In seinem Projekt »Durchgang« erforscht der Architekturhistoriker Markus Dauss Orte, die wir en passant wahrnehmen: Fußgängerzonen, Rolltreppen, Coffee Shops, Bahnhöfe, Flughäfen. Was sagen sie über uns aus?
UniReport: Herr Dauss, die Räume, die Sie erforschen, werden weder bewohnt noch als Monumente bestaunt. Manche sind sogar kaum sichtbar. Warum sehen Sie da bewusst hin?
Markus Dauss: Weil man an den Durchgangsorten die Gesellschaft der Moderne lesen kann. Dass sie nicht bewusst wahrgenommen werden, gilt allerdings nur für einen Teil von Übergangsräumen. In der Vergangenheit haben manche sogar monumentale Qualität erhalten, weil sie bestimmten Leitvorstellungen der Gesellschaft entsprachen. Bahnhöfe zum Beispiel demonstrierten die Leistungsfähigkeit der Industriegesellschaft und wie sich Gesellschaft im Aufbruch – im Idealfall in eine bessere Zukunft – gestalten wollte. Das macht sie im Konfliktfall auch zu bevorzugten Zielscheiben. Andererseits gibt es schon eine Unsichtbarkeit, vielleicht sogar eine Unerwünschtheit von derartigen Orten, weil sich dort Zustände, Prozesse oder Personen zeigen können, die nicht Teil des offiziellen Selbstbildes sein sollen oder als nur schwer in es zu integrieren gelten. Ich denke etwa an Unterkünfte für Geflüchtete.
Die Räume, durch die sich Gesellschaft als fortschrittlich ausstellt, haben mit der Erfindung von Bahn, Automobil und Flugzeug zu tun, mit einer gesamtgesellschaftlichen Mobilmachung.
Moderne Verkehrsmittel transportieren sehr früh das Heroische dieses industriellen Aufbruchs. Sie sind Nachweise von infrastruktureller Leistung, der Vernetzung, des Warentransports, des kommerziellen Austauschs. Dieser Aspekt gilt bis heute: Flughäfen gelten als Icons der Modernität und Leistungsfähigkeit von Regimes. Und umgekehrt knüpfen sie auch an die Tradition von Stadttoren an. Die ersten Bereiche, die ein Ankommender an Airports betritt, werden ja auch als Gates bezeichnet, das suggeriert schon etwas von territorialer Hoheit. Flughäfen übernehmen tatsächlich ja regelrechte Gatekeeper-Funktionen, also zu sortieren, wer hineinkommt oder ausreisen darf, aber zugleich auch, dem Ankommenden zu zeigen, wie man selbst aussieht oder aussehen möchte.
Am Stadttor entscheidet sich also, wer passieren darf. Auf diese Verunsicherung reagiert die Architektur mit Beruhigung, sagen Sie.
Wahrscheinlich ist jeder Statuswechsel – wie eben auch der von der Erde in die Luft oder aufs Wasser – mit Verunsicherung verbunden, auch wenn diejenigen eigentlich beruhigt sein müssten, die mit Legitimitätsnachweisen unterwegs sind. Man hat aber gemessen, dass Menschen in Check-in-Situationen beziehungsweise während der Sicherheitsüberprüfung in Flughäfen stark gestresst sind. Der Nervositätslevel fällt erst ab, wenn man erfolgreich in die sogenannte Luftseite des Flughafens übergetreten ist. Die Strategie der Beruhigung kann dann sein: Systemintegration durch Kommerz. „Ich bin nicht nur ein administrativ legitimiertes, sondern auch ein konsumfähiges Objekt, ich bin adressierbar, ich gehöre zur Zielgruppe von Offerten.“
Im Entlanggleiten an den Shoppingmalls haben Sie einen quasi sakralen Charakter wie auf einem Prozessions- oder Pilgerweg erkannt.
