Deutschlands Bildungswesen soll inklusiver werden, und dafür braucht es qualifizierte Fachkräfte und eine gute Diagnostik. Seit 2017 fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung wissenschaftliche Projekte im Bereich inklusive Bildung als eigenen Schwerpunkt im Rahmenprogramm Bildungsforschung. In der ersten Förderphase ging es um die Qualifizierung der pädagogischen Fachkräfte, in der zweiten wird es um Diagnostik gehen. Die Goethe-Universität hat sich auch diesmal erfolgreich durchgesetzt – mit vier Verbundprojekten und einem Metavorhaben.
Die Entwicklung neuer Aus-, Fort- und Weiterbildungskonzepte und ‑materialien für Fachpersonal im Bildungswesen, sie stand im Zentrum der Förderrichtlinie „Qualifizierung der pädagogischen Fachkräfte für Inklusion“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Diese Entwicklung sollte auf wissenschaftlichen Grundlagen und an unterschiedlichen Standorten stattfinden. Die erste Phase umfasste 20 Einzel- und 18 Verbundprojekte, fünfen mit Beteiligung der Goethe-Universität. Zudem hatten die Frankfurter Erziehungswissenschaftler Prof. Dieter Katzenbach und Prof. Michael Urban ein Metavorhaben eingeworben, das für Vernetzung, Transfer und Forschung auf Metaebene – etwa zum internationalen Forschungsstand – zuständig war. Eine zentrale Homepage wurde erstellt, die unter www.qualifizierung-inklusion.de zu finden ist, eine peer-reviewte Online-Zeitschrift mit dem Titel Qfl – Qualifizierung für Inklusion – ins Leben gerufen (www.qfi-oz.de). Bei Veranstaltungen kamen nicht nur die Projektbeteiligten zusammen, sondern auch andere Akteure aus Praxis, Administration und Politik. Im Rahmen des Metavorhabens werden auch vier Sammelbände erstellt, die die Ergebnisse der ersten Phase für die Praxis verfügbar machen sollen. Die Bände erscheinen im Frühjahr 2022.
Diese vielfältige und erfolgreiche Arbeit kann nun für weitere fünf Jahre fortgesetzt werden, das BMBF hat allein für das Metavorhaben weitere 1,7 Millionen Euro zugesagt, insgesamt fließen 2,7 Millionen Euro an die Goethe-Universität. Diese zweite Förderphase trägt den Titel „Förderbezogene Diagnostik in der inklusiven Bildung“, legt den Fokus also auf Diagnostik. Das Team um Prof. Katzenbach und Prof. Urban wird sich vor allem der Einrichtung und Verstetigung einer Kontaktstelle für alle im Bildungswesen Beteiligten widmen. Mit Hilfe einer Datenbank und durch die Etablierung neuer Kommunikationswege sollen Forschungsergebnisse sowie die von den Projekten entwickelten Produkte und Materialien Personen außerhalb der Wissenschaft zugänglich gemacht werden.
Prof. Dieter Katzenbach: „Metavorhaben sind ein neues Instrument im Bereich der Forschungsförderung. Wir sind sehr froh, dass wir das Metavorhaben zur inklusiven Forschung und damit das erste Metavorhaben im Bereich der Bildungsforschung überhaupt hier an der Goethe-Universität ansiedeln konnten. Dies war in der ersten Förderphase mit einer intensiven Entwicklungsarbeit verbunden, bei der wir uns auf die lange Erfahrung der Frankfurter Erziehungswissenschaften im Bereich der Inklusionsforschung und auf bereits bestehende gute Vernetzungen mit der Bildungspraxis auf regionaler und überregionaler Ebene stützen konnten. Diese gilt es nun weiter auszubauen.“
Prof. Michael Urban: „Wir betrachten unsere Arbeit als Teil einer sich derzeit vollziehenden gesellschaftlichen Entwicklung, in der sich das Verhältnis von Wissenschaft und anderen gesellschaftlichen Bereichen neu justiert. Dabei geht es darum, dass in der Wissenschaft mitreflektiert wird, wie die eigenen Forschungsergebnisse in anderen gesellschaftlichen Feldern wirksam werden können, und gleichzeitig darum, dass in diesen anderen gesellschaftlichen Bereichen die Fähigkeit entsteht, das Forschungswissen für eine Verbesserung der eigenen Prozessabläufe zu nutzen. Das ist natürlich eine Problematik, die wir mit dem Metavorhaben nicht alleine lösen können. Aber wir betrachten es als eine unserer zentralen Aufgaben, für das Feld der Inklusion in Bildungsprozessen Räume und Settings zu schaffen, in denen Bildungspraxis, Bildungspolitik und Bildungsforschung genau dieses wechselseitige Verständnis entwickeln können, das wir als eine entscheidende Grundlage für ein gesellschaftliches Wirken von Forschung betrachten.“
