»Ich wollte wissen, woher Sprache kommt«

Interview mit Susan Goldin-Meadow, Pionierin der psychologischen und linguistischen Gestenforschung

Foto:Andrew Angelov/Shutterstock

Wir alle kommunizieren nicht nur mit Worten, sondern auch mit Gestik und Mimik. In der Erforschung der menschlichen Kommunikation haben diese sichtbaren Zeichen lange Zeit kaum eine Rolle gespielt. Professorin Susan Goldin-Meadow widmet sich seit Langem schon diesem Bereich, der in Psychologie und Linguistik neue Perspektiven eröffnet.

Anke Sauter: »Thinking with Your Hands: The Surprising Science Behind How Gestures Shape our Thoughts« – so lautet der Titel Ihres 2023 erschienenen Buches. Sind Sie selbst manchmal von Ihrer Gestik überrascht?

Susan Goldin Meadow: Wenn ich Vorträge halte, versuche ich mir bewusst zu machen, wie ich meine Hände benutze und ob ich sie konsistent einsetze. Aber manchmal passiert das Gestikulieren einfach – ich merke, dass meine Hände nach oben gehen, besonders, wenn ich begeistert über etwas spreche.

Ist das Reflektieren über die eigene Gestik der Grund Ihrer Forschung zu diesem Thema?

Ich habe meine Hände schon immer viel benutzt, wenn ich spreche, aber das ist nicht der Grund, warum ich mich für Gesten interessiert habe. Ich bin auf eine andere Weise zu diesem Thema gekommen: Ich wollte wissen, woher Sprache kommt. Um das herauszufinden, habe ich an gehörlosen Kindern geforscht, deren Gehör so stark beeinträchtigt war, dass sie die gesprochene Sprache in ihrer Umgebung nicht lernen konnten und deren hörende Eltern ihnen keine Gebärdensprache beigebracht hatten. Dennoch entwickelten sie ein eigenes Gestensystem, das »Homesign« genannt wird. Ich wollte wissen, ob dieses System durch die Gesten ihrer hörenden Eltern beeinflusst wurde, was bedeutete, dass ich die Gesten untersuchen musste, die hörende Sprecherinnen und Sprecher beim Reden verwenden. Ich habe die Gesten der hörenden Eltern mit den Homesigns der gehörlosen Kinder verglichen und nur wenige Übereinstimmungen gefunden. Auch habe ich die Gesten hörender Kinder mit den Homesigns der gehörlosen Kinder verglichen, um zu sehen, wie weit Homesign über die typische Gestik hinausgeht. Meine Studien zu den Gesten von Hörenden waren zunächst eine Kon­trollgröße für meine Studien über die Homesigns gehörloser Kinder.

Welchen Einfluss hatte der berühmte Kindheitsforscher Jean Piaget auf Ihre Forschung? Sie haben eine Zeitlang bei ihm studiert.

In Genf habe ich angefangen, mich für Kognition und Denken zu interessieren und bemerkt, wie wichtig es ist, Kinder genau zu beobachten. Als ich in die USA zurückkehrte und mein Promotions­studium an der University of Pennsyl­vania begann, fing ich an, kindliche Kommunikation zu beobachten und Gestik zu entdecken.

Warum wurde die visuelle Kommunikation zum Beispiel in der Linguistik so lange vernachlässigt?

Die Linguistik hat sich immer auf die Sprache konzentriert. So sehr, dass sie sogar die Gebärdensprache viele, viele Jahre nicht als echte Sprache betrachtet hat. Heute ist das anders, Gesten gelten ebenfalls als Teil der Kommunikation, insbesondere im Zusammenhang mit Prosodie* und Sprachdynamik.

* Gesamtheit der lautlichen Eigenschaften der gesprochenen Sprache (die Red.)

Früher war es ja auch schwierig, Gesten aufzuzeichnen.

Es gibt ein Buch von David Efron von 1941, mit von ihm gezeichneten Bildern. Er untersuchte, ob sich die Gesten von jüdischen und italienischen Menschen, die in die USA eingewandert waren, infolge ihres neuen kulturellen Umfelds verändert hatten. Er argumentierte, dass Gesten in hohem Maße nicht angeboren, sondern kulturell geprägt sind. Er war ein Pionier der Gestenforschung.

Das Erstaunliche ist, dass die geschriebene Sprache funktioniert

Heutzutage wird geschriebene Sprache in sozialen Medien und Kurznachrichtendiensten oft von Smileys und Emojis begleitet. Zeigt dies, dass der geschriebenen Sprache eine Dimension fehlt?

