Professor Hartmut Leppin, Althistoriker an der Goethe-Universität, wurde vom Archäologen Professor Markus Scholz maßgeblich einbezogen bei der Entzifferung der „Frankfurter Silberinschrift“. Eingerollt in einem silbernen Amulett, wurde die Inschrift in einem Grab aus dem 3. Jahrhundert nach Christus gefunden. Der vielbeachtete Fund stellt den bislang ältesten materiellen Beleg für das Vorhandensein von Christen nördlich der Alpen dar. Goethe-Uni online sprach mit Hartmut Leppin über die Bedeutung des spektakulären Fundes.
Wann erhielten Sie Kenntnis von dem Fund?
Gegen Ende des vorigen Sommersemesters sprach Markus Scholz mich darauf an. Wir haben uns den Text dann gemeinsam in seinem Büro angesehen. Ich bin ja kein Archäologe, sondern Spezialist für die Geschichte des antiken Christentums. Als solchen hat mich Markus Scholz hinzugezogen, als ihm klar war, dass er einen äußerst ungewöhnlichen christlichen Text vor sich hatte.
Zu dem Zeitpunkt hatte er die eindeutigen Stellen, vor allem die Buchstabenkombination XP, bereits entziffert?
Ja, und das Hagios, Hagios, Hagios war auch sehr früh klar. Eben in diesem Zusammenhang kam er zu mir.
Hat er Sie hinzugezogen, um ihn bei der Entzifferung zu unterstützen oder bei der Einordnung?
Für beides. Bei der Entzifferung war mein Beitrag aber eher gering. Mein Thema war eher die historische Einordnung des Ganzen.
Herr Scholz sagt, es habe ihn ziemlich umgehauen, denn ihm sei die Tragweite gleich klar gewesen.
Ehrlich gestanden, habe ich mir als erstes die Frage gestellt, ob das nicht eine Fälschung ist. Dass in dieser Region, aus dieser Zeit ein Text mit diesem Inhalt gefunden wurde, passte so gar nicht in die bisherigen Vorstellungen. Das ist übrigens auch die erste Frage, die mir Kollegen stellen, wenn ich von dem Fund berichte.
Und?
Eine Fälschung kann man ausschließen.
Und wie kann man die Fälschung ausschließen?
Zum einen durch die Geschichte des Fundstücks. Und dann: Ein intelligenter Fälscher würde nichts fälschen, was so offenkundig einfach nicht passt. Ein ahnungsloser Fälscher aber kommt nicht in Frage: Um eine solche Schrift zu fälschen, braucht man eine echte Expertise.
Wann war Ihnen dann klar, welche Bedeutung das Fundstück hat?
Unter den erwähnten Prämissen war auch mir das sofort klar wie es auch jedem klar geworden wäre, der sich auf diesem Gebiet auskennt. Trotzdem musste ich erst alles ausschließen, was dagegen sprach, dass es sich um den frühesten Beleg für das Christentum nördlich der Alpen handelt. Es hat eine Weile gedauert, bis ich das wirklich akzeptieren konnte.
Welche anderen Möglichkeiten hätte es gegeben?
Die Datierung des Amuletts hätte falsch sein können. Ein späterer Römer, der die Gegend besucht hat, hätte es fallen lassen können. Als ich all das ausgeschlossen habe, habe ich nach Hinweisen gesucht, die die bisherigen Annahmen bestätigten.
Und wo sind Sie fündig geworden?
Bei einem gewissen Irenaeus von Lyon, einem Autor des 2. Jahrhunderts, findet sich eine Stelle, die darauf hinweist, dass es in Germanien Christen gebe. Wir haben das bislang nicht sehr ernst genommen, ausschließen konnte man es aber natürlich auch vor dem Frankfurter Fund nicht. Hier haben wir nun einen Christen aus diesem Raum. Dass der nicht einfach nur durchgereist war, erschien mir dann immer wahrscheinlicher.
Woraus schließen Sie das?
