Sind Milchprodukte ungesund?

Eine von zahlreichen Kreideinschriften an Frankfurter U-Bahn-Haltestellen; verwiesen wird hier auf ein Milch-kritisches YouTube-Video; Foto: D. Frank
Eine von zahlreichen Kreideinschriften an Frankfurter U-Bahn-Haltestellen; verwiesen wird hier auf ein Milch-kritisches YouTube-Video; Foto: D. Frank

Die Frage, ob Milch und aus ihr hergestellte Produkte ein Segen für die Menschheit sind oder der Verzehr mit Gesundheitsgefahren verbunden ist, wird seit langem kontrovers diskutiert. Neben dem wissenschaftlichen Diskurs haben sich Gruppen formiert, die den Verzehr von Milch und Milchprodukten (M&M) kategorisch ablehnen und dies zum Teil polemisch kundtun (s. Foto). Verbraucher fühlen sich zunehmend verunsichert. Dieser Artikel soll mit der Darlegung einiger Standpunkte die aktuelle Diskussion erhellen.

M&M sind reich an Calzium, Phosphat und Proteinen und stellen eine Quelle z. B. für Vitamine dar. Aktuelle Zahlen belegen, dass US-Amerikaner ihren Bedarf an Calzium zu 51%, an Phosphat zu 28%, an Vitamin B2 und B12 zu jeweils 25% über M&M decken. Weltweit, aber auch zwischen unterschiedlichen Regionen und Kulturen, existieren enorme Unterschiede im individuellen Verzehr von M&M.

Eine wichtige Rolle dabei spielt die Verträglichkeit von M&M, die auf dem Vorhandensein des Enzyms Laktase beruht. Laktase spaltet Milchzucker, ein Disaccharid, in seine Bestandteile, die Monosaccharide Galaktose und Glukose. Da der Dünndarm nur Monosaccharide absorbieren kann, ist diese Spaltung für die Verwertung von Muttermilch essentiell.

Die Laktase ist im Säuglingsalter aktiv und verliert normalerweise nach der Stillzeit allmählich ihre Aktivität. Wird die Laktose im Dünndarm durch einen Mangel an Laktase nicht mehr gespalten, gelangt diese in den Dickdarm, wo Darmbakterien den Milchzucker als Substrat nutzen.

Die bei der bakteriellen Verstoffwechslung entstehenden Produkte können zu Diarrhö und Flatulenz führen, Zeichen einer Laktoseintoleranz, es sei denn, dass die Laktase über die Stillzeit hinaus aktiv bleibt. Diese als Laktasepersistenz bezeichnete Eigenschaft geht auf Mutationen in entsprechenden Genbereichen zurück. Humangenetische Studien zeigen einen einzelnen Nukleotidaustausch in der Promoterregion des Laktasegens.

Diese genetische Variation überschreibt die natürliche Tendenz des Laktasegens, sich nach dem Abstillen auszuschalten. Somit behalten Kinder und Erwachsene die Fähigkeit, Disaccharide zu verdauen. Die für die genetische Veränderung verantwortliche Mutation der häufigsten, kaukasischen Variante lässt sich zeitlich mit der Domestizierung von Milchproduzierenden Tieren vor 5000 bis 20.000 Jahren in Einklang bringen.

Neben der kaukasischen Gen-Variante haben sich mindestens drei weitere Varianten unabhängig voneinander entwickelt, unter anderem in Ostafrika. Die sehr schnelle Selektion der Laktasepersistenz im Nordwesten Europas wird als starker Überlebensvorteil angesehen, eine Hypothese, die allerdings nicht unumstritten ist.

Es wird unter anderem angeführt, dass gerade die Verbreitung der Milchviehhaltung in der Landwirtschaft Einfluss auf die Evolution genommen haben könnte. Unabhängig von der Ursache der Laktasepersistenz wird die Möglichkeit und die Neigung, M&M zu konsumieren, aus Sicht der Evolution als höchst vorteilhaft angesehen.

Allerdings muss man bedenken, dass diese Aussage nicht für Populationen in Ostasien gilt, in denen die Laktasepersistenz so gut wie nicht verbreitet ist und die sich dennoch extrem erfolgreich entwickelt haben. Das eine Argument muss allerdings das andere nicht notwendigerweise ausschließen, sondern kann vielmehr als Beispiel dienen, dass die Evolution vorteilhafte Eigenschaften selektiert.

Jedenfalls lässt sich geographisch ein hoher Verzehr von M&M mit der Verbreitung der Persistenz des Enzyms Laktase in Zusammenhang bringen. Durch die Fermentation von Milch in Joghurt, Quark und andere Fermentationsprodukten wird die Laktose abgebaut und liefert darüber hinaus beta-Galaktosidase, ein Enzym, das ebenfalls Laktose spaltet und nach Verzehr im Dünndarm aktiv bleibt.

Somit vertragen die meisten Menschen mit einer Laktoseintoleranz Milch in fermentierter Form und können die von internationalen Ernährungsgesellschaften empfohlene tägliche Zufuhrmenge von 400-500 ml Milchäquivalente pro Tag konsumieren. Diese empfohlene Verzehrmenge wird allerdings nur in den wenigsten Ländern erreicht.

Krebsgefahr durch Milchkonsum?

