Warum Nein sagen schwerer zu verstehen ist

Psycholinguistische Studie zu Erwerb und Verarbeitung von Negation

Foto: paikong/Shutterstock

Nein, hier soll es nicht um Rat suchende Eltern mit Kindern in der Trotzphase gehen! Der folgende Text handelt vielmehr von einem innovativen psycholinguistischen Projekt zur Frage: Warum ist ein verneinender Satz schwieriger zu verstehen als ein bejahender? Das Projekt ist im Sonderforschungsbereich »Negation als sprachliches und außersprachliches Phänomen« angesiedelt, kurz NegLab.

Um einen Satz im Deutschen zu verneinen, verwendet man im einfachsten Fall das Wort ›nicht‹. Aus dem bejahenden (affirmativen Satz) ›Die Sonne scheint‹ wird so der verneinte (negierte) Satz ›Die Sonne scheint nicht‹. Offenbar ist das eine durchaus beliebte Konstruktion: Zählt man die Wörter in Texten des Deutschen, so landet die Negation ›nicht‹ stets unter den Top 20 – mit kleinen Abweichungen. In der ­Frequenzliste für das Deutsche Referenzkorpus am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (https://www.ids-mannheim.de/digspra/kl/projekte/methoden/derewo/) erscheint ›nicht‹ beispielsweise auf Platz 13.

Angesichts der Häufigkeit, mit der solche Negationswörter in der gesprochenen oder geschriebenen Sprache, also im Sprachgebrauch, vorkommen, ist es einiger­maßen überraschend, dass negierte Sätze häufig schwieriger zu ver­stehen sind als ihre bejahenden Gegenstücke. In einem klassischen Experiment von Clark und Chase (1972) haben Versuchspersonen einfache Gra­fiken gesehen, beispielsweise einen Stern über einem Plus. Ihnen fiel es anschließend schwerer, den verneinenden Satz ›Das Plus ist nicht über dem Stern‹ als wahr zu beurteilen als den bejahenden Satz ›Der Stern ist über dem Plus‹.

AUF DEN PUNKT GEBRACHT

  • Negierte Sätze (»Die Sonne scheint nicht«) sind oft schwerer zu verstehen als ihre bejahenden Pendants (»Die Sonne scheint«). Mehrere psycholinguistische Projekte im Rahmen des SFB 1629 untersuchen, warum dies so ist. Dabei geht es zum einen um die mentale Verarbeitung, zum anderen um den Erwerb von Negation.
  • Im Deutschen steht die Negation häufig am Satzende, was das Verstehen erschwert, während die Negation zum Beispiel im Spanischen früher im Satz erscheint und daher leichter zu erkennen ist.
  • Verschiedene experimentelle Methoden, wie die Messung von Blickbewegungen und EEG, werden verwendet, um die Verarbeitung von Negationen in Echtzeit zu untersuchen. Dabei zeigt sich, dass das Verstehen von negativen Aussagen komplexe kognitive Prozesse erfordert, die durch visuelle und motorische Reaktionen messbar sind.
  • Der SFB fördert einen interdisziplinären Austausch zwischen theoretischen Linguisten, Psycholinguisten und Psychologen, um die komplexen Wechsel­wirkungen zwischen Kognition, Sprache und Negation zu erforschen.

Wie hängen Wahrnehmung und Sprache zusammen?

Um die Schwierigkeiten definieren zu können, die sich beim Verstehen und beim Erwerb von Negation stellen, müssen zwei grundlegende Fragen geklärt werden. Diese sind: Welche mentalen Verarbeitungsprozesse sind notwendig, um einen negierten Satz zu verstehen? In welchen Schritten erlernt der Mensch in der frühen Kindheit Negation? Diese beiden Fragen nehmen in mehreren Projekten innerhalb des SFB 1629 »Negation in Language and Beyond«, kurz NegLaB, einen zentralen Platz ein. In Einzelprojekten arbeiten Psycholinguisten und Psychologen zusammen, um den Erwerb und die Verarbeitung von Negation zu erforschen. Durch die Einbettung dieser Projekte in den Gesamt-SFB findet dabei ein fruchtbarer Austausch statt zwischen Forschungsvorhaben, die sich mit der Grammatik der Negation beschäftigen und solchen mit einem Fokus auf Erwerb und Verarbeitung. Durch diese von vornherein angelegte Interdisziplinarität geht der SFB 1629 NegLaB in mehrfacher Hinsicht über die bisherige Forschung zur Negation hinaus. Neu ist insbesondere die Betrachtung des Verhältnisses zwischen allgemeiner Kognition und Sprache sowie die Fragestellung, wie die jeweils sprachspezifische Realisierung von Negation sich auf Erwerb und Verarbeitung von Negation auswirkt.