Prof. Bernhard Brüne, Vizepräsident der Goethe-Universität mit dem Themenschwerpunkt Forschung: „Es ist gut, dass diese wichtige Arbeit nun fortgesetzt werden kann. Das Metavorhaben spielt eine sehr große Rolle dabei, dass die Forschung zur inklusiven Bildung auch tatsächlich in den Bildungseinrichtungen ankommt. Das bringt uns einer inklusiven Gesellschaft sicher einen großen Schritt näher.“
Die vier Verbundforschungsprojekte, an denen die Goethe-Universität im Rahmen der Förderrichtlinie „Förderbezogene Diagnostik in der inklusiven Bildung“ beteiligt ist:
Inklusive Diagnostik in Verfahren zur Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs? Zwischen angemessener Förderung und institutioneller Diskriminierung (InDiVers) (Verbundpartner: Technische Universität Darmstadt)
Die Frage, wie individuelle Bedarfe von Schülerinnen und Schülern festgestellt und notwendige Hilfen bereitgestellt werden können, ohne damit (unbeabsichtigt) auch Stigmatisierungen hervorzurufen, ist grundlegend für das interdisziplinäre Verbundprojekt InDiVers. Eine Lupenstelle für dieses Spannungsfeld stellen die Verfahren zur Feststellung von sonderpädagogischem Förderbedarf dar. Zu dieser Lupenstelle liegt bislang kaum wissenschaftliches Wissen vor. Hier setzt das Verbundprojekt an und analysiert, wie die Verfahren im Einzelfall konkret verlaufen (Teilprojekt Darmstadt) und wie diese in regionale Strukturen in unterschiedlichen Bundesländern eingebettet sind (Teilprojekt Frankfurt). Dabei nutzen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Konzept institutioneller Diskriminierung, um jene Strukturen und Regeln in den Blick zu nehmen, die im schulischen Alltag die Entwicklung und Umsetzung einer inklusiven Diagnostik erschweren. Die Ergebnisse werden in regionalen Workshops als Entwicklungsimpulse vor Ort zur Verfügung gestellt. Außerdem geht es um die Entwicklung, Erprobung und Evaluierung von Konzepten zur Professionalisierung von Lehrkräften für eine inklusive Diagnostik in einem ko-konstruktiven Prozess gemeinsam mit Fachleuten der Aus-, Weiter- und Fortbildung.
Projektleitung: Dr. Julia Gasterstädt, Institut für Sonderpädagogik
Förderbetrag: 279.778,17 Euro
Diagnose von Barrieren für autistische Schüler*innen in inklusiven Schulen (schAUT) (Verbundpartner: Humboldt-Universität zu Berlin, White Unicorn – Verein zur Entwicklung eines autistenfreundlichen Umfeldes e. V. Berlin)
Das Verbundprojekt untersucht, wie das gemeinsame Lernen insbesondere für autistische Schülerinnen und Schüler gelingen kann. Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass Bildungserfolg und Teilhabe wesentlich davon abhängen, ob individuell relevante Barrieren abgebaut werden können. Ziel des Verbundprojekts ist es, ein alltagstaugliches Diagnosetool zu entwickeln, um individuelle Barrieren zu ermitteln und die Lernumgebungen entsprechend zu optimieren. Von besonderer Bedeutung sind hier schulische Übergangsphasen wie der Eintritt in die Grundschule oder in die weiterführende Schule. Das Tool soll auch in Fortbildungsveranstaltungen für Lehrkräfte erprobt werden. Aus den dabei gewonnenen praxisorientierten Erkenntnissen soll zusätzlich eine Handreichung zum Abbau der gefundenen Barrieren entstehen. Das Teilprojekt an der Goethe-Universität fokussiert auf qualitative Analysen und nimmt eine inklusionspädagogische Perspektive ein. Das Diagnosetool schAUT soll über die Kultusministerien allen Schulen als kostenloser Download bereitgestellt werden.