Das Erstaunliche ist eher, dass die geschriebene Sprache so gut funktioniert, obwohl ihr die Prosodie, Mimik und Gestik fehlen. Interessanterweise ist es bisher niemandem gelungen, ein funktionierendes Schriftsystem für die Gebärdensprache zu entwickeln. Diese Versuche scheitern offenbar daran, dass bestimmte Aspekte der Kommunikation weggelassen werden, die für das Verständnis notwendig sind.

Im Schwerpunktprogramm ViCom werden Emojis in gewisser Weise wie Gesten behandelt. Stimmen Sie dem zu?

Zum Teil. Die meisten Emojis drücken Emotionen aus (wie der Name schon sagt). Es gibt aber auch Gesten, die Emotionen übermitteln. Und es gibt Gesten, die Inhalte transportieren. Diese inhaltlichen Gesten stehen im Zentrum meiner Arbeit.

Auch blinde Menschen, die nie sehen konnten, verwenden Gesten, selbst wenn sie mit anderen Blinden kommunizieren. Warum?

Die Tatsache, dass wir am Telefon gestikulieren, auch wenn uns niemand sieht, zeigt doch, dass die Gestik ein wirklich wichtiger Teil unseres Verhaltens ist. Schauen Sie sich Dolmetscherinnen und Dolmetscher an: Sie sitzen allein in ihren Kabinen und gestikulieren die ganze Zeit, obwohl sie niemand sieht. Das deutet daraufhin, dass Gesten ein Bestandteil des Sprechens sind. Dass auch blinde Menschen gestikulieren, spricht dafür, dass man nie jemanden gestikulieren gesehen haben muss, um das Bedürfnis zu fühlen, beim Sprechen die Hände zu bewegen.

Gesten helfen, Gedanken zu ordnen

Wir wissen also nicht, warum wir es tun?

Doch, zumindest teilweise. Gestikulieren verringert unsere kognitive Belastung, hilft uns beim Erinnern und dabei, unsere Gedanken zu strukturieren. Es hilft aber auch anderen, indem ihre Aufmerksamkeit auf unsere Worte und die Welt gelenkt wird.

Was sagen uns Ihre Studien mit gehörlosen Kindern über den Ursprung der menschlichen Sprache?

Sprache, wie wir sie kennen, wird von Generation zu Generation weitergegeben und verändert sich im Laufe der Zeit. Die Studien zu Homesign zeigen jedoch, dass wenn ein Kind ohne Zugang zur Sprache seiner Gemeinschaft aufwächst, es dennoch einige Aspekte von Sprache selbst erfinden kann. In Homesign finden wir also Eigenschaften von Sprache, die wahrscheinlich durch biologische Evolution entstanden sind und nicht durch die kulturelle Entwicklung – also nicht durch den Wandel über Generationen hinweg.

Der Ursprung der menschlichen Sprache ist also nicht unbedingt visuell, aber die visuelle Sprache von tauben Kindern kann zeigen, welche Elemente der Sprache universell sind – so zum Beispiel Objekte oder Subjekte in Sätzen.

Genau. Die erste Sprache war nicht unbedingt gestisch, aber der Mensch hat wahrscheinlich von Anfang an mit ­Lauten und Gesten kommuniziert. Homesign zeigt, wie Menschen die Welt strukturieren, wenn sie über sie kommunizieren – eine Struktur, die nicht aus überlieferter Sprache stammt.

Das erinnert ein wenig an Noam Chomskys Theorie der Generativen Grammatik?

Ja. Ich denke, Chomsky war erfreut, von Homesign zu hören – und wahrscheinlich auch nicht überrascht. Aber Chomsky schreibt der Universalgrammatik weitaus komplexere Eigenschaften zu, als wir sie in Homesign finden. Die Eigenschaften, die wir in Homesign sehen, sind jene, auf die sich die meisten Linguistinnen und Linguisten einigen können – Dinge wie Sätze, Wörter, Wortstellung, aber Chomskys Theorie geht weit darüber hinaus.

Wie alt waren die Kinder, die Sie untersucht haben? Je älter sie sind, desto mehr Einflüssen sind sie doch ausgesetzt.

Das stimmt, besonders in den USA. Aber in Nicaragua zum Beispiel gibt es noch erwachsene »Home Signers«. Dort leben gehörlose Menschen in einer hörenden Welt. Die hörenden Menschen kennen das Homesign-­System kaum. Die Forschung von Maria Coppola hat sich mit dieser Frage beschäftigt.