Das Christentum ist ja meistens den Spuren der Händler gefolgt. Wir finden es zunächst in Hafenstädten – Korinth, Ephesos, die ganz frühen Plätze – und erst später in anderen Gegenden. Es wäre nicht so überraschend, wenn ein Christ aus Lugdunum (Lyon) oder aus Rom in die Gegend gekommen wäre und dort eine gewisse Zeit geblieben wäre, zumal Nida recht wohlhabend war. Aber dieser Christ ist hier sorgsam begraben worden; seine Angehörigen haben ihm dieses Amulett mitgegeben und es ganz sorgsam platziert, damit es nicht verlorengeht. Das spricht sehr dafür, dass dieser Mensch hier verankert war. Natürlich wäre es auch möglich, dass der Tote ein Cousin zweiten Grades oder ein Händler aus Irgendwo war, der auf der Durchreise in Nida verstorben ist und von seinen Bekannten bestattet wurde. Aber irgendeine Beziehung zum Ort muss er gehabt haben; sonst wäre nicht ein solcher Aufwand getrieben worden. Dass es ein ER war, war zunächst übrigens nicht sicher. Ich habe eher auf eine Frau getippt.
Warum dachten Sie, dass es sich um eine Frau handelt?
Weil Frauen sich insgesamt früher zum Christentum bekehrt haben. Das Christentum bot den Frauen Handlungsmöglichkeiten und neue Rollen. Vor allem: Sie mussten nicht heiraten, wenn sie ein respektables Leben führen wollten. Sonst war es in dieser Zeit die Erwartung an eine Frau, dass sie heiratet und Kinder gebiert für ihren Mann. Und Christinnen konnten es rechtfertigen, Jungfrau zu bleiben, haben dadurch sogar ein gewisses soziales Ansehen in ihrer Gemeinde gewonnen, oft im Konflikt mit der Familie natürlich. Christinnen konnten es sich ferner sozial leisten, Witwe zu bleiben und mussten nicht eine neue Ehe eingehen. Witwen hatten eine Schlüsselrolle in christlichen Gemeinden.
Da haben Sie sich aber geirrt, die naturwissenschaftliche Analyse sprach eindeutig für einen Mann.
Ja. Und noch etwas hat mich überrascht: Dass der Mensch in lateinischer Sprache über seinen Glauben kommuniziert hat. Ich hätte erwartet, dass er dies auf Griechisch tut. Aber nur die Formel Hagios, Hagios, Hagios ist griechisch, allerdings auch in lateinischer Schrift.
Ihr Leibniz-Projekt „Polyphonie des spätantiken Christentums“, das Sie 2023 abgeschlossen haben, widmete sich der Erforschung der Vielfalt des spätantiken Christentums, wobei es vor allem um die Zeit vom frühen 4. Jahrhundert bis zum 9. Jahrhundert ging. Hätte der Fund etwas an Ihren Forschungen geändert?
Es hätte nichts am Grundansatz verändert. Dieser bestand gerade darin, dass das Christentum in der Antike immens vielfältig war. Dieser Fund wäre ein neuer Beleg für die auch unerwartete Vielfalt gewesen. In meiner Forschung habe ich mich indes auf den Osten fokussiert, wo auch christliche Texte in nichtklassischen Sprachen – etwa Syrisch / Aramäisch, Koptisch – überliefert sind. Hier hätten wir nun im Westen einen Christen bezeugt, in einem Kontext, in dem wir nichts über Strukturen des Christentums wissen. Das hätte das Projekt bereichert, und wir hätten uns gefreut, eine so frühe und so aufschlussreiche westliche Quelle zur Verfügung zu haben.
Was ist an dem Fund aus religionshistorischer Sicht besonders bemerkenswert?
Es handelt sich um einen Menschen, der theologisch informiert war, der einiges aus der Bibel kannte, und was vor allem dann auch unsere theologischen Berater frappiert hat, war diese Formel Hagios, Hagios, Hagios. Die stammt aus dem Buch Jesaja und wird von Christen auf die Trinität bezogen. Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heiliger Geist, die sind alle drei heilig. Dadurch, dass das im Alten Testament, der Hebräischen Bibel, ihrer Auffassung nach schon angedeutet wird, fühlten sich die Christen in ihrer Vorstellung bestätigt, dass das Alte Testament das neue vorbereite. In theologischen Debatten spielt das aber erst später eine Rolle. Ob diese Formel für diesen Bestatteten eine ganz persönliche Bedeutung hatte? Oder hat er damit theologische Debatten verbunden? Das wissen wir alles nicht.
Und man weiß auch nicht, ob der Tote das selbst verfasst hat, ob er es jemandem diktiert hat oder ob ihm das von einem anderen Menschen geschenkt wurde zum Beispiel zur Taufe, wie es heute üblich ist.