Projektleitung: Prof.‘in Dr. Vera Moser, Institut für Sonderpädagogik
Förderbetrag: 203.809,76 Euro
Diagnostische Praxis zur Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs und Bundeslanddisparitäten im Kontext der UN-BRK – Teilprojekt: Einsatz und Nutzung sonderpädagogischer Diagnostik (FePrax) (Verbundpartner: Humboldt-Universität zu Berlin, DIPF-Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation Frankfurt)
Die sonderpädagogische Diagnostik ist nicht nur ein zentrales sonderpädagogisches Professionsmerkmal, sondern steht im Kontext inklusiver Beschulung im Spannungsverhältnis von Platzierung (Einzelschule, Schulform), Lernprozessdiagnostik und Ressourcengenerierung. Für Schüler und Schülerinnen werden hier jeweils weitreichende bildungsbiografische Entscheidungen getroffen, so dass dieser Thematik auch eine besondere gesellschaftliche wie wissenschaftliche Aufmerksamkeit zukommt. Das Verbundprojekt FePrax untersucht die sonderpädagogische Gutachtenerstellung sowie die Beratung von Sorgeberechtigten vergleichend in fünf Bundesländern in Bezug auf die sonderpädagogischen Förderschwerpunkte Lernen, Geistige Entwicklung, Sprache, emotionale und soziale Entwicklung, Sprache und Autismus. Für Kontextinformationen werden darüber hinaus Interviews mit den Leitungen der mit der Diagnostik beauftragten Schulen und diagnostischen Diensten sowie mit den Lehrkräften der aufnehmenden Schule oder Klasse in Bezug auf die Nutzung der gutachterlichen Informationen eingeholt. Zudem wird ein Fragebogen für die Sorgeberechtigten eingesetzt. Übergeordnetes Ziel des Verbundprojekts ist es, durch die wissenschaftliche Analyse von Diagnosepraxen, Urteilsfindungen und systembedingten Strukturen des Beratungsprozesses Hinweise für eine verbesserte Beratungspraxis zu entwickeln. Für einen erfolgreichen Transfer der Forschungsergebnisse in die Praxis erstellen die Forschenden abschließend eine Handreichung.
Verbundkoordination: Prof.‘in Dr. Vera Moser
Förderbetrag: 232.535,20 Euro
Förderdiagnostische Professionalisierung in der inklusiven naturwissenschaftlichen Bildung in der Kita (ProfinK) (Verbundpartner: Universität Leipzig, Universität Koblenz-Landau, Universität Hamburg)
Jedes Kind ist einzigartig und bedarf bereits in der Kita einer individuellen Förderung. Inklusiv arbeitende Kitas verfolgen diesen Ansatz besonders bewusst. Individuelle Entwicklungen in der täglichen pädagogischen Arbeit wahrzunehmen, zu dokumentieren und Ideen zur Förderung abzuleiten, ist für pädagogische Fachkräfte besonders fordernd. Im Projekt soll deshalb ein förderdiagnostisch angelegtes E-Portfolio entwickelt werden, in dem Sprachentwicklung, Selbstregulation sowie naturwissenschaftliches Interesse und Kompetenz bei Kindern mit bildungsrelevanten Risiken über einen längeren Zeitraum in den Blick genommen werden. Es wird geprüft, inwieweit Professionalisierungsmaßnahmen zur Nutzung des E-Portfolios im Kita-Alltag beitragen und pädagogische Fachkräfte durch deren Einsatz ihre diagnostischen Fähigkeiten erweitern, Maßnahmen optimal umsetzen und Team-, Eltern- und Kindergespräche passgenauer führen. Inbegriffen ist eine Evaluation des E-Portfolios, das auch als App und in E-Tutorials verfügbar sein wird.
Projektleitung: Prof.‘in Dr. Ilonca Hardy, Institut für Pädagogik der Elementar- und Primarstufe
Förderbetrag: 262.194,98 Euro
Näheres zu den beiden Förderlinien finden Sie unter: www.empirische-bildungsforschung-bmbf.de/de/3430.php