Und wie weit kommen die erwachsenen Homesigners?

Das ist die zentrale Frage: Wie weit kann man mit Homesign kommen? Ab welchem Punkt ist kulturelle Weitergabe notwendig, um das System weiterzuentwickeln? Wo endet Homesign, und wo beginnt Gebärdensprache?

Gesten bringen neue Ideen hervor

Sie haben auch erforscht, dass eine Diskrepanz zwischen gleichzeitig gesprochenen Wörtern und Gebärden ein hohes Potenzial hat, zum Beispiel für das Lernen. Können Sie das erläutern?

Ja. Die Diskrepanz zwischen der Information, die durch Gesten und durch Sprache vermittelt wird, ist in mehr­facher Hinsicht nützlich für das Lernen. Erstens: Die Information, die in einer Geste übermittelt wird, aber nicht in der Sprache, ist Wissen, das der Lernende implizit besitzt, aber nicht explizit ausdrücken kann. Zweitens: Wenn ein Kind etwas in einer Geste ausgedrückt, aber nicht in der Sprache, ist das ein Zeichen dafür, dass es bereit ist, zu diesem Konzept unterrichtet zu werden. Lehrkräfte können auf dieses Zeichen der Lernbereitschaft reagieren, indem sie genau die richtige Unterstützung geben, von der das Kind profitiert. Wir reagieren auf die Gesten anderer Menschen, ohne es überhaupt zu merken. Wenn ich also eine Idee ausdrücke, von der ich selbst gar nicht weiß, dass ich sie habe, und jemand anderes darauf eingeht, kann das eine wertvolle Rückmeldung für mich sein. Wenn wir Kinder dazu ermutigen zu gestikulieren, kann das sie dazu bringen, neue Ideen auszudrücken und offener für Instruktion zu sein. Wenn wir Ideen mit unseren Händen aus­drücken, macht das diese Ideen zugänglicher und lernbarer.

Sind die Gesten also näher an unserem Verstand als die gesprochene Sprache?

Ich denke, dass Gesten einfach konkreter sind und bestimmte Vorstellungen sichtbarer machen können als gesprochene Sprache. Man kann mit den Händen zeigen, wie man einen Deckel dreht, aber die Geste alleine öffnet nicht den Deckel, es sei denn, jemand interpretiert sie als Handlungsaufforderung. Gesten befinden sich zwischen dem tatsächlichen Handeln und der Repräsentation der Handlung.

Sind Gesten wahrer oder gar ehrlicher?

Das ist eine gute Frage. Eine meiner Studentinnen, Amy Franklin, führte eine Studie durch, in der Menschen gebeten wurden, ein Ereignis absichtlich falsch zu beschreiben. Sie schilderten es wie vorgegeben (mit anderen Worten: Sie logen) – aber die Wahrheit zeigte sich in ihren Gesten.

Könnte das Wissen über Gesten eines Tages in der Kriminalistik genutzt werden?

David McNeill, ein bekannter Gesten­forscher, hatte einen Mitarbeiter der Polizeibehörde in sein Labor eingeladen, um das herauszufinden. Ich denke, es müsste schon ein sehr aufmerksamer Beobachter sein, um es zu benutzen.

Gesten als diagnostisches Instrument für die Sprachentwicklung

Sie haben auch die Rolle von Gesten bei der Diagnose von geistigen Entwicklungsstörungen in der frühen Kindheit beschrieben.

Bei kleineren Kindern können Gesten den nächsten Schritt in der Sprachentwicklung vorhersagen. Wenn ein Kind auf eine Tasse zeigt und »Mama« sagt, bedeutet das im Grunde: »Das ist Mamas Tasse«. Etwa drei Monate nach solchen Gesten-Sprach-Kombinationen beginnt das Kind, Zweiwortsätze wie »Mama Tasse« zu bilden. Kinder mit Hirnschädigung haben oft Schwierigkeiten beim Sprechen. Aber Kinder mit Hirnschädigung, die wie typischerweise entwickelte Kinder gestikulieren können, lernen Wörter genauso schnell wie gesunde Kinder.

Und diese diagnostische Methode wird noch nicht angewandt?

Ich glaube, dass gute Klinikerinnen und Kliniker Gesten intuitiv nutzen, aber es wird nicht so systematisch eingesetzt, wie es möglich wäre. Wir müssten ein brauchbares diagnostisches System entwickeln, um die Nutzung von Gesten bei Kindern zu beurteilen. Ein Ziel, das ich hoffentlich eines Tages erreichen werde.