Anthropologisch gefasst könnte man sagen, das Rituelle ist eine typische Begleitung von Übergängen und Durchgängen, weil es eine Versicherung schafft und stabilisiert. Nicht zufällig erinnern manche Flughäfen an sakrale Bauten wie Kathedralen oder Moscheen. Das Interessante an den Durchgangsorten der Moderne ist: Einerseits wirken sie rationalisiert, sind logistisch und merkantil bestimmt, und gleichzeitig kehrt Älteres beziehungsweise darüber Hinausweisendes, Metaphysisches, in Spuren zurück. Es ist interessant, dass es gerade bei einem scheinbar so vorwärts Gerichteten wie dem Durch- oder Hinübergehen re-entry-Phänomene gibt, dass also etwas, das man zuvor für abgelegt erklärt hat, nun latent oder manifest wiederkehrt.
»Mit Mobilität war und
ist immer auch ein großes
Demokratisierungsversprechen
verbunden.«
Viele der Durchgangsräume sind transparent. Reagiert die Architektur damit auf das Verunsicherungsgefühl? Hilft sie, den Überblick zu behalten?
Dies hat man im 19. Jahrhundert sicher angestrebt: Große, überschaubare Räume, in denen man sich orientieren kann – und zugleich auch in einem Größeren, gleichsam in einem technisch Erhabenen, verlieren kann. Außerdem ging es auch darum, Dinge im Blickfeld zu behalten, um sie zu steuern. Dann gehört sicher auch dazu, dass mit Transparenz das Versprechen verbunden ist, Zugänglichkeit zu schaffen, dass die Hinterzimmerkabinette der Macht aufgelöst werden. Mit Mobilität war und ist immer auch ein großes Demokratisierungsversprechen verbunden. Darauf blickt man heute wieder etwas kritischer. Denn man sieht hier viele faktische, vor allem wirtschaftliche Zugangsbeschränkungen und auch gewollte Exklusivitäten am Werk.
Andererseits gibt es Orte, die im großen Flow auf sich aufmerksam machen – wie etwa die Raststätten an automobilen Trassen, die Sie sich in Los Angeles angesehen haben. Sie müssen im schnellen Vorbeifahren aus dem Augenwinkel wahrnehmbar sein. Gibt es eine Architektur, die darauf reagiert?
Mit der Eisenbahnreise hatte sich der Blick der Menschen schon geändert. Im Design bricht sich die erhöhte Geschwindigkeit des Wahrnehmenden aber erst Bahn ab den 10er-, 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts. In L.A. bauen Architekten dann einerseits die europäisch geprägten privaten Refugien, gehobene Orte des Ausruhens, andererseits aber auch die „vulgären“ Zonen der Mobilität, über die sie sich manchmal selbst verächtlich äußern, auch wenn sie sie sehr gekonnt gestalten. Dann gibt es aber relativ schnell hoch spezialisierte Leute, die nur noch das machen: Tankstellen, Coffee Shops, Fast- Food-Imbisse. Sie sind teils auch Filmset-Designer und haben gelernt, schnelle Architektur mit großen Effekten hochzuziehen. Wenig Aufwand, viel Fassade mit sehr prägnanten Mitteln. Cinematic Architecture. Alles, was glitzert und glamourös aussieht.
Und die auch auf schnellen Wandel hin geplant sind – im Grunde ein neues Genre der Architektur?
Ja, kann man sagen. Es sind natürlich fragwürdige Räume, die allein durch die Automobilisierung entstanden sind. Aber sie sind doch interessant, bilden eine ganz eigene Typologie und weisen häufig auch eine individuelle Designerhandschrift auf. Coffee Shops etwa habe ich mit Studierenden auf einer ausgedehnten Südkalifornien-Exkursion besucht, sie haben wirklich extrem viel Appeal. Es ist wie ein Filmset. Man denkt, John Travolta kommt gleich um die Ecke.
Haben Sie an Durchgangsorten seit dem 19. Jahrhundert eigentlich Trends wahrgenommen?
