Michael A. Rosenthal, Professor für Jüdische Philosophie an der University of Toronto, ist gegenwärtig Fellow am Forschungskolleg Humanwissenschaften. Er forscht unter anderem zur Philosophie Spinozas.
UniReport: Herr Prof. Rosenthal, was ist eigentlich jüdische Philosophie, wie und worüber lässt sie sich definieren?
Michael A. Rosenthal: Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt auf dem Philosophen Baruch (oder Benedikt) Spinoza (1632–1677). Die beiden Formen seines Vornamens im Hebräischen und im Lateinischen symbolisieren die doppelte Beziehung, die er sowohl zu seiner jüdischen als auch zu seiner christlichen intellektuellen Tradition hat. Niemand ist sich wirklich einig darüber, was „jüdische Philosophie“ ist. Selbst in ihrer klassischen Form während des Mittelalters war umstritten, was genau gemeint ist. Moses Maimonides (1138–1204), der später als vorbildlicher jüdischer Philosoph gepriesen wurde, wurde von vielen angegriffen, weil er das, was als fremde Ideen der Griechen angesehen wurde, in den Kern der jüdischen Tradition einführte. Spinoza folgt Maimonides in mancher Hinsicht, greift ihn aber auch ganz direkt an. Die Tatsache, dass Spinoza aus seiner eigenen Gemeinde in Amsterdam verbannt wurde – angeblich wegen seiner Kritik an den traditionellen rabbinischen Lehren, insbesondere in Bezug auf die heiligen Texte, wie die Bibel –, verkompliziert die Sache. Kann man ihn als „jüdischen“ Philosophen bezeichnen, wenn seine eigenen Leute seine Ansichten nicht akzeptierten und ihn für einen Ketzer hielten? Einige spätere jüdische Denker begrüßten seine Philosophie als Vorboten eines modernen Judentums, aber andere, vor allem Hermann Cohen – der erste Jude, der einen Lehrstuhl für Philosophie an einer deutschen Universität innehatte – betrachteten ihn weiterhin als einen Verräter an der jüdischen Tradition und als eine Bedrohung. Seine Philosophie war auch in der breiteren europäischen Intelligenz umstritten. Viele christliche Denker hielten ihn für einen gefährlichen Atheisten, obwohl er von dem deutschen Romantiker Novalis als „Gott betrunkener“ Denker verehrt wurde. War er ein moderner Denker, der die jüdische Tradition erneuern und modernisieren konnte, oder war er ein zerstörerischer Radikaler? Diese komplexe und manchmal widersprüchliche Rezeption von Spinozas Werken ist für mich der Grund, warum er eine Schlüsselfigur für das Problem der modernen jüdischen Philosophie ist.
Als jüdischer Forscher werden Sie sicherlich häufig zu Aspekten des Judentums und der jüdischen Kultur befragt, vor allem angesichts des Antisemitismus, der leider in einigen Ländern wieder aufgeflammt ist. Ist das für Sie ein Thema, mit dem Sie sich selbst auch wissenschaftlich beschäftigen?
Ich interessiere mich in erster Linie für die Analyse und Interpretation von philosophischen Texten. Aber es ist mir klar, dass Texte nicht ohne Weiteres unabhängig von ihrem Kontext sind. In der heutigen Zeit taucht das Problem des Antisemitismus häufig auf, sowohl in meiner Forschung als auch in der Politik der Universität. Als ich beispielsweise das Vorwort zu der kürzlich erschienenen Neuauflage der englischen Übersetzung von Hans Vaihingers „Philosophie des Als Ob“ („The Philosophy of ‚As If‘“, Routledge 2021) schrieb, stellte ich fest, dass dieser Philosoph in die Politik seiner Zeit, der 1920er-Jahre, verwickelt war: Als Gründer der angesehenen Zeitschrift Kant-Studien wurde Vaihinger in einen Streit über das Erbe Kants verwickelt. Persönlichkeiten wie Bruno Bauch, der Mitherausgeber der Zeitschrift war, und Martin Heidegger waren besorgt darüber, dass der „wahre“ deutsche Charakter von Kants Denken durch Interpreten wie Ernst Cassirer verzerrt wurde, dem sie vorwarfen, Kants Ideen „verjudet“ (so der Begriff Heideggers) zu haben. Vaihinger schlug sich auf die Seite Cassirers, und Bauch verließ den Verlag, um seine eigene Zeitschrift zu