»Der Islam in Deutschland ist vielstimmig«

Alle Illustrationen in diesem Interview gehören zu dem Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung »Begriffswelten Islam«, www.bpb.de/begriffswelten-islam
Alle Illustrationen in diesem Interview gehören zu dem Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung »Begriffswelten Islam«, www.bpb.de/begriffswelten-islam

In ihrem Gespräch beschäftigen sich Prof. Dr. Bekim Agai, geschäftsführender Direktor des Instituts für Studien der Kultur und Religion des Islam, und Ulrike Jaspers, Redakteurin von »Forschung Frankfurt«, mit dem Wahrheitsanspruch der Religionen, der Debattenkultur in Deutschland, der jungen islamischen Theologie, den fundamentalistischen Strömungen und anderem mehr.

Jaspers: Viele Christen in Deutschland wenden sich von ihren Kirchen und deren klaren Glaubensvorstellungen ab. Religion wird zunehmend zur Privatsache des Einzelnen. Das Gegenteil scheint bei den Muslimen in Deutschland der Fall zu sein. Hier fortschreitende Individualisierung und dort stärkere Rückbesinnung auf die Dogmen der Religion. Stimmen Sie dieser Einschätzung zu?

Agai: Ich sehe darin keine gegenläufigen Entwicklungen, sondern beides ist die Folge der Individualisierung von Lebensstilen. Daraus hat sich ein religiöser und weltanschaulicher Pluralismus entwickelt, der die europäischen Gesellschaften prägt. Eine Besinnung auf den Islam führt unter Muslimen nur auf den ersten Blick zu einer Homogenisierung; so gibt es beispielsweise in Deutschland eine Vielzahl muslimischer Gruppen mit unterschiedlichen Vorstellungen. Diese reichen von den Verbänden über studentische Gruppen, lokale Initiativen und freie Gemeinden bis hin zu den Feiertagsmuslimen. Das spiegelt sich übrigens auch in der Zusammensetzung unserer Studierenden wider. Das gesellschaftliche Miteinander wird durch Homogenität vielleicht übersichtlicher, aber nicht leichter, so wie es durch Vielfalt nicht notwendigerweise schwieriger wird. Es kommt auf die Diskussionskultur an, die in einer Gesellschaft gepflegt wird; sie sollte über die Unterschiedlichkeit das Gemeinsame nicht aus dem Auge verlieren.

Jaspers: Der Soziologe Ulrich Beck sieht das Konfliktpotenzial der Religionen in ihrem jeweiligen Wahrheitsanspruch angelegt, was zur Unterscheidung zwischen »Gläubigen« und »Ungläubigen«, zwischen Gemeinschaft und Exklusion führen müsse. Vertreten Muslime in besonderer Weise diesen absoluten Wahrheitsanspruch?

[dt_quote type=“pullquote“ layout=“left“ font_size=“big“ animation=“fancy“ size=“2″]»Junge Muslime für die postmoderne Gesellschaft fit zu machen, beginnt damit, ihnen die religiöse Vergangenheit zu erschließen.«[/dt_quote]

Agai: Zunächst einmal: Der religiöse Mensch der Moderne muss damit leben, dass seine Wahrheit innerhalb der Gesamtgesellschaft immer nur eine partielle war und ist – aber keine absolute! Das fällt den Muslimen heute paradoxerweise schwerer als früher. Im Islam wurde die Tatsache der verschiedenen religiösen Vorstellungen, die allesamt für sich eine Wahrheit beanspruchen – sowohl in Bezug auf andere Religionen als auch in Bezug auf die innere Vielfalt –, schon in der Entstehungszeit im 7. Jahrhundert erkannt. Islamische Rechtsgelehrte und Theologen haben sich oft damit beschäftigt, wie Menschen angesichts einer gegebenen Pluralität mit unterschiedlichen Wahrheiten in einer Gesellschaft zusammenleben können.

Lassen Sie mich ein Beispiel dafür nennen: Die sogenannten Sunniten gehen auf ein Konzept zurück, das unterschiedliche theologische, sich teilweise widersprechende Prämissen unter einem Dach von legitimen Äußerungen vereint. Homogenisierungsversuche haben sich in der islamischen Geschichte nie halten können. Eine Kernleistung der islamischen Kultur war es, Modi der Vielfalt zu finden, auch wenn uns dies heute kaum noch vorstellbar erscheint.