Einer ist sicherlich die kurze Halbwertszeit der entsprechenden Gestaltungen. Gerade die Moderne hat ihre Kinder sehr schnell gefressen. Das heißt, die Durchgangsräume der Moderne sind selber dem beschleunigten Wandel ausgesetzt. Bei den Coffee Shops in L. A., deren historische Exempel erst seit Kürzerem teils „Landmark-Status“ erworben haben, kann man sich eines nostalgischen Blicks kaum erwehren. Zugleich erkennt man auch in der Moderne bei genauerem Hinschauen nicht nur Umbrüche, sondern auch Kontinuitäten. So wurden natürlich schon öfter Paradigmenwechsel ausgerufen, die bei genauer Analyse keine sind: Die Fußgängerzone etwa setzt das außer Sichtweite geparkte Automobil noch voraus, ja, zieht es sogar noch einmal stärker in die Innenstädte – mal sehen, wie die „Verkehrswende“ sich da präsentiert. Man sieht aber auch gegenwärtig wiederum, wie zügig es zu Transformationen kommen kann. Etwa die digitale Revolution der hyperschnellen Datendurchgänge.
Wie sehen diese neuen Orte des Durchgangs aus?
Das ist die Frage. Das kann man sicher nur genrespezifisch beantworten. Man hat erwarten können, dass die digitale Revolution die analoge Räumlichkeit ersetzt – durch die Pandemie haben wir dies nun beschleunigt erlebt. Andererseits hat die Digitalisierung aber auch die Mobilität erhöht. Denken Sie an die Bilder aus dem touristischen Universum – viele Menschen begeben sich genau deshalb verstärkt auf die reale Reise. Und in einer Wirtschaft, die IT-abhängig ist, gibt es natürlich nach wie vor reale Ort, in die man sich physisch begeben muss – sei es der an Datennetzwerkstrukturen oder Server angebundene, mit entsprechender Hardware ausgestattete Arbeitsplatz oder überhaupt sogenannte Global Cities, zu denen Frankfurt sicher gehört. Es gibt eine Wiederkehr des Raumes, etwa weil es immer noch Knoten und zentrale Hostrechner gibt. Aufgrund der Beschleunigung von Finanztransaktionen ist bei bestimmten Formen des Digitalhandles sogar der physische Abstand zum Börsenserver wieder extrem wichtig: Je kürzer das Kabel, desto mehr Wettbewerbsvorteil gibt es.
Das sind Durchgangsräume für Daten …
Wenn man auf Global Cities wie Frankfurt schaut mit seiner hohen Fluktuation, dann hat das aber Auswirkungen auf die Menschen und ihre Architektur.
Das ist übrigens auch ein Gedanke schon des 17. und 18. Jahrhunderts, den Foucault schön gezeigt hat: In dem Moment, wo sich der frühneuzeitliche Flächenstaat mit seinen massiven Grenzbefestigungen herausbildet, entsteht gleichzeitig die Vorstellung, dass eine Gesellschaft nur produktiv funktionieren kann, wenn es möglichst „gute“, das heißt nützliche, Ströme in ihr gibt. Das Problem heute ist, dass wir die Infrastruktur dieser Ströme nicht einsehen können.
Der Durchgangsort als Schwarzes Loch …
Ja, mit derselben Sogwirkung. Interessant ist, dass man aber aus allen personenbezogenen Daten wiederum eine Art Avatar schaffen kann, der der realen Person täuschend ähnlich ist. Ein fast paradoxer Doppelgänger, den die dunkle Romantik schon kannte. Auch diese aktuellen Phänomene sind wieder älter, als wir denken. Das kann eine historische Perspektive aufzeigen.
Fragen: Pia Barth
PD. Dr. Markus Dauss ist Architekturhistoriker am Kunstgeschichtlichen Institut und arbeitet mit seinem DFG-geförderten Forschungsprojekt Durchgänge an den Schnittstellen von Kunstgeschichte, Sozialwissenschaften und Anthropologie.
Weitere Informationen unter https://www.klimt.uni-frankfurt.de/durchgang/