Interview mit der Soziologin und Sozialpsychologin Prof. Vera King zum Auftakt der Tagung „Das vermessene Leben“
Am 1. und 2. Juli findet am Campus Westend der Goethe-Universität und im Internet eine große Tagung statt: Unter dem Titel „Das vermessene Leben“ widmen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen den Folgen der Digitalisierung für Gesellschaft und Individuum. In Vorträgen und Panels geht es um rechtliche, psychische und soziale Fragen, die die Digitalisierung der menschlichen Kommunikation aufwirft. Die Tagung bildet den Abschluss des von der Volkswagenstiftung geförderten Verbundprojekts „Das vermessene Leben“ der Soziologin Prof. Vera King (Goethe-Universität), der Psychologin Prof. Beninga Gerisch (Internationale Psychoanalytische Universität Berlin) und des Soziologen Hartmut Rosa (Universität Jena). Goethe-Uni online sprach mit Vera King im Vorfeld der Tagung. King lehrt an der Goethe-Universität Soziologie und Sozialpsychologie, ist Direktorin des Siegmund-Freud-Instituts und Sprecherin des Projekts „Das vermessene Leben“.
Das Programm der Tagung finden Sie hier.
Goethe-Uni online: Sie selbst forschen seit Jahren zum Thema Digitalisierung und richten den Blick vor allem auch auf die problematischen Begleiterscheinungen. Wie ist Ihr persönlicher Blick auf die Digitalisierung – eher optimistisch oder eher pessimistisch?
„Es wäre unsinnig zu glauben, dass man Digitalisierung rückgängig machen oder aufhalten sollte.“
Prof. Vera King: Zunächst würde ich sagen, dass wir alle davon profitieren. Es gibt eine Fülle von praktischen Vorteilen. Ganz abgesehen davon wäre es unsinnig zu glauben, dass man Digitalisierung rückgängig machen oder aufhalten sollte. Aber es gibt Schattenseiten und destruktive Mechanismen, daher müssen die Menschen und die Gesellschaften sich darüber verständigen, wie Digitalisierung genutzt, organisiert und reguliert wird und welche Folgen sie hat. Anlass zur Zuversicht ist, dass es viele Ansätze gibt, auch in wissenschaftlicher Hinsicht, die bei der Regulation helfen könnten, und dass die Sensibilität dafür gestiegen ist.
Worum wird es bei Ihrer Tagung gehen?
Wir sehen durchaus die produktiven Seiten, die Chancen und die Vorteile, aber wir wollen mit unserer Forschung dazu beitragen, die problematischen Aspekte genauer zu analysieren. Das reicht von rechtlichen Regulierungsfragen, wie sie Frau Prof. Spieker thematisieren wird, bis hin zur Selbstverständigung, was es kulturell bedeutet, was für soziale Beziehungen im Privatleben und in Arbeitskontexten, aber auch, wie es sich auf die Beziehung zu sich selbst und zum eigenen Körper auswirkt. Im Projekt „Das vermessene Leben“ haben wir all diese Aspekte untersucht, im Fokus standen dabei die Sozialen Medien. Die Ergebnisse wollen wir mit Blick auf die Frage erörtern, wie gesellschaftliche Bedingungen zusammenwirken mit individuellen Praktiken und Verarbeitungsformen.
Können Sie das noch etwas näher erläutern?
Das Projekt baut auf dem Vorgängerprojekt auf im selben Verbund, das auch von der VolkswagenStiftung gefördert wurde und den Titel trug „Aporien der Perfektionierung in der beschleunigten Moderne“. Da ging es um die Logiken der Optimierung in der zeitgenössischen Moderne. Aus der Erkenntnis, dass Digitalisierung hierfür eine große Rolle spielt, ist dann das jetzige Verbundprojekt entstanden, in dem digitale Mechanismen der Optimierung untersucht werden.
Hatte die Pandemie und die damit einhergehende forcierte Digitalisierung Auswirkungen auf Ihr Projekt?
Zum Teil hat sich die Untersuchung mit der Pandemie überschnitten. Die Auswirkungen von Corona wurden dann miterhoben. Im Frankfurter Teilprojekt liegt der Schwerpunkt auf Social Media, und das hat ja während der Corona-Pandemie eine große Rolle gespielt: Es wurde noch mehr Zeit mit digitalen Medien verbracht, weil andere Möglichkeiten der Begegnung beschränkt waren, und man konnte sehr gut sehen, welche Funktion bestimmte Umgangsweisen mit den sozialen Medien für die Verarbeitung der Krisen gewonnen haben. Insofern war es unbeabsichtigt auch ein wenig Corona-Folgenforschung, aber es sind keine grundsätzlichen Veränderungen in den Auswertungen eingetreten.