Die Linguistin Cornelia Ebert leitet ein großes Projekt, das sich mit visueller Kommunikation befasst. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Fragen?

Im Projekt ViCom gibt es viele wirklich interessante Fragestellungen. Wie arbeiten Gestik und Sprache zusammen, um sich gegenseitig zu ergänzen? Diese Frage im Rahmen der Linguistik zu erforschen, ist ein hervorragender Ansatz. Aber wir müssen noch genauer hinsehen: Welchen Status hat die Information, die durch Gesten vermittelt wird? Ist sie Teil unserer sprachlichen Repräsentationen? Wenn nicht – wo ist sie dann kodiert? Das ViCom-Team arbeitet an genau diesen Fragen.

Es gibt mehr, was wir nicht wissen, als was wir wissen

Was ist Ihr Part bei ViCom?

Ich war ein Jahr lang Mercator-Fellow und war zweimal in Frankfurt. Ich führe eine Studie mit einem der ViCom-­Forscher durch – Patrick Trettenbrein vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften. Wir untersuchen Gebärdensprache und Gestik und ver­suchen herauszufinden, wie Gesten gemeinsam mit der Gebärdensprache verwendet werden.

Gibt es denn noch viel zu entdecken im Bereich visueller Kommunikation?

Es gibt mehr, was wir nicht wissen, als was wir wissen. Als Psychologin interessiere ich mich besonders für die Rolle, die Gesten im Lernprozess spielen – und wie sie uns beim Denken und Lernen helfen. Es gibt auch eine Reihe von Fragen, die sich aus meiner Arbeit zum Homesign ergeben, etwa welche Eigenschaften von Sprache durch biologische Evolution entstanden sind und welche durch kulturelle Evolution.

Und Sie beforschen beide Gebiete?

Ja. Für meine Forschung zur Rolle von Gesten beim Lernen führen wir Bild­gebungsverfahren für das Gehirn durch. Wir möchten herausfinden, was im Gehirn passiert, wenn wir eine Idee in Gesten ausdrücken und eine andere Idee in der Sprache. Und was passiert, wenn wir durch eine Instruktion lernen, die Gesten einbezieht. Aus der Verhaltensforschung wissen wir, dass wir besser lernen, wenn wir gestikulieren, als wenn wir es nicht tun – und dass wir das Gelernte besser behalten und verallgemeinern können, wenn wir beim Lernen gestikulieren. Unser nächster Schritt ist es, die Gehirnmechanismen zu erklären, die diesen beobachteten Verhaltenseffekten zugrunde liegen.

Photo: Stefanie Wetzel

Zur Person
Susan J. Goldin-Meadow, geboren 1949, ist Professorin für Psychologie an der University of Chicago. Sie erlangte ihren Bachelor-Abschluss am Smith College in Northampton, Massachusetts, und promovierte an der University of Pennsylvania, wo sie 1975 ihren Doktortitel erlangte. Außerdem studierte sie in Genf (Schweiz) bei Jean Piaget. Seit 1976 ist sie Professorin an der University of Chicago. Ihr Interesse gilt der sprachlichen und kognitiven Entwicklung bei Kindern, insbesondere der Entstehung von Sprache und der Rolle von Gestik in Kommunikation und Denken. Sie ist Mitglied der National Academy of Sciences und der American Academy of Arts and Sciences (AAAS) sowie Fellow der American Association for the Advancement of Science. Sie war Vorsitzende der Sektion Linguistik und Sprachwissenschaften der AAAS. Susan J. Goldin-Meadow hat zahlreiche renommierte Auszeichnungen und Stipendien erhalten, darunter 2015 den William James Award der Association for Psychological Science für ihre Lebensleistung in der Grundlagenforschung. Im Jahr 2022 erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Universität Genf. Sie ist Gründungsherausgeberin der Zeitschrift Language Learning and Development (gegründet 2004). Im Jahr 2024 wurde Susan Goldin-Meadow von Cornelia Ebert, Professorin für Linguistik/Semantik an der Goethe-Universität Frankfurt und Goethe Fellow am Forschungskolleg Humanwissenschaften in Bad Homburg, nach Frankfurt eingeladen.
sgm@uchicago.edu

Photo: Uwe Dettmar

Die Interviewerin
Dr. Anke Sauter,
Jahrgang 1968, ist Wissenschaftskommunikatorin und Redakteurin für Forschung Frankfurt.
sauter@pvw.uni-frankfurt.de

Zur gesamten Ausgabe von Forschung Frankfurt 1/2025: Sprache, wir verstehen uns!

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