Neue Studie: Kipp-Risiken einer Überschreitung von 1,5 °C können durch rasche Umkehrung der Erwärmung minimiert werden

Die derzeitige Klimapolitik birgt ein hohes Risiko für das Kippen kritischer Elemente des Erdsystems, selbst wenn die globale Erwärmung nach einer Periode der Überschreitung der 1,5 Grad -Grenze wieder auf unter 1,5 Grad beschränkt wird. Eine neue Studie in der Fachzeitschrift Nature Communications zeigt: Dieses Risiko kann minimiert werden, wenn die Erwärmung nach einer zeitweisen Überschreitung der 1,5 Grad rasch wieder umgekehrt wird. Dafür sei die Verringerung der Emissionen im laufenden Jahrzehnt ganz entscheidend, schreiben Forscher des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), des Internationalen Instituts für Angewandte Systemanalyse (IIASA) und anderer Institute. Der Klimaforscher Dr. Nico Wunderling vom PIK und C³S, Center for Critical Computational Studies an der Goethe-Universität, ist an der Studie beteiligt.

Programm-Tipp: Dr. Nico Wunderling wird am heutigen Donnerstag (1. August 2024) in der Sendung „alle wetter!“ über die Studie und den heutigen „Erdüberlastungstag“ sprechen. 19.15, hr. https://www.hr-fernsehen.de/sendungen-a-z/alle-wetter/

Im Zentrum ihrer Studie stehen vier miteinander verbundene zentrale Klima-Kippelemente: Der grönländische Eisschild, der westantarktische Eisschild, die atlantische meridionale Umwälzzirkulation (AMOC) und der Regenwald im Amazonas. Der menschengemachte Klimawandel kann zu einer Destabilisierung von großräumigen Bestandteilen des Erdsystems wie Eisschilden, oder Mustern von Luft- und Ozeanströmungen führen – den sogenannten Kippelementen. Zwar kippen diese Elemente nicht über Nacht, doch es werden fundamentale Prozesse in Gang gesetzt, die sich über Jahrzehnte, Jahrhunderte oder Jahrtausende vollziehen. Diese Veränderungen sind so gravierend, dass ein Überschreiten der Kipppunkte unbedingt vermieden werden sollte, argumentieren die Forschenden. In ihrer neuen Studie untersuchten sie die Risiken dafür, dass sich mindestens eines der vier Kippelemente als Folge einer Überschreitung von 1,5 °C destabilisiert. Ihre Analyse zeigt, wie entscheidend es für den Zustand des Planeten ist, die Klimaziele des Pariser Abkommens einzuhalten, und unterstreicht die Folgen heutiger Klimapolitik für kommende Jahrhunderte bis Jahrtausende.

„Auch wenn sich Zeitskalen bis 2300 oder noch weiter in die Zukunft sehr weit weg anfühlen, ist es wichtig, die mit Kippelementen verbundenen Risiken so gut wie möglich aufzuzeigen und Risiken zu benennen. Unsere Ergebnisse unterstreichen, wie entscheidend es ist, Netto-Null-Treibhausgasemissionen zu erreichen und beizubehalten, um Kipprisiken in den kommenden Jahrhunderten und darüber hinaus wirksam zu begrenzen“, erklärt Tessa Möller, eine der Leitautorinnen der Studie und Wissenschaftlerin am IIASA und PIK. „Unsere Berechnungen zeigen: Bleibt es in diesem Jahrhundert beim Stand gegenwärtiger Klimapolitik und bestehender Klimaschutzmaßnahmen, besteht ein hohes Risiko von 45 Prozent, dass mindestens eines der vier untersuchten Elemente bis 2300 kippt.“ 

Mehr als 2 °C Erderwärmung erhöhen das Kipprisiko stark

„Wir sehen, dass das Kipprisiko mit jedem Zehntelgrad zunimmt, mit dem wir die 1,5 °C überschreiten. Wenn die globale Erwärmung auch noch 2 °C übersteigt, würde das Kipprisiko noch schneller ansteigen. Das ist sehr besorgniserregend, da Szenarien, die sich an der gegenwärtig umgesetzten Klimapolitik orientieren, bis zum Ende dieses Jahrhunderts schätzungsweise zu einer globalen Erwärmung von 2,6 °C führen werden“, sagt Annika Ernest Högner vom PIK, eine der Leitautorinnen.

„Unsere Studie bestätigt, dass Kipp-Risiken als Reaktion auf die Überschreitung der 1,5-Grad-Grenze minimiert werden können, wenn die Erwärmung rasch umgekehrt wird. Eine solche Umkehrung der globalen Erwärmung kann nur erreicht werden, wenn die Emissionen bis 2100 mindestens Netto-Null erreichen, also Emissionen soweit wie möglich reduziert werden und nicht vermeidbare Emissionen der Atmosphäre durch entsprechende Technologien oder natürliche Kohlenstoffsenken wieder entzogen werden. Die Ergebnisse unterstreichen, wie wichtig die Klimaziele des Pariser Abkommens sind, die Erwärmung auch im Falle einer vorübergehenden Überschreitung von 1,5 °C auf deutlich unter 2 °C zu begrenzen“, sagt Studienautor Nico Wunderling vom PIK und C³S, Center for Critical Computational Studies, Goethe Universität Frankfurt.

Die vier untersuchten Kippelemente regulieren maßgeblich die Stabilität des Klimasystems der Erde. Bislang sind die komplexen Erdsystemmodelle noch nicht in der Lage, das nichtlineare Verhalten, die Rückkopplungen und die Wechselwirkungen zwischen einigen der Kippelemente in vollem Umfang abzubilden. Daher nutzen die Forscher ein stilisiertes Erdsystemmodell, um die wichtigsten Eigenschaften und das Verhalten der Kippelemente zu repräsentieren und somit auch die relevanten Unsicherheiten in Kipppunkten und Interaktionen systematisch einzubeziehen. Berücksichtigt wurden dabei auch mögliche künftige stabilisierende Wechselwirkungen, wie die abkühlende Wirkung einer sich abschwächenden AMOC auf die nördliche Hemisphäre.

„Diese Analyse der Kipppunkt-Risiken untermauert das Fazit, dass wir die Risiken unterschätzen und nun erkennen müssen, dass das rechtlich verbindliche Ziel des Pariser Abkommens, die globale Erwärmung ‚deutlich unter 2 °C‘ zu halten, in Wirklichkeit bedeutet, die globale Erwärmung auf 1,5 °C zu beschränken. Aufgrund unzureichender Emissionsreduktionen besteht ein ständig wachsendes Risiko, dass diese Temperaturgrenze überschritten wird. Dieses Risiko müssen wir um jeden Preis minimieren, um die verheerenden Folgen für die Menschen auf der ganzen Welt einzudämmen“, fasst PIK-Direktor und Autor der Studie Johan Rockström zusammen.

Tessa Möller, Annika Ernest Högner, Carl-Friedrich Schleussner, Samuel Bien, Niklas H. Kitzmann, Robin D. Lamboll, Joeri Rogelj, Jonathan F. Donges, Johan Rockström & Nico Wunderling (2024): Achieving net zero greenhouse gas emissions critical to limit climate tipping risks. Nature Communications. [DOI: 10.1038/s41467-024-49863-0]

Die Studie ist auch abrufbar unter https://www.nature.com/articles/s41467-024-49863-0

Quelle: Nature Communications

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