„Wie durch ein Brennglas: Vorteile und Schattenseiten“
Die Kausalität war auf den Kopf gestellt: Weil Begegnungen nicht möglich waren, wurde digitale Kommunikation wichtiger. Sonst ist es eher so, dass sich bei wachsender Digitalisierung die Begegnungen verringern.
Genau. Man möchte sich ja nicht vorstellen, wie viele Dinge unterbrochen worden wären, worauf wir alle hätten verzichten müssen, wenn wir keine digitalen Geräte gehabt hätten. Man hat die Vorteile klar gesehen, und wir haben gesehen, wo es noch Defizite bei der Ausstattung gibt. Wir haben aber auch wie durch ein Brennglas gesehen, welche Schattenseiten es hat, wenn das Leben sich ganz transformiert ins Digitale.
Werden Sie darüber in Ihrem gemeinsamen Eröffnungsvortrag sprechen, in dem es um „neue Normalitäten und Pathologien“ geht?
Da muss ich etwas ausholen: In unseren beiden Forschungsprojekten haben wir beispielsweise so genannte Normalbiographien mit Menschen verglichen, die irgendwann im Leben als Patientinnen und Patienten mit psychischen Erkrankungen diagnostiziert worden sind – zum Beispiel wegen Depressionen oder Burnout oder Essstörungen, bei denen Optimierung auch eine sehr große Rolle spielt. Wir wollten die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten in der digitalen Nutzung finden.
Und wie groß sind die Gemeinsamkeiten?
Beide Projekte haben gezeigt, dass es Analogien gibt in Bezug auf die psychische Verarbeitung der digitalen Kommunikation. Zwischen Personen, die psychische Erkrankungen haben, und jenen ohne Diagnose, deren Umgang mit sozialen Medien oder mit Selftracking manchmal recht verzweifelt suchtartige Formen annimmt, gibt es allenfalls quantitative Unterschiede, weniger qualitative. Natürlich sind Menschen mit einer psychischen Vorgeschichte verletzlicher, aber strukturell ähneln sich beide Gruppen in Bezug auf ihre Verarbeitungsmechanismen: Aus bestimmten nichtproduktiven Zirkeln kommt der Einzelne einfach nicht heraus.
Welche „nichtproduktiven Zirkel“ wären das?
Ich meine zum Beispiel, dass viele Menschen Anerkennung in sozialen Medien suchen, was aber systematisch immer verfehlt wird, weil es sich letztlich allenfalls um einseitige und eher selbstbezogene Bestätigung handelt. Anerkennung und eine tiefere Form der Bezogenheit gibt es, strukturell bedingt, kaum in dieser Art von Kommunikation. Häufig wird das Bemühen dann aber noch mehr gesteigert, noch mehr Intensität hineingelegt. So wird die Frustration noch größer. Diese Risikozirkel, die dann suchtartige Schleifen bilden, sind ähnlich bei Patienten und Nichtpatienten. In unserem Eröffnungsvortrag wollen wir zeigen: Es gibt ein Potenzial für „soziale Pathologie“, also die derzeitige Situation bietet eher ungünstige Bedingungen für konstruktive Entwicklung des Individuums. Diese ungünstigen Bedingungen führen dazu, dass pathologische Zirkel wie eine auf Dauer gestellte Anerkennungssuche, bei der man permanent frustriert wird, gesellschaftlich normalisiert werden.
„Interessanterweise ist hierbei der Unterschied zwischen Jugendlichen und Erwachsenen gar nicht so groß“
Als Erwachsener denkt man ja in erster Linie an Kinder- und Jugendliche. Kapitulieren wir als Gesellschaft vor dieser Entwicklung?
Wir haben Personen untersucht zwischen 25 und 45 Jahren in der so genannten Rushhour des Lebens, denn da sind die Optimierungsanforderungen besonders groß. Am Sigmund-Freud-Institut haben wir aber auch Jugenderhebungen gemacht. Interessanterweise gibt es bei den Erwachsenen vergleichbare Formen wie bei den Jugendlichen, der Unterschied ist gar nicht so groß. Bei beiden Altersgruppen gilt: Je intensiver die Personen involviert sind in diese mediale digitale Welt, desto größer ist auch das Unbehagen an dieser Welt. Die Subjekte verspüren dieses Gefühl von Unbehagen, kommen aber nicht ohne weiteres raus. Um zu Ihrer Frage zu kommen: Immerhin ist dieses Unbehagen ein Ansatzpunkt für eine wachsende gesellschaftliche Selbstverständigung, für potenzielle Veränderung.
Es scheint, die gesamt Bevölkerung ist suchtgefährdet. Da wäre doch auch eine politische Debatte an der Zeit. Haben Sie den Eindruck, dass das die gewählten Volksvertreter auf dem Schirm haben?
Es gibt zum Beispiel viele medienpädagogische Konzepte, die gut sind. Ich glaube trotzdem, dass das Netz, so wie es strukturiert ist – eingebettet in eine gesellschaftliche Logik der Steigerung, der stetigen Optimierung und des Wettbewerbs, andererseits noch immer wenig reguliert – diese negativen Zirkel in großem Maßstab begünstigt. Dazu müsste es wirklich mehr Verständigung und Veränderungen geben, denn das hat massive Auswirkungen – nicht nur in Hinblick darauf, was die Leute tun, wenn sie im Netz sind, sondern auch mit Blick auf die Fragmentierungen all dessen, was offline stattfindet.
„Die gesamte menschliche Kommunikation findet ‚gestückelt‘ statt.“
Was genau meinen Sie mit „Fragmentierung“?
Es ist ja nicht so, dass man hier digitale Kommunikation hat und dort eine nichtdigitale analoge Kommunikation. Das ganze Leben ist komplett durchformt und durchdrungen, das heißt die gesamte menschliche Kommunikation findet „gestückelt“ statt. Das ist noch viel zu wenig im Bewusstsein. Es hat massive kulturelle Auswirkungen: für die Individuen, für die Art, wie gearbeitet wird, wie Beziehungen gestaltet werden, wie man sich selbst versteht.
Seit der Pandemie kommt es mir so vor, als wären die Menschen stärker überfordert als zuvor. Hat dies seinen Grund auch in der Fragmentierung?
Ja, und das wird tatsächlich unterschätzt. Menschen, die viel arbeiten, stellen immer mehr fest: Einerseits ist es extrem praktisch, dass man durch die Digitalisierung so viele Dinge verdichten und gleichzeitig machen kann. In der Corona-Pandemie waren die Wege kurz: Mit einem Klick von einer Sitzung zur nächsten wechseln und zwischendurch noch Mails durchsehen. Diese Verdichtung, die durch die Technologie ermöglicht, aber auch erzwungen wird, wurde durch die Pandemie nochmal hochgradig intensiviert. Das birgt enorme Potenziale der Überforderung, weil es ja faktisch nicht funktioniert. Man kann nicht unbegrenzt Dinge gleichzeitig aufnehmen und erledigen. Auch das berühmte Multitasking ist ja eine Illusion, denn es bedeutet vor allem, dass man mehr fragmentiert, Konzentrationszeiten verringert. Das führt zwangsläufig zum Gefühl der Überforderung.
Sie sind ja auch beim Clusterprojekt ConTrust als Principal Investigator involviert. Welche Aspekte des Themas sind hier relevant?
Bei ConTrust geht es darum, wie Vertrauen im Konflikt entsteht, und eine Arbeitsgruppe befasst sich explizit mit der Rolle der Medien. In unserem Verbundprojekt „Das vermessene Leben“ wiederum haben wir untersucht, wie Messen und Vergleichen zwar Verlässlichkeit und Objektivierung erhöhen sollen, aber unter den gegebenen Bedingungen oft Misstrauen und Entfremdung verstärken. Denn typischerweise werden unter Steigerungsdruck eher die Zahlen optimiert als die Praxis selbst: Es geht dann also mehr um Praktiken der Simulation als um echte Verbesserung. Einen weiteren Schwerpunkt bei ConTrust innerhalb der Arbeitsgruppe Demokratie bilden interdisziplinäre Analysen, aber auch erste Erhebungen zum zeitgenössischen Autoritarismus. Was passiert da im digitalen Raum? Von Radikalisierung und Abschottung hat jeder schon mal gehört. Aber welche Rolle spielt hierbei, was ich vorhin beschrieben habe, die systematische „Verwechslung“ von sozialen Beziehungen mit digitaler Connectedness? Erste Befunde wird unser Team aus dem SFI zusammen mit Prof. Ferdinand Sutterlüty in einem Panel der Tagung vorstellen.
Was kann die Wissenschaft zur gesellschaftlichen Verständigung beitragen?
Die Aufgabe der Wissenschaft als Ort der Selbstreflexion ist es, auf die Probleme hinzuweisen. Wir sagen nicht: Digitalisierung ist schlecht, werft alle eure Technologien weg. Sondern wir wollen deutlich machen, dass es einer gesellschaftlichen Verständigung und Aufklärung bedarf, und auch einer veränderten Praxis, damit Digitalisierung hilfreich verwendet werden kann.
Interview: Dr. Anke Sauter