Kant und seine sozialistischen Interpreten: William Levine im Porträt

Der Amerikaner William Levine arbeitet als Postdoctoral Fellow am Forschungskolleg Humanwissenschaften über einen etwas in Vergessenheit geratenen »linken« Zweig der Neokantianer. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wollten diese die Ideen des deutschen Philosophen für Fragen der Demokratie, Gleichheit und Gerechtigkeit nutzbar machen.

Am Forschungskolleg werde leider fast nur Englisch gesprochen, beklagt sich augenzwinkernd William Levine; dabei würde er doch so gerne sein Deutsch verbessern. Der Amerikaner beschäftigt sich bereits seit seinem Studium mit der deutschen Philosophie. Sich auf die deutsche Sprache einzulassen, kam nicht ganz freiwillig zustande, erzählt Levine: „Mein Doktorvater gab mir das so mit auf den Weg – und das bedeutete, dass ich mich auf eine längere Reise ins Deutsche machen musste.“ Philosophische Texte auf Deutsch zu lesen, stellt für ihn heute kein Problem mehr dar; wenn er seine Forschungsergebnisse vorstellt, bevorzugt er aber seine Muttersprache. Ursprünglich landete Levine durch die Beschäftigung mit Heidegger und seinen Einfluss auf den Existentialismus beim deutschen Idealismus und Kant. „Die deutsche Philosophie spielt an amerikanischen Universitäten traditionell eine große Rolle“, betont er. Daneben kam aber auch die Geschichte seiner Familie zum Tragen: „Ich wuchs in einem jüdischen Elternhaus auf, dadurch entstand bei mir ein großes Interesse an den deutschstämmigen jüdischen Wissenschaftlern, die in die USA immigriert sind.“

William Levine hat 2019 an der University of Chicago mit einer Arbeit über „The Movement is Everything: Radical Kantianism and the Ideal of Emancipation in Modern German Political Thought“ promoviert. Er erläutert, wie er auf diesen etwas randständigen Bereich der Kantforschung gestoßen ist: „Ich hatte mich im Bereich der Politischen Theorie mit der Frage beschäftigt, wie wir uns die Zukunft vorstellen. Ich stieß dann auf einen Zweig von Neokantianern, die zumindest zum Teil heute in Vergessenheit geraten sind. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, unter dem Eindruck der Industrialisierung, von kapitalistischen Auswüchsen und der Ausbeutung des Arbeiters, haben diese Denker nochmal an Kants Moralphilosophie und an seinen berühmten kategorischen Imperativ erinnert. Nach dem Persönlichkeitsprinzip verpflichtet Kant den Menschen darauf, andere Menschen als Personen mit eigenen Gedanken, Wünschen und Absichten zu betrachten. Kant war ja bereits besorgt darüber, dass Menschen sich einander in der Interaktion zu bloßen Instrumenten degradieren.“ Levine sieht im Denken der Kantischen Sozialisten das Potenzial, dass wir auch in der heutigen Zeit erkennen, wie fragil Demokratie, Gerechtigkeit und Gleichheit sind, wie sehr es einer Wiederbelebung ethischer Ideale bedarf.

Levine genießt den Aufenthalt am Forschungskolleg, der von der Alfons und Gertrud Kassel-Stiftung unterstützt wird; vor allem das tägliche Gespräch beim Lunch hat es ihm angetan: „Auch wenn wir uns doch mit sehr unterschiedlichen Forschungsthemen beschäftigen, finden wir immer einen Weg des Austausches.“ Gespräche mit Philosophen, Geistesgeschichtlern und Religionswissenschaftlern sind für ihn im besten Sinne von einer fruchtbaren Interdisziplinarität geprägt. Auch das von Prof. Rainer Forst geleitete Kolloquium sieht der Amerikaner als große Bereicherung, um neue Ideen für seine Forschung zu entwickeln, im kritischen Diskurs mit anderen Wissenschaftler*innen. Noch bis zum Juli wird Levine zu Gast in Bad Homburg sein. Im September geht es dann erstmal zurück in die USA, er wird dann Harper-Schmidt Fellow und Collegiate Assistant Professor an der University of Chicago. Seine Frau, eine angehende Ärztin, schließt gerade in Michigan ihr Studium ab. Die beiden können sich aber auch gut vorstellen, langfristig in Europa zu leben.

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