Das ist ein ganz zentraler Punkt. Wenn wir ganz genau wären, müssten wir sagen: Es gibt einen christlichen Diskurs, der sich in diesem Amulett niederschlägt, das diesem Mann von den ihn Bestattenden zugeordnet wurde. Rein theoretisch, aber eine solche These fände ich schon ein bisschen weit hergeholt, könnte es auch sein, dass der Mann gar kein Christ war, sondern seine Angehörigen ihn so sehen wollten. Auch heute ist nicht jedes Patenkind froh über ein christliches Gesangbuch, das ihm geschenkt wird. Gleichwohl: Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Bestattete gar kein Christ war und dass ihm das Amulett nur geschenkt wurde, um ihn zu beschützen, weil jemand dachte, das sei gut für ihn.
Und vielleicht wusste der Mann zu Lebzeiten gar nicht, welchen Text er da bei sich trug. Es konnte ja auch nicht jeder lesen.
Das ist alles möglich. Nach der Entdeckung hieß es irgendwo: Der erste Christ war ein Frankfurter. So einfach ist es aber nicht. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass er sich zum Christentum bekannt hat, aber ganz sicher ist das nicht. Und Frankfurt gab es damals noch nicht.
Das Bekenntnis in dem Text ist aber auf alle Fälle für die damalige Zeit ungewöhnlich in seiner Ausschließlichkeit.
Ja. Was heute selbstverständlich ist, ist für die damalige Zeit eher ungewöhnlich. Damals nahmen viele den Christengott als machtvollen Gott neben anderen wahr. Wer den Christengott verehrte, konnte am nächsten Tag in den Jupitertempel gehen oder sogar in die Synagoge. Das blieb bis ins dritte, vierte Jahrhundert hinein so. Dieses Amulett nun ist rein christlich, und das ist ungewöhnlich. Das macht den Fund besonders spektakulär: Hier ist nur vom Christengott die Rede, es werden ausschließlich Wörter verwendet, die mit großer Wahrscheinlichkeit auch dem Christentum zugeordnet werden können. Das ist absolut bemerkenswert.
Dieser Anspruch des Christentums, dass es nur einen Gott gibt, ähnlich wie im Echnaton-Kult oder im Judentum, dieser Anspruch war damals nicht durchgängig anerkannt.
Ganz und gar nicht. An einzelnen Heiligtümern wurden sogar mehrere Gottheiten verehrt, das war in der antiken Welt ganz normal. So konnte man mehrere Götter nutzen, ohne zu bestreiten, dass die anderen auch wichtig sein könnten. Und so fand bei manchen auch der Christengott „Verwendung“. Es gab ja viele Erzählungen, dass er mächtig sei, von Wundern, die er bewirkte, warum sollte man es nicht auch mal mit dem Christentum versuchen? Unser Forschungsprojekt hat gezeigt, wie wenig selbstverständlich diese eindeutige, exkludierende Form des Christentums in den Anfängen war. Die hat sich erst nach einiger Zeit durchgesetzt, wobei die spätantiken Christen sehr wohl der Auffassung waren, dass die antiken Götter lebten, nämlich insofern, als sie Dämonen waren.
Dies alles haben Sie aber im mediterranen Raum erforscht, weil es hier in unserer Region gar keine Quellen gab bislang. Die Silberinschrift ist sozusagen die erste Quelle aus dieser Zeit.
Ja, aber eine ganz wunderbare Quelle mit großer Reichweite. Erfreulicherweise gibt es in der Mittelmeerregion zu der Zeit schon sehr viele und reichhaltige Quellen: Vor allem aus dem Osten stammen zahlreiche Inschriften, die bis auf das zweite Jahrhundert nach Christus zurückgehen. Als das Christentum noch verboten war, haben sich Christen auf ihrem Grabstein als solche bekannt. Und wir haben unzählige literarische Texte, aus Rom und aus Nordafrika, die uns in lateinischer Sprache sehr viel über den Alltag von Christen vermitteln. Unter den Autoren ist ein gewisser Tertullian, der darauf insistiert, dass die Christen nur den Christengott verehren sollen. Sie sollen nicht in die Arena gehen, weil dort andere Götter verehrt werden, sie sollen nicht an Festen für den Kaiser teilnehmen, weil dort der Kaiser als Gott gefeiert wird, die sollen nicht ins Militär wegen der Kulte dort usw. Das setzt voraus, dass die Christen sich meist anders verhielten, und zeigt, wie wenig klar es war, dass der Christengott so ausschließlich Geltung haben solle, wie es sich Theologen vorstellten. Auch wenn schon Paulus die Ausschließlichkeit des Christengotts betont, gibt es ja überhaupt keine historische Notwendigkeit dafür, dass Paulus sich durchsetzen würde.