gründen. Obwohl er selbst kein Jude war, wurde Vaihinger von rechten Propagandisten zynisch als Jude abgestempelt. Diese nationalistischen Denkströmungen triumphierten schließlich an den deutschen Universitäten, bis die militärische Niederlage ihre Herrschaft beendete. Leider haben die dunklen Seiten der Geistesgeschichte nicht an Anziehungskraft verloren, auch wenn liberales und kosmopolitisches Denken seit dem Zweiten Weltkrieg an Einfluss gewonnen hat. Figuren wie Heidegger und Carl Schmitt sind heute noch immer einflussreich, sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite. Auch sind die Universitäten, zumindest in Nordamerika, zunehmend politisiert. Dort sind Kampagnen, die zum Boykott Israels und aller Personen aufrufen, die mit Israel in Verbindung stehen, weit verbreitet. Diese Kampagnen werden oft einfach mit „Widerstand gegen den Siedlerkolonialismus“ begründet oder mit der Angst vor einem angeblich wachsenden jüdischen Einfluss und jüdischem Geld usw. gerechtfertigt. Für diejenigen, die sich der deutschen Geschichte bewusst sind, sind die Anklänge an den Antisemitismus der Vergangenheit in diesen schrillen Kampagnen leicht zu erkennen, aber das gilt nicht für alle. Die Juden selbst sind heute in einigen dieser Fragen erbittert zerstritten. Es sollte natürlich erlaubt sein, Israel für seine Politik zu kritisieren, aber selbst wenn Boykotte in einigen Bereichen gerechtfertigt sein können, sind sie meiner Meinung nach an Universitäten selten bis nie angebracht, und wir sollten besonders vorsichtig sein, sie gegen jüdische Einrichtungen einzusetzen, gerade wegen der Geschichte und des aktuellen Wiederauflebens des Hasses. Als Jude und jemand, der versucht, die eher kosmopolitische Tradition jüdischen Denkens fortzusetzen, die ihre Wurzeln in Deutschland hat, besteht die Herausforderung darin, die Philosophie und ihre Begriffe in unserem komplexen sozialen Umfeld sowohl kritisch als auch reflektierend zu nutzen.
Sie wollen nachweisen, dass Spinoza den aus der mittelalterlichen Philosophie stammenden Begriff der Analogie in seine Theorie der Imagination transformiert. Andere Interpreten haben dagegen behauptet, dass Spinoza den Begriff der Analogie in seinem alten Werk gelöscht hat. Warum ist die Analogie Ihrer Meinung nach so wichtig für die Erklärung von Spinozas Philosophie?
Obwohl meine gegenwärtige Forschung über das Wesen und die Funktion der Einbildungskraft in Spinozas Philosophie recht weit von diesen praktischen Anliegen entfernt zu sein scheint, halte ich sie für sehr relevant. Spinozas grundlegendes Bekenntnis zur Vernunft machte ihn sowohl zum Optimisten als auch zum Pessimisten. Er war optimistisch, weil er glaubte, dass die Vernunft ein wesentlicher Bestandteil der Welt ist und dass wir durch das Nachdenken über die Welt grundlegende Einsichten in diese gewinnen können. Er war pessimistisch, weil die Vernunft uns lehrt, dass unsere Macht endlich ist und unsere Fähigkeit, rational zu denken und zu handeln, daher sehr begrenzt ist. Das Ergebnis dieses Paradoxons ist, dass ein Rationalist die unvermeidliche Präsenz unserer nicht so rationalen Ideen und Gefühle zugeben muss, die Spinoza ganz allgemein als „Phantasie“ beschreibt. Anstatt sich von diesen weniger rationalen Aspekten der Welt abzuwenden, versuchte Spinoza, sie zu verstehen, was zu faszinierenden Analysen unserer Gefühle, religiösen Überzeugungen und politischen Strukturen führte. In meiner aktuellen Arbeit möchte ich erforschen, was ich als den Bereich der kognitiven und praktischen Strukturen betrachte, die zwischen wahrer Vernunft und falschen Täuschungen liegen. Die Vorstellungskraft eines Rationalisten ist das, was mich im Moment interessiert.
Sie forschen auf Einladung des Instituts für Religionsphilosophische Forschung (IRF) an der Goethe-Universität und am Forschungskolleg Humanwissenschaften. Wie empfinden Sie die Zusammenarbeit?