Junge Muslime für die postmoderne Gesellschaft fit zu machen, beginnt entsprechend damit, mit ihnen die religiöse Vergangenheit zu erschließen, die viel Pluralismus-toleranter war, als sich dies Muslime wie Nichtmuslime heute vorstellen.

Foto: Dettmar
Prof. Dr. Bekim Agai, geschäftsführender Direktor des Instituts für Studien der Kultur und Religion des Islam, im Gespräch mit Ulrike Jaspers, Redakteurin von »Forschung Frankfurt«; Foto: Dettmar

Jaspers: Wie kommt es denn, dass es Muslimen gerade heute oft schwerfällt, anzuerkennen, dass ihr Glaube keinen Absolutheitsanspruch stellen kann?

Agai: Das Problem ist, dass in der Moderne der eigene Wahrheitsanspruch oft mit einem Absolutheitsanspruch verwechselt wird. Das ist das Erbe der totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts und nicht das Erbe der islamischen Geschichte. Hierauf hinzuweisen, ist für den innermuslimischen Diskurs sehr wichtig.

[dt_quote type=“pullquote“ layout=“right“ font_size=“big“ animation=“fancy“ size=“2″]»Warum es schwerfällt, über Religion ähnlich kontrovers zu diskutieren wie über Politik.«[/dt_quote]

Jaspers: Immer wieder fordern engagierte Gruppen der Gesellschaft eine debattierfreudige Kultur zwischen Gläubigen verschiedener Religionen anstelle einer Kultur des Schweigens oder Verschweigens von religiösen und kulturellen Differenzen. Wie sieht nach Ihrer Einschätzung die Realität aus?

Agai: In gesellschaftlichen Diskussionen gibt es einen regen Austausch über das Vereinende. Aber es gibt bisher keine kreativen Formate, wie wir über Unterschiede so debattieren können, dass solche Gespräche nicht zu schnell in Polemik und Apologetik umschlagen.

Jaspers: Zumindest Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen debattieren offen über Differenzen zwischen den Religionen und über die Bedeutung der Religionen in der Gesellschaft – das kann man bei verschiedenen Veranstaltungen an unserer Universität, aber auch in den Beiträgen dieses Wissenschaftsmagazins beobachten.

Agai: Sie haben recht, der Dialog über die Unterschiedlichkeit der Religionen ist in der Wissenschaft schon weit entwickelt – besonders an der Goethe-Universität. Hier findet ein vorbehaltlos offener Dialog der verschiedenen Theologien, der Religionswissenschaft, kulturwissenschaftlicher Fächer, der Ethnologie und anderer Fächer statt. Gepflegt wird dies besonders intensiv in dem Graduiertenkolleg »Theologie als Wissenschaft«, fortgesetzt werden soll dies in dem jüngst beantragten Projekt »Religiöse Positionierungen«, in dem wir uns fächerübergreifend mit den Fragen von integrativen und desintegrativen Momenten von Religion beschäftigen.

Jaspers: Warum ist es so schwierig, eine solche Debattierkultur in der Gesellschaft oder zumindest innerhalb bestimmter Kreise der Gesellschaft zu etablieren?

Agai: Manchmal führt die Suche nach Konsens dazu, dass man übersieht, dass eine plurale Gesellschaft auch aus der Unterschiedlichkeit ihre Kraft bezieht. Vielleicht gibt es auch historische Wurzeln: So haben die christlichen Konfessionen untereinander und in Bezug auf das Judentum in der Geschichte zu sehr das Trennende betont – dies mit unheilvollen Konsequenzen. Vielleicht fällt es daher schwer, über Religion ähnlich kontroverse Debatten zu führen wie über politische Vorstellungen.

Jaspers: Unser Grundgesetz macht mit der Festschreibung der Religionsfreiheit keinen Versuch, Unterschiede zu minimieren. Das sind doch eigentlich beste Voraussetzungen für eine Begegnung auf Augenhöhe.

Agai: Ja, im Zentrum unseres liberalen Verfassungsstaats steht eher, Unterschiedliches auf ein Gemeinsames auszurichten, das sich aus verschiedenen Quellen speist. Insofern hat Religion in dieser Gesellschaft neben anderen Vorstellungen einen wichtigen Platz – auch verglichen mit anderen Staaten.

Jaspers: Ihre Professur trägt den sperrigen Namen »Professur für Kultur und Gesellschaft des Islam in Geschichte und Gegenwart« und folgt damit konsequent der Ausrichtung des Instituts, wo neben den theologischen Themen die kulturellen und historischen eine wichtige Rolle spielen. Warum ist diese thematische Breite notwendig, um die islamische Theologie innerhalb der theologischen Wissenschaften zu etablieren?

[dt_quote type=“pullquote“ layout=“left“ font_size=“big“ animation=“fancy“ size=“2″]»Tradition nicht statisch, sondern dynamisch: Religion ist immer etwas Gewordenes.«[/dt_quote]

Agai: Religion ist immer etwas Gewordenes, das beginnt mit dem Umfeld ihrer Entstehung, ihrer Ausformung und Umformung innerhalb der Geschichte und ihrer Rekontextualisierung – also dem Verstehen aus dem ursprünglichen Kontext heraus für die Gegenwart. Mir geht es darum, aufzuzeigen, wie Muslime immer wieder versucht haben, ihrer jeweiligen gegenwärtigen Lebenssituation durch Reflexion ihrer Tradition Sinn zu geben. Damit ist die Tradition nicht statisch, sondern dynamisch. Das drückt sich auch in dem Namen meiner Professur aus. Ich will mit meiner Lehre und Forschung ein Bewusstsein dafür schaffen, wie sich der Islam aus den historischen Konstellationen heraus entwickelt hat und wie bestimmte Konzepte zeitlich verankert sind. Erst wenn wir verstehen, dass bestimmte Positionen Antworten auf die Gegebenheiten und Erfahrungen der Zeit waren, können wir nach dem dahinterliegenden Sinn fragen. Es geht nicht darum, große intellektuelle Leistungen der Vergangenheit einfach als leere Form in die Gegenwart zu retten; vielmehr sollten sie als kreative Quelle im Jetzt nutzbar gemacht werden.

Jaspers: Bezeichnen Sie sich als Islamwissenschaftler oder als islamischer Theologe?

Agai: Ich bin, wie die meisten Kollegen an den neuen islamischen Zentren in Deutschland, »gelernter« Islamwissenschaftler. Islam an deutschen Universitäten war bis vor wenigen Jahren ausschließlich innerhalb der »klassischen« Islamwissenschaft verortet. Gleichzeitig hat mein Studium immer wieder theologisch relevante Fragen aufgeworfen. Heute treibe ich den Aufbau der islamisch-theologischen Studien in Deutschland voran und decke den historischen und kulturwissenschaftlichen Teil innerhalb des Faches ab; diese Teile bilden die Basis für die Entwicklung einer eigenständigen islamischen Theologie.

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Jaspers: Islamwissenschaft gibt es schon seit fast hundert Jahren an deutschen Universitäten. Wie unterscheiden sich diese von den Inhalten der neuen Professuren?

Agai: Islam wurde innerhalb der Islamwissenschaft klassischerweise als Religion entfernter Regionen von anderen Menschen verstanden. Innerhalb der islamisch-theologischen Studien ist die Perspektive eine andere: Hier geht es darum, eine Religion zu ergründen, die zur eigenen Identität gehört. Unsere wissenschaftlichen Instrumente sind jedoch ähnlich und selbstverständlich geprägt von den Kriterien der Wissenschaftlichkeit. Inzwischen wird der Austausch mit der klassischen Islamwissenschaft wie mit der Religionswissenschaft oder den anderen Theologien immer enger. Das von uns produzierte Wissen ist allerdings oftmals bekenntnisbezogen. Das heißt, es stellt die Frage danach, was ein gewonnenes Wissen um die Gewordenheit der Dinge für die religiöse Selbstsicht heute bedeutet. Wie geht man unter anderem um mit dem Aufstieg und Fall großer islamisch geprägter Reiche, wie mit Zeiten des intellektuellen Glanzes und Niedergangs des Islam, wie mit der Entwicklung von gruppenspezifischen Dogmen? Dies macht aus historischen Fragen theologische Fragestellungen für die Muslime. Für jemanden, den das für seine religiöse Identität nicht betrifft, bleiben die Fakten solides historisch-kulturwissenschaftliches Wissen ebenso wie deskriptives Wissen über normative und theologische Positionen von islamischen Gelehrten.

Jaspers: »Vielleicht ist das Problem des Islam weniger die Tradition als vielmehr der fast vollständige Bruch mit dieser Tradition, der Verlust des kulturellen Gedächtnisses, seine zivilisatorische Amnesie«, so benannte es der Islamwissenschaftler Navid Kermani in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Sehen Sie da einen Widerspruch zu Ihrer Vorstellung?

Agai: Keineswegs, denn es geht mir ja gerade um die Bewusstmachung der historischen Tradition und der Erschließung ihrer Kontexte. Wer meint, dass man sich auf Texte aus dem 13. Jahrhunderts ohne ein Verständnis ihrer Kontexte nähern kann, der betreibt genau diese Amnesie.

Jaspers: Sie sprechen gern davon, dass es aktuell darum geht, einen »Islam für Deutschland« zu entwickeln – einen Islam, der von Deutschland aus gedacht wird, der die Traditionen aufgreift, die die Menschen in dieses Land mitbringen bzw. bereits seit mehreren Generationen in diesem Land leben. Ist das nicht utopisch angesichts der unterschiedlichen Strömungen sowie der verschiedenen Lebensweisen der Muslime von Parallelgesellschaften bis zur Integration?

Agai: Im Gegenteil – es ist durchaus realistisch, gerade angesichts der Tatsache, dass der Islam in einer deutschen Einwanderungsgesellschaft in seinen kulturellen und intellektuellen Ausprägungen so vielschichtig ist wie wohl nirgends anders in der sogenannten »islamischen Welt«. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund zu sehen, dass der Staat die religiöse Freiheit des Einzelnen respektiert. Für Muslime besteht die Herausforderung, ein Dach zu entwickeln, das diese Vielfalt nicht vereinheitlicht, sondern in gegenseitigem Respekt ermöglicht und gleichzeitig nach dem Einenden und Gemeinsamen in der deutschen Lebensrealität fragt. Der »Islam in Deutschland« ist vielstimmig und fragt nach dem Einbringen in die deutsche Gesellschaft.

Hierbei geht es nicht um die Idee der Uniformität oder die »Schaffung eines neuen, anderen Islams«, vielmehr geht es um die Punkte, wo durch eine gemeinsame Lebenswelt Konsens innerhalb der Vielstimmigkeit entsteht. Ich denke da beispielsweise an Wohlfahrt oder Seelsorge, die sich aus dem Leben in Deutschland ergeben. Bei sozialen Diensten im Kindergarten, in der Schule, am Krankenbett, in der Suchtberatung oder in Gefängnissen und an anderen Orten geht es darum, aus den islamischen Wissensbeständen spezifische Hilfsangebote für Muslime zu entwickeln. Und dabei sollten Unterschiede, die sich aus der innermuslimischen Vielfalt ergeben, in den Hintergrund treten. Das bedeutet nicht, dass hierdurch die Vielfalt eingeschränkt wird. Vielleicht hilft ja die Vielfalt auch, den gemeinsamen Kern besser zu entdecken.

Jaspers: Junge Leute, die Theologie studieren, sind oft auch sehr gläubig, suchen nach Gewissheiten und scheuen den mühsamen Wege der kritischen Selbstreflexion. Wie erleben Sie das bei den Frankfurter Studierenden?

Agai: Sicherlich treibt viele Studierende von religionsbezogenen Studiengängen die Suche nach Gewissheit; das ist erst einmal legitim und ein Erkenntnisinteresse. Ein Studium kann auch eine Gewissheit geben – nämlich die, dass die Dinge deutlich vielschichtiger sind, als man vorher dachte. Gleichzeitig können die Studierenden dann mit der erlebten Vielfalt innerhalb des Islams besser umgehen, wenn sie diese nicht als Zeichen einer aktuellen Deformation des Islams begreifen, sondern als ein stets vorhandenes Wesensmerkmal der gesamten islamischen Gemeinschaft, wie sie mit dem arabischen Wort »Umma« umschrieben wird.

blog_ff_islam-interview_3Jaspers: Wie gehen Sie mit extrem dogmatischen, auch mit fundamentalistischen Ansichten von Studierenden um?

[dt_quote type=“pullquote“ layout=“right“ font_size=“big“ animation=“fancy“ size=“2″]»Unser Fach ist kein Ort, wo einseitige Ideologen ihre Heimat finden.«[/dt_quote]

Agai: Die Universität ist ein offener Ort, der von der Idee des freien Austauschs lebt. Das macht sie zu einem Ort, wo Studierende auch legitimerweise widerstreitende Meinungen äußern können, wo aber auch die argumentative Auseinandersetzung groß geschrieben wird. Während Menschen mit sehr geschlossenen Weltbildern ihre extremen Positionen oft gern präsentieren, vermeiden sie es eher, sich der offenen wissenschaftlichen Debatte zu stellen. Extreme Positionen mal argumentativ auszuprobieren, ist ja grundsätzlich in Ordnung und gehört zum Erwachsenwerden. Wenn ich mir allerdings Sorgen mache, dass Studierende in bestimmten Lebenssituationen und Phasen der Selbstfindung in seltsame Richtungen driften, suche ich das Gespräch, wie jeder gute Pädagoge. Aber durch die stetige Diskussion und Konfrontation mit der Vielfalt ist unser Fach kein Ort, wo einseitige Ideologen ihre Heimat finden. Wir beobachten sehr viel häufiger, dass viele Muslime, denen islamische Gruppen den Islam als unveränderbaren monolithischen Block nahegebracht haben, im Studium Facetten in ihrer Religion entdecken, mit denen sie sich selbst identifizieren können und von denen sie vorher noch nichts wussten. Außerdem versuchen wir, über ein »Online Assessment« (http://www.osa.uni-frankfurt.de/55667559/Islam) im Vorfeld zu kommunizieren, was die Studierenden bei uns erwartet; auch das spricht sich unter den Studieninteressierten herum.

Jaspers: Wenn man Ihren Terminkalender betrachtet, vollführen Sie einen echten Spagat. Einerseits sind Sie stark in der Lehre engagiert und zudem gibt es einen erhöhten Druck, die Forschung in diesem jungen Fach voranzubringen und auch Drittmittel einzuwerben. Andererseits vergeht kaum ein Tag, wo Sie nicht in den Medien auftauchen, als Experte auf Podien gefragt sind oder in Kommissionen mitwirken. Wie schaffen Sie das alles? Wie unterstützt Sie das Team am Institut?

Agai: Wir sind ein Institut mit circa 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die allesamt mit viel Herzblut für das neue Fach arbeiten und Freizeit und Urlaub oft hinten anstellen. Insofern sind wir ein gutes Team, das leider bis auf weniger als eine Handvoll Stellen aus Drittmitteln finanziert ist und viele daher nur befristet angestellt sind. Die von Ihnen genannten Erwartungen der Gesellschaft und der Universität an das Fach sind allesamt wichtig und legitim, allerdings müssen wir dafür Rechnung tragen, dass das Fach und diejenigen, die es gestalten, nicht überfrachtet bzw. überlastet werden. Vor allem wissenschaftliches Arbeiten braucht die Ressource Zeit; denn sonst liefert die Forschung mangelhaft fundiertes Wissen, auf dem keine Praxis und Lehre aufgebaut werden kann.

Jaspers: Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Agai: Ich komme nochmal auf das Thema »Islam im sozialen Feld« zurück, das uns sehr beschäftigt, weil wir es auch in unserem Bachelor-Studiengang integrieren wollen. Wir müssen dazu tragfähige Konzepte aus den islamischen Wissensbeständen generieren; erst auf dieser Grundlage können wir die Lehre für die Praxis entwickeln. Für diese wissenschaftlichen Vorarbeiten sind wir auf weitere wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewiesen.

[dt_quote type=“pullquote“ layout=“left“ font_size=“big“ animation=“fancy“ size=“2″]»YouTuber machen den Islam zum Thema.«[/dt_quote]

Jaspers: Bekim Agai gibt’s auch auf YouTube – Sie und Ihre Kollegen Ömer Özsoy, Armina Omerika und Tim Sievers machen mit bei einem Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung »Begriffswelten Islam« (Mehr über das Projekt und die Youtube-Playlist unter www.bpb.de/begriffswelten-islam)

Agai: Das Internet, vor allem YouTube, ist für viele Jugendliche die erste Anlaufstelle, auch wenn es um Wissensfragen geht. In Bezug auf den Islam gibt es dort für Muslime wie Nichtmuslime sehr einseitige Angebote, die sich oft um die Pole Islamfeindlichkeit und Fundamentalismus sammeln. Unser Ziel ist es, Wissen so einzuspeisen, dass Fragen beantwortet werden, die Muslime und Nichtmuslime gleichermaßen haben. Offensichtlich erreichen wir die Zielgruppen. So wurde ich mehrfach von Studierenden angesprochen, die von jüngeren Verwandten auf die YouTube