Alle Sprachen der Welt verfügen über Mittel, um aus bejahenden Sätzen negierte Sätze zu machen. Diese Mittel variieren aber erheblich von Sprache zu Sprache. Im Projekt C06, das von Prof. Esther Rinke, Prof. Sol Lago und Prof. Petra Schulz geleitet wird, wird dies anhand der Position der Negation im Deutschen und im ­Spanischen untersucht. Im Deutschen steht die Negation relativ weit hinten im Satz, in vielen Fällen ist sie sogar das letzte Wort (siehe Beispiel (1a)). Im Spanischen dagegen nimmt die Negation eine relativ frühe Position ein (siehe Beispiel (1b)).

Illustration: Juan Pablo Pekarek


(1a)        Juan isst die Schokolade von seiner Oma nicht. (Deutsch)

(1b)       Juan no come el chocolate de su       abuela. (Spanisch)

Juan nicht isst die Schokolade von seiner Oma. (Wort-für-Wort-Übersetzung)

Hört man den deutschen Satz (1a), wird man bis zum letzten Wort davon ausgehen, dass Juan die Schokolade seiner Oma isst. Erst mit dem letzten Wort wird klar, dass genau das Gegenteil gemeint ist. Im Spanischen wird dagegen bereits mit dem zweiten Wort klar, dass der Satz eine verneinende Aussage macht.

Blickrichtung zeigt den Verstehensprozess

Zur Erforschung von Erwerb und Verarbeitung von Negation wird im SFB ein breites Spektrum an Methoden eingesetzt. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf Methoden, die es erlauben, die Verarbeitung von Sätzen in Echtzeit zu erfassen. In einer Reihe von Projekten kommt das sogenannte Paradigma der visuellen Welten zum Einsatz. Es beruht darauf, dass ein enger Zusammenhang zwischen Sehen und Verstehen besteht. Mittels eines Messapparates, der die Blickbewegungen der Versuchspersonen erfassen kann, wird deren Verstehensprozess analysiert. Probanden hören einen Satz und sehen gleichzeitig auf einem Computerbildschirm ein Bild, das die im Satz beschriebene Szene oder dort erwähnte Gegenstände zeigt. Der Blick­bewegungsmessapparat filmt dabei mit einer Hochfrequenzkamera die Augen der Versuchsperson. Aus den so gewonnenen Daten lässt sich anschließend auf die Millisekunde genau berechnen, auf welchen Teil des Bildes die Versuchsperson beim Hören des Satzes schaut.

Experimente, die sich dieser Methodik bedient haben, belegen durchgängig eine enge Kopplung zwischen Ohr und Auge. Wenn wir beispielsweise das Wort ›Schokolade‹ hören und auf dem gezeigten Bild neben anderen Gegenständen eine Schokolade zu sehen ist, schauen wir unwillkürlich und ohne Verzögerung auf die abgebildete Schokolade, sobald das Wort verstanden wurde. Damit ergeben sich interessante Möglichkeiten, den zeitlichen Verlauf der Negationsverarbeitung zu untersuchen. Während die Versuchspersonen die genannten Sätze aus dem Deutschen und dem Spanischen hören, wird ihnen die Abbildung oben gezeigt. Beim deutschen Satz ›Juan isst die Schokolade nicht‹ liegt nahe, dass die Versuchsperson zuerst auf das Bild mit der Schokolade schauen wird und erst mit dem letzten Wort ›nicht‹ auf das alternative Bild. Was passiert aber, wenn man den spanischen Satz mit früher Negation ›Juan no come el chocolate‹ hört? Schaut man dann trotz der frühen Negation erst auf die Schokolade und anschließend auf den alternativen Gegenstand oder schaut man erst gar nicht auf die Schokolade? Das werden die weiteren Untersuchungen zeigen.