Die Goethe-Universität ist für mich ein idealer Ort, um meine Interessen zu pflegen und zu entwickeln. Mit meinem Gastgeber Prof. Thomas Schmidt, dessen Arbeiten zu Religion und politischer Philosophie in der Geschichte der modernen Philosophie, insbesondere Hegels, verankert sind, verbindet mich eine langjährige Zusammenarbeit. Ich habe von seiner Arbeit über Säkularisierung und Pragmatismus gelernt. Ich genieße die Gespräche mit Theologen, und er hat mich mit seinen vielen Studierenden und Kollegen bekannt gemacht, wie Prof. Annette Langner-Pitschmann, Prof. Heiko Schulz und Prof. Markus Wriedt, die mich in ihren Kursen und Workshops willkommen geheißen haben. Ich bin begeistert, mit Prof. Martin Saar, einem der führenden Spinoza-Forscher und politischen Philosophen, sprechen zu können. Meine Arbeit über religiöse Toleranz hat enorm von der Lektüre der Arbeiten von Prof. Rainer Forst profitiert, und er war immer ein großzügiger Gesprächspartner. Prof. Christian Wiese ist einer der weltweit führenden Gelehrten des modernen deutsch-jüdischen Denkens. Ich habe von ihm viel über Themen gelernt, die mit meiner eigenen Arbeit zusammenhängen, und ich konnte von mehreren der vielen interessanten Veranstaltungen profitieren, die er organisiert hat. Und ich hatte das Glück, Prof. Matthias Lutz-Bachmann, den derzeitigen Direktor des Forschungskollegs Humanwissenschaften, kennenzulernen, der einfach ein Vorbild an philosophischer Forschung und Dialog ist. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Forschungskollegs und des IRF haben mich in jeglicher Hinsicht unterstützt, dadurch war mein Aufenthalt hier ebenso produktiv wie auch angenehm. Am Forschungskolleg genieße ich die Gespräche mit den anderen Fellows, vor allem mit den jüngeren, die mir Einblicke in neue Forschungsrichtungen geben. Viele meiner Frankfurter Kollegen haben im Laufe der Jahre die University of Washington in Seattle besucht, an der ich früher gearbeitet habe, und ich hoffe, diesen internationalen Austausch auch in Toronto fortsetzen zu können, wo ich jetzt lehre. Ich denke, dass die „Frankfurter Schule“ unter den vielen Studierenden von Jürgen Habermas immer noch lebendig ist, und es ist sehr wichtig, diesen Geist der kritischen Untersuchung mit Studierenden und Dozierenden in Nordamerika zu teilen.
Sie sind auch im Gespräch mit Studierenden des Masterstudiengangs Religionsphilosophie. Wie waren Ihre Erfahrungen?
Ich hatte mittlerweile die Gelegenheit, mich mit Studierenden zu treffen – nach meiner öffentlichen Vorlesung und ebenso im Rahmen eines Workshops, der vom IRF gefördert wurde. Ich werde mich in den nächsten Wochen weiter mit ihnen treffen, um über Maimonides zu sprechen. Wie schon bei meinen früheren Forschungsaufenthalten an der Goethe-Universität habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Studierenden hier sehr offen und neugierig auf meine Arbeit und meine Interessen sind. Es gibt ein starkes Gefühl dafür, dass Deutschland ein überwiegend christliches Land ist, aber es gibt auch eine zunehmende Erkenntnis, dass dies eine Gesellschaft ist, die immer multikultureller wird und dass verschiedene religiöse Perspektiven in diesem institutionellen Rahmen vertreten und diskutiert werden müssen. Beeindruckt haben mich auch die internationalen Studierenden, die hierherkommen, um zu studieren, und die anschließend ihre Erfahrungen und ihr Wissen in ihre eigene Gesellschaft mitnehmen. Die Idee einer globalisierten kritischen Theorie ist nicht nur dem Namen nach wichtig, sondern auch in der Praxis.
Sie waren schon mehrmals an der Goethe-Universität. Was gefällt Ihnen hier?
Was mir nicht gefällt, ist, dass das Englisch von allen zu gut ist! Ich habe im Laufe der Jahre hart daran gearbeitet, mein Deutsch zu verbessern, das ich erst relativ spät in meiner Karriere ernsthaft gelernt habe, aber es ist schwer, hier an der Universität eine Gelegenheit zu finden, es anzuwenden und mich besser auszudrücken. Ich besuche gerne die Museen in Frankfurt, stöbere in Buchläden und lese die Zeitungen. Es ist sogar schon vorgekommen, dass ich ein oder zwei Spiele von Eintracht Frankfurt besucht habe. Ich wohne jetzt in dem wohlhabenden und idyllischen Vorort Bad Homburg. Bei dem schönen Wetter im Sommer kann ich bei ausgedehnten Spaziergängen im Park und im Wald der verehrten Übung des Denkens nachgehen. Ich bin einfach dankbar und glücklich, hier zu sein!
Fragen: Dirk Frank