Erwarten Sie, dass noch andere Quellen in dieser Art auftauchen?
Ich halte das für gut möglich. Die technischen Möglichkeiten sind inzwischen so gut, und die Sensibilität für solche auf den ersten Blick unscheinbaren Funde, die ein Laie vielleicht einfach wegwerfen würde, ist sehr gewachsen. Eine Steininschrift werden wir vermutlich nicht finden. Aber so etwas Kleines, das schon – und ausschließen kann man gar nichts.
Spielte die Gegend hier bislang eine Rolle in Ihrer Forschung?
Bislang habe ich mich mit unserer Region nur in der Lehre beschäftigt. Ich würde das aber nicht ausschließen: Wir gehen immer dahin, wo die Quellen sind.
Was waren bisher die frühesten Quellen für das Christentum in unserer Region?
Außer den Hinweis bei Irenaeus gibt es Hinweise auf Bischöfe, zum Teil auch schon aus dem dritten Jahrhundert. Sicher bezeugt sind die aber erst seit dem 4. Jahrhundert, seit der Zeit Konstantins des Großen, als überregionale Konzilien stattfanden und wir die Liste der Teilnehmenden haben.
Wenn ein Bischof da ist, müssten die Strukturen darunter ja eigentlich schon vorhanden sein, oder nicht?
Ja, die Wahrscheinlichkeit, dass da irgendeine christliche Institution war, ist groß, dass Menschen sich dort zu einem Gottesdienst zusammenfanden.
Gehen Sie davon aus, dass der Mann Mitglied einer christlichen Gemeinde war?
Er hätte auch als Einzelgänger Christ sein können. Als Christ war er nicht zwingend an eine Gemeinde gebunden. Es gab auch sehr individuelle Christen, die überzeugt werden mussten, mit dem Pöbel zum Gottesdienst zu gehen. Aus der Tatsache, dass er Christ war, lässt sich nicht schließen, dass zu seiner Zeit bereits Gottesdienste in dieser Gegend stattgefunden hätten, aber dies macht es wahrscheinlicher, dass Christen hier auch gemeinsam feierten.
Arbeiten Sie häufiger mit der Archäologie zusammen?
Ja, wir teilen viele Interessen; mit Herrn Scholz zum Beispiel teile ich das Interesse an Inschriften. Typischerweise große Steininschriften, wie man sie aus Museen kennt. Die haben einen Kontext, den man verstehen muss. Das geht nur mit der Archäologie.
Was kann die Archäologie, was Sie nicht können?
Sie kann aufgrund der Grabung auch den Kontext einer Inschrift herausfinden, und der ist oft wichtig, um einen Text richtig deuten zu können. Archäologen können auch bei Bildern großräumige Zusammenhänge darstellen, die wir Historiker nicht kennen.
Und sind Sie ständig im Gespräch oder nur anlassbezogen? Gibt es an der Goethe-Universität ein Forum, wo man sich interdisziplinär austauscht?
Es gibt an der Goethe-Universität das interdisziplinäre Colloquium Classicum, das Alte Geschichte, Klassische Philologie und Klassische Archäologie gemeinsam gestalten. Die Teilnahme der Klassischen Archäologie ist relativ neu, hat sich aber schon als sehr fruchtbar erwiesen. Ansonsten gibt es viele Einzelgespräche und Tagungen, bisweilen auch Qualifikationsarbeiten, die wir gemeinsam betreuen. Vieles ist anlassbezogen, aber natürlich sehe ich auch die archäologische Fachliteratur durch. Ich will wissen, was gefunden wird. Die Archäologen „produzieren“ ja die meisten neuen Quellen.
Sie werden weiter zur Silberinschrift forschen. Wie könnte das ausschauen?
Ich könnte mir vorstellen, das Thema Hagios, Hagios, Hagios weiterzuverfolgen. Und was ich mir auch noch vorstellen kann, wäre, das Amulett nochmal ganz systematisch mit anderen Amuletten in der Textgestalt zu vergleichen. Es wäre sicher auch interessant, z.B. für eine Masterarbeit, sich auch die griechischen Amulette anzuschauen und zu prüfen, wo es Vergleichspunkte gibt.