Die Messung von Blickbewegungen ist nur eine von zahlreichen experimentellen Methoden, die im SFB NegLaB zum Einsatz kommen. Im Projekt C03 (Dr. Carolin Dudschig und Dr. Merle Weicker) wird mittels EEG (Elektro­enzephalografie) die elektrische Aktivität im Gehirn durch am Kopf angebrachte Elektroden gemessen. Diese Methode erlaubt es, unbewusst im Gehirn ablaufende Prozesse bei der Verarbeitung verneinter Sätze zu beobachten. Wenn eine Versuchsperson den verneinenden Satz ›Drücken Sie nicht den linken Knopf!‹ hört und daraufhin den rechten Knopf drücken soll, dauert dies ­länger, als wenn sie den entsprechenden bejahenden Satz ›Drücken Sie den rechten Knopf!‹ hört. Dieser Befund ist nicht sonderlich über­raschend, da der verneinende Satz nur indirekt zum Drücken des rechten Knopfs auffordert. Durch die Messung von Gehirnströmen kann nun aber genauer erforscht werden, welche Prozesse im Gehirn zu der verzögerten Reaktion führen. Die Hypothese, die im Projekt C03 überprüft werden soll, besagt, dass man beim Hören des Satzes ›Drücken Sie nicht den linken Knopf!‹ zunächst die motorischen Areale aktiviert, die für die Steuerung der linken Hand zuständig sind. Aufgrund der Negation ›nicht‹ muss diese Aktivierung unterdrückt und stattdessen müssen die motorischen Areale für die rechte Hand ­aktiviert werden. Die Aktivierung motorischer Areale führt zu bekannten Mustern im EEG, die es erlauben, die Korrektheit dieser Hypothese zu überprüfen.

Die meisten psycholinguistischen Experimente im SFB NegLaB finden in einem der psycholinguistischen Labore statt. Die Versuchspersonen bei diesen Experimenten sind in der Regel Studierende. Ergänzend gibt es auch Online-Experimente, die übers Internet verteilt werden und im Browser ablaufen. Mit diesen wird eine wesentlich größere Zielgruppe erreicht, die im Vergleich zur Gruppe der Studierenden sowohl hinsichtlich ihres Alters als auch hinsichtlich ihres beruflichen Hintergrunds viel stärker variiert und damit repräsentativer für die gesamte Sprachgemeinschaft ist.

Foto: Sandra Bader

Der Autor
Markus Bader, Jahrgang 1966, hat Deutsche Philologie, Philosophie und Psychologie an der Universität Freiburg studiert und wurde 1995 an der Universität Stuttgart promoviert. Nach einer Vertretungsprofessur an der University of Massachusetts in Amherst 2001/2002 wurde er 2002 an der Universität Konstanz mit einer Arbeit zum Thema »Kasus und Sprachverstehen« habilitiert. Seit 2011 ist Markus Bader Professor für Psycholinguistik und Neurolinguistik am Institut für Linguistik der Goethe-Universität Frankfurt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des Sprachverstehens und der Sprachproduktion, wobei experimentelle Untersuchungen zur grammatischen Analyse von Sätzen sowie die Berechnung ihrer Bedeutung im Mittelpunkt stehen.
bader@em.uni-frankfurt.de

Zur gesamten Ausgabe von Forschung Frankfurt 1/2025: Sprache, wir verstehen uns!

Relevante Artikel

Silberarmulett

Kleines Etwas mit großer Wirkung

Den ältesten christlichen Beleg nördlich der Alpen fanden Archäologen in einem Frankfurter Gräberfeld aus dem 3. Jahrhundert. 3,5 Zentimeter misst

Ein lebendiges Bild vom Alltag der einheimischen Menschen in FranzösischLouisiana vermittelt diese Darstellung von Alexandre de Batz, Desseins de Sauvages de Plusieurs Nations Nouvelle Orléans von 1735.

Verständigungen in der Kontaktzone

Wie französische Missionare indigenen Menschen in ­Französisch-Louisiana begegneten Mit dem Auftrag, die indigene Bevölkerung zu missionieren, reisten französische Ordensleute in

Frobenius-Expedition 2022: Richard Kuba und Christina Henneke beraten sich 2022 inmitten von Felsbildkopien mit Vertretern der indigenen Bevölkerung in Derby, Nordwestaustralien.

Eine steile Lernkurve im Umgang mit geheimem Wissen

Interkulturelle Einsichten zu einer Jahrzehnte zurückliegenden Forschungsexpedition des Frobenius-Instituts nach Australien Vor 85 Jahren reiste eine kulturanthropo­logische Expeditionsgruppe aus Frankfurt

Öffentliche Veranstaltungen
„Beifall für Alfred Dregger“ (1982). Michael Köhler vor dem Bild in der U-Bahn-Station, auf dem er (l.) und sein Mitstreiter Ernst Szebedits zu entdecken sind (s. Markierung). © Dirk Frank

Universitäre Foto-Storys

Nach 40 Jahren: Zwei Stadtteil-Historiker haben zu Barbara Klemms berühmten großformatigen Uni-Fotos in der U-Bahn-Station Bockenheimer Warte recherchiert. Interessante, humorvolle

Kind auf einem Roller © Irina WS / Shutterstock

Wie junge Menschen unterwegs sein möchten

Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt fördert Nachwuchsgruppe CoFoKids an der Goethe-Universität „Von der ‚Generation Rücksitz‘ zu den Vorreitern der

You cannot copy content of this page