zu. Bedingt durch den erstarkenden Antisemitismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts, blieb Edinger als Jude eine Universitätskarriere zunächst verwehrt, durch Unterstützung seiner Frau war es ihm jedoch möglich, ein eigenes Forschungsinstitut zu errichten, welches er 1914 zur Gründung der Universität Frankfurt an diese angliederte. 1918 verstarb Edinger äußerst jung, die Existenz seines Instituts sicherte er durch Errichtung einer Stiftung, die bis heute Bestand hat. 1910 wurde er dreimal von Forschern aus Utrecht für seine Hirnforschung vorgeschlagen, doch die Holländer konnten sich in Stockholm nicht durchsetzen. Andere Kandidaten wie Charles S. Sherrington (1857–1952), Theodor Smith (1859–1934) und August Wasserman (1866–1925) wurden als stärker eingestuft. Der Preis ging letztlich an den Heidelberger Albrecht Kossel (1853–1927) „in recognition of the contributions to our knowledge of cell chemistry made through his work on proteins, including the nucleic substances“.
Friedrich Dessauer
Einer der ersten Studenten nach Gründung der Universität und ebenfalls Nobelkandidat ist der Physiker Friedrich Dessauer (1881– 1963). Aus einer Aschaffenburger Industriellenfamilie stammend, kam Dessauer 1914 nach Stationen in München und Darmstadt als Student nach Frankfurt. Sein großes Interesse galt den Röntgenstrahlen, er untersuchte deren Wirkung auf lebende Zellen und wirkte schon zu Studienzeiten an der Konstruktion von Röntgenapparaten mit. Obschon Pionier der Medizintechnik, legte er wie viele seiner Zeitgenossen wenig Wert auf Strahlenschutz, bereits in jungen Jahren war er durch Strahlenschäden entstellt. Als Mitglied der Zentrumspartei von den Nationalsozialisten verfolgt, verließ er Deutschland und kehrte erst nach dem 2. Weltkrieg nach Frankfurt zurück, wo er als Studentenpfarrer tätig war und 1963 den Folgen hoher Strahlenbelastung durch seine Experimente erlag. 1923 wurde Dessauer von dem Frankfurter Professor für Pädiatrie Heinrich von Mettenheim (1867–1944) für den Nobelpreis vorgeschlagen. In jedem Brief, der sich im Stockholmer Nobelarchiv befindet, führte er an: „Dessauer hat in jahrzehntelanger Arbeit die Röntgen-Tiefentherapie begründet und in jüngster Zeit die Methode im wesentlichen abschliessend festgelegt. […] Soviel kann man jedenfalls behaupten: Wenn heut die Röntgen-Tiefentherapie unter den Methoden der Bekämpfung der bösartigen Geschwülste wohl die erste einnimmt, ist dies in erster Linie das Verdienst der theoretischen und methodologischen Arbeiten Friedrich Dessauers.” Allerdings konnte der Nominator der Jury nicht überzeugen – der Preis ging 1923 stattdessen an die kanadischen Insulinforscher Frederick Grant Banting und John JR Macleod.
Gustav Embden
Ein dritter Frankfurter, wohl der stärkste Kandidat des hier erwähnten Trios, war der Großneffe Heinrich Heines, Gustav Embden (1874–1933). Wie Edinger aus einer jüdischen Familie stammend, studierte er in zahlreichen europäischen Städten, zu seinen Lehrern gehörte der Nobelpreisträger Paul Ehrlich. In Frankfurt war er zunächst als Abteilungsleiter der klinischen Chemie am städtischen Krankenhaus tätig. Im Zuge der Gründung der Universität Frankfurt entstand aus Embdens Labor das Institut für vegetative Physiologe. Zu seinen zentralen Arbeiten gehört die Entdeckung der Glykolyse, die deshalb nach ihm und nach den Mitentdeckern Otto Meyerhof und Jakub Parnas auch als Embden-Meyerhof-Parnas-Weg bezeichnet wird. Nicht weniger als zwölf Mal wurde Embden zwischen 1932 und 1933 für den Nobelpreis nominiert, und zwar sowohl für die Kategorie „Physiologie oder Medizin“ als auch für „Chemie“. Unter den Nominatoren waren die Nobelpreisträger Hans von Euler-Chelpin (1873–1964) und der bereits erwähnte Albrecht Kossel. Tatsächlich kam Embden auch in die engere Auswahl des Nobelkomitees, die Gründe seiner Ablehnung stellen noch ein Forschungsdesiderat dar.
Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit war Embden 1925–1926 Rektor der Universität Frankfurt. Auch Embden blieb vom antisemitischen Hass nicht verschont, 1933 wurde er von Studenten aus seinem Institut entführt und durch die Stadt geschleppt. Bald darauf verstarb er in einem Sanatorium für Nervenkranke.
Wissenschaftliche Bedeutung unbestritten
Auch wenn Edinger, Dessauer und Embden keinen Nobelpreis erhalten haben, ist die wissenschaftliche Bedeutung ihrer Beiträge unbestritten. Deshalb lohnt es, neben denen, die mit Preisen ausgezeichnet wurden, auch die Kandidaten zu betrachten, die am Ende leer ausgingen. Die Nominierungen dieser hidden champions, die von verschiedenen Wissenschaftlern unterschiedlicher Institutionen unabhängig voneinander eingereicht wurden, zeigen, dass ihre Arbeit breite Aufmerksamkeit erhielt und für herausragend befunden wurde. Dem Testament Alfred Nobels zufolge soll jedes Jahr die Wissenschaftlerin oder der Wissenschaftler ausgezeichnet werden, dessen Beitrag den größten Nutzen für die Menschheit erbracht hat. An diesem Grundsatz orientiert sich das Komitee, die den jeweiligen Preisträger festlegt. Offen bleibt dabei jedoch, nach welchen Kriterien zu bestimmen ist, welche der zahlreichen vorgeschlagenen Arbeiten tatsächlich diesen größten Nutzen erbringt und ob sich die tatsächliche Relevanz der bewerteten Forschungen nicht erst nach längerer Zeit bewerten lässt. Ohne die Exzellenz zahlreicher Nobelpreisträger in Abrede zu stellen, kann keine Jury in diesen Fragen einen Absolutheitsanspruch anmelden. Die in diesem Beitrag vorgestellten Forscher zeigen, wie lohnenswert es ist, auch die „Verlierer“ des Nobelpreises zu betrachten, stellen aber nur einen kleinen Teil wichtiger Forscher dar, die im Preiskontext keine Beachtung gefunden haben, was mit Sicherheit auch für andere renommierte Preise neben dem Nobelpreis gilt. Für die Universität Frankfurt zeigt sich jedenfalls, sowohl die Nobelpreisträger als auch unsere hidden champions betrachtend, dass sie seit ihrer Gründung ein wichtiger Hort hochkarätiger Forschung war und ist und im Nobelpreiskontext eine Spitzenstellung in Deutschland einnimmt.
Nils Hansson und Giacomo Padrini
PD Dr. Nils Hansson und Giacomo Padrini sind Medizinhistoriker an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Kontakt: nils.hansson@hhu.de