Es existiert eine unüberschaubare Menge an Literatur, die den Verzehr von M&M und mögliche Gesundheitseffekte thematisiert. Wie in der Epidemiologie üblich, sind die Befunde sehr gemischt und die Studien unterliegen methodischen Beschränkungen. Bedenken, dass der hohe Anteil an gesättigten Fettsäuren in M&M Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck oder gar Krebs fördert, lassen sich durch aktuelle Metaanalysen prospektiver klinischer Studien nicht belegen.

Der Verzehr von ungesättigten Fettsäuren stellt ein bekanntes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen dar. Allerdings lassen sich keine signifikanten Assoziationen zwischen M&M-Verzehr und der koronaren Herzkrankheit, dem Schlaganfall oder der allgemeinen Mortalität feststellen. Auch ein erhöhter Blutdruck konnte nicht mit M&M assoziiert werden.

Einige Studien zeigen leicht protektive Effekte von flüssigen Milchprodukten mit reduziertem Fettanteil. Der normale Verzehr von M&M scheint das Körpergewicht nicht zu erhöhen. Kombinationen aus Kalorienrestriktion und erhöhtem Verzehr von M&M zeigten sogar moderat positive Effekte auf die Gewichtsreduktion, die Fettmasse und den Taillenumfang.

Bezüglich des Risikos, an Diabetes zu erkranken, gibt es keine Hinweise, dass M&M eine Rolle bei der Pathogenese spielen. Milch scheint dagegen vor Dickdarmkrebs zu schützen; dagegen gibt es keine Evidenzen, dass Käse diese Krebserkrankung fördern könnte. Es gibt Hinweise, dass Milch vor Blasenkrebs schützt – sonst scheinen M&M keine Rolle bei der Krebsentstehung zu spielen.

Populationsweit ist das menschliche Größenwachstum mit dem Verzehr von M&M korreliert. Bei niedrigem Michkonsum steht zu befürchten, dass aufgrund der niedrigen Aufnahme an Calzium Probleme mit der Knochenbildung auftreten können. Allerdings scheint sich der menschliche Körper gut an eine sehr niedrige Calziumaufnahme zu adaptieren.

So weisen Menschen in Ländern mit sehr niedrigem Milchkonsum eine überraschend gute Knochengesundheit auf: Global lässt sich eine verblüffende inverse Korrelation zwischen der Calziumaufnahme und der Rate an Knochenfrakturen feststellen. Diese Beziehung wird oft von Gegnern als ein Argument gegen den Milchkonsum ins Feld geführt und als Beweis für schädliche Effekte von Milch interpretiert.

Ernährungswissenschaftler und Physiologen führen dagegen andere Faktoren an, die kritisch für die Knochengesundheit sind – etwa eine zu geringe Vitamin D-Versorgung oder zu wenig körperliche Bewegung. Unbestritten ist, dass der menschliche Körper eine beachtliche physiologische Kapazität besitzt, sich an eine defizitäre Calzium- Versorgung anzupassen.

Dafür spricht auch, dass ein plötzliches Überangebot an Calzium im unterversorgten Organismus gegenläufige Gesundheitsreaktionen hervorrufen kann, möglicherweise weil dieses protektive Adaptionsmechanismen stört.

Nichtsdestotrotz sind sich Gesundheitsexperten einig, dass M&M viele gesundheitliche Vorteile bieten; frühere Bedenken, dass der mit dem Konsum verbundene Verzehr von Fett und ungesättigten Fettsäuren Herzkrankheiten fördert, sind nicht haltbar.

Vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Untersuchungen lassen sich Argumente von bestimmten Gruppen, die den Verzehr von M&M ablehnen und dies zum Teil polemisch kundtun, nur schwer verstehen. Fakt ist, dass auch im Nordwesten Europas, wo die Laktasepersistenz verbreitet ist, viele Menschen leben, die M&M nicht vertragen.

Für Menschen mit Laktoseintoleranz, die trotzdem gerne M&M verzehren, gibt es Produkte aus fermentierter Milch oder Milch, die mit Hilfe von Enzymen keinen Milchzucker mehr aufweisen. M&M sind Lebensmittel, die der Definition nach dazu bestimmt sind, zur Ernährung oder zum Genuss verzehrt zu werden. Menschen, die M&M mögen und vertragen, sollten sich nicht unter Vorhaltung falscher Tatsachen einen Verzicht aufoktroyieren lassen.

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Der obige Text beruht auf dem Leitartikel „Dairy products in global public health“ von Adnrew M. Prentice, (Am J Clin Nutr. 2014; 99(suppl):1212S-1216S), dem sich die Autoren uneingeschränkt anschließen. Für weitere Informationen sei auf das vorgenannte Sonderheft verwiesen.

Die Autoren

Privatdozent Dr. Gunter P. Eckert ist staatl. gepr. Lebensmittelchemiker und Fachpharmakologe. Er leitet am Pharmakologischen Institut der Goethe-Universität die Arbeitsgruppe „Nutritional Neuroscience“ (www.nutritional-neuroscience. com).

Professor Dr. Clemens Kunz ist Ernährungswissenschaftler am Institut für Ernährungswissenschaft an der Universität Gießen. Er leitet das Fachgebiet Ernährung des Menschen mit dem Schwerpunkt der ernährungsphysiologischen Bewertung von Lebensmitteln.

http://www.unigiessen.de/cms/fbz/fb09/institute/ernaehrungswissenschaft/ag/kunz

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