Der Sportsoziologe Robert Gugutzer erforscht die Atmosphäre beim Public Viewing. Mit seinen Studierenden wird er die Spiele der kommenden Fußball-Europameisterschaft be- und untersuchen, am Ende des Seminars soll eine kleine Studie vorliegen.
UniReport: Herr Prof. Gugutzer, in sportlicher Hinsicht war lange Zeit in Deutschland die Erwartung an die EM im eigenen Lande sehr niedrig, durch zurückliegende Testspielsiege unter anderem gegen Frankreich hat sich die Stimmung etwas gedreht. Kann man die EM als sportliche Großveranstaltung mit denen früherer Jahre vergleichen, was das Publikumsinteresse angeht?
Robert Gugutzer: Aufgrund der jüngsten Erfolge ist tatsächlich eine Art von Aufbruchsstimmung aufgekeimt, noch vor einem Jahr herrschte eher Krisenstimmung. Dass man die EM im eigenen Land herbeigesehnt hätte, war damals kaum zu beobachten. Verdruss und Vorfreude haben sich aber sehr schnell abgewechselt. Man kann festhalten: Solche Großveranstaltungen des Sports, die im eigenen Land stattfinden, sorgen sicherlich für eine ganz andere Stimmung als Turniere in anderen Ländern. Wenn diese wie zuletzt auch noch in politisch problematischen Ländern stattfinden und die Spiele zudem zu ungünstigen Uhrzeiten ausgetragen werden, stellt sich keine größere Vorfreude ein. Wir sprechen ja von Public Viewing, wenn die Sportveranstaltung im öffentlichen Raum übertragen wird. Eine Fußball-WM oder -EM im eigenen Land ist gewissermaßen die Voraussetzung dafür, dass sich überhaupt eine besondere Stimmung einstellt. Und dass die eigene Mannschaft Aussicht auf ein gutes Abschneiden beim Turnier hat, gehört natürlich auch dazu.
Sie werden in diesem Sommersemester ein Seminar zu »Atmosphären im Sport« anbieten; im Rahmen dieses Seminars werden Sie mit den Studierenden eine kleine Studie zur »Atmosphäre beim Public Viewing« durchführen. Können Sie grundsätzlich erklären, was das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse am Public Viewing ist?
Aus soziologischer Sicht ist beim Public Viewing interessant, dass viele Menschen, von denen einige mit Fußball gar nichts am Hut haben, im städtischen Raum zusammenkommen, um ein stimmungsvolles Gemeinschaftserlebnis zu haben. Soziologisch gesprochen geht es um die kollektive Atmosphäre eines bedeutsamen gesellschaftlichen Ereignisses. Es handelt sich streng genommen nämlich gar nicht nur um eine Sportveranstaltung. Die Menschen nehmen daran teil, um etwas zu erleben, nämlich eine besondere Stimmung. Als Sportsoziologe musste ich zu meiner Verwunderung feststellen, dass dazu bislang recht wenig geforscht worden ist. Es tut sich gewissermaßen eine Forschungslücke auf, und das nicht nur beim Thema Public Viewing, sondern auch generell bei Atmosphären. Atmosphären lassen sich sowohl mikrosozial, also zum Beispiel in einer Mannschaft, als auch makrosozial, also im ganzen Land, beobachten. Wir erinnern uns alle ja noch an die WM 2006 in Deutschland, die aus der Sicht vieler Beobachter eine ganz besondere Atmosphäre im ganzen Land erzeugt hat. Atmosphären sind also soziale Phänomene und damit soziologisch interessant. Ich habe das Thema meinen Studierenden vorgeschlagen, die direkt darauf angesprungen sind – wahrscheinlich, weil die meisten von ihnen das Besondere eines Besuchs im Stadion kennen. Die Aktualität der bevorstehenden EM hat dann den Ausschlag gegeben.
Sie sprachen gerade davon, dass man nicht unbedingt ein »richtiger« Fußballfan sein muss, um Freude am Public Viewing zu empfinden. Wie man öfter hört, scheint dieser Aspekt genau jene Fans zu stören, die sich intensiv und dauerhaft mit Fußball beschäftigen.
Ja, beim Public Viewing einer EM oder WM treffen nicht nur eingefleischte Fußballfans aufeinander. Die Fußballkultur in Deutschland ist vor allem eine Vereinskultur von Fans, die interessieren sich oftmals nicht für die eigene Nationalmannschaft, sondern nur für ihren Verein. Zwar gibt es mittlerweile auch einen Fanclub der deutschen Nationalmannschaft, aber das ist von der Fan-Bedeutung her nicht vergleichbar. Beim Public Viewing treffen zum einen also Fußballfans verschiedener Clubs aufeinander und verschmelzen idealerweise zu einer Art nationaler Fankultur. Aber dann sind dort auch Menschen, die sich ansonsten wenig oder sogar gar nicht für Fußball interessieren. Weil Fußball einen so großen Stellenwert in unserer Gesellschaft hat, kommt man auch gar nicht daran vorbei. So entwickelt sich vielleicht bei vielen ein zufälliges, eher oberflächliches Interesse an dem, was da passiert. Es passt in unsere Zeit, die sich durch eine Eventisierung von Sport und von Fußball im Besonderen auszeichnet. So gehören zum Public Viewing, wie beim Volksfest, eine bestimmte (Ver-)Kleidung, Musik, Speisen und Getränke und Rituale, wie man das auch vom Oktoberfest kennt. Der Soziologe Gerhard Schulze sprach schon vor 30 Jahren von der „Erlebnisgesellschaft“: Wir wollen nicht einfach nur unseren Alltag leben, wir wollen etwas er-leben, uns dabei er-leben. Das funktioniert in der Gemeinschaft sehr gut. Als Nichtfußballinteressierter geht man zum Public Viewing, weil man Fußballinteressierte kennt, mit denen man eine schöne Zeit haben möchte. Sozial gesehen ist es immens wichtig, dass solche Möglichkeiten der harmlosen außeralltäglichen Vergemeinschaftung existieren. Im Sport geht es ja um nichts Hochtrabendes und wirklich Wichtiges. Sich auf dieser Grundlage zu vergemeinschaften, kann man als Soziologe eigentlich nur begrüßen. Natürlich ist eine solche Veranstaltung, auf der das konkrete Fußballspiel durchaus in den Hintergrund geraten kann, für den Fußballexperten mitunter bitter: Man muss Leuten zuhören, die keine Ahnung haben, aber die ganze Zeit das Spiel kommentieren, das kenne ich nur allzu gut (lacht).
Wie gehen Sie methodisch vor, wie werden Sie mit den Studierenden die Veranstaltungen analysieren?
Atmosphären untersucht man am besten ethnografisch, also durch teilnehmende Beobachtung. Man begibt sich also an den Ort des Geschehens und nimmt sich und die Umgebung wahr. Das klingt möglicherweise einfach, ist aber für die Studierenden zu Anfang eine Überforderung. Das gilt generell für ethnografische Arbeiten: Die Eindrücke, die auf einen einprasseln, sind immens. Zu wissen, was relevant davon ist und was man dokumentieren muss, ist schwierig. Wir werden das natürlich im Seminar genau vorbereiten. Wir entwickeln Kategorien, was für die Bildung und den Verlauf einer kollektiven Atmosphäre relevant sein könnte. Das ist zuerst einmal die Räumlichkeit; eine Location direkt am Main, die große Leinwand steht im Wasser, ist ganz anders beschaffen als eine Location auf dem Roßmarkt. Handelt es sich um geschlossene oder um offene Räume, um eine Fläche außerhalb oder innerhalb der Stadt? Stehen die Menschen oder sitzen sie, wie sind sie gekleidet, welche Utensilien haben sie dabei? Sind sie ausgestattet mit Tröten oder anderen Instrumenten, ist es voll oder leer, regnet es oder ist es unerträglich heißt? Findet die Veranstaltung bei Tageslicht und bei Dunkelheit statt? Licht hat sehr großen Einfluss auf die Atmosphäre. Wie ist der Spielverlauf? Wir werden darüber hinaus vor Ort auch Interviews führen. Wir überlegen gerade noch, ob wir Spiele mit oder ohne deutsche Beteiligung besuchen. Das hat natürlich Einfluss auf die eigene Stimmung und Wahrnehmungsfähigkeit. Auch die Fußballbiographie des ethnografischen Forschers/der Forscherin ist entscheidend. Steht die Paarung für eine bestimmte Tradition, was nimmt man vor diesem historischen Hintergrund wahr? Atmosphären sind soziale Phänomene, die man spürbar wahrnimmt. Es hat mit der Umgebung zu tun, mit der Situation, aber auch mit einem selber. Phänomenologisch betrachtet handelt es sich um ein Zwischenphänomen, das zwischen Subjekt und Objekt angesiedelt ist. Daher werden objektive Bedingungen wie auch subjektive Aspekte (Erwartungen, Vorfreude, Sorgen etc.) untersucht. Teilnehmende Beobachtungen treffen auf qualitative Interviews.
Sie werden im Idealfall am Ende des Semesters eine Studie vorliegen haben?
Ja. Unsere Grundannahme lautet: Die Menschen gehen zum Public Viewing, weil sie etwas erleben wollen, nämlich eine tolle Atmosphäre. Die Frage ist aber, ob oder wie sich diese einstellt, denn sicher ist das ja nicht. Wir wollen uns anschauen, was notwendig ist für die Entstehung einer besonderen Public-Viewing-Atmosphäre und wie sie sich im Laufe des Spiels verändert. Zum Beispiel wirkt sich ja der Spielstand darauf aus. Wann kippt die Stimmung? Idealerweise gelingt uns die Bildung einer Typologie von Public-Viewing-Atmosphären. Wir werden uns auf mehrere kleine Gruppen aufteilen, die an unterschiedlichen Orten beobachten werden. Einige werden Interviews mit Anwesenden führen, andere werden primär sich selbst beobachten, andere die Umgebung. Ich bin ganz zuversichtlich, dass am Ende eine interessante Erkenntnis stehen wird – das Forschungsfeld ist, wie gesagt, bislang noch recht wenig beackert worden, daher kommt auf jeden Fall irgendwas heraus.
Eine abschließende Frage: Was erwarten Sie persönlich vom deutschen Team?
Ich bin auch in der vorhin erwähnten leichten Aufbruchsstimmung, traue dem Frieden aber nicht ganz. In der Vorrundengruppe sollten sich die Deutschen schon durchsetzen können, davon war man aber bei den vergangenen Turnieren auch ausgegangen. Ich denke, dass das deutsche Team bis ins Halbfinale kommen kann, das wäre schon ein Erfolg, aber als neuen Europameister sehe ich sie nicht.
Die Fragen stellte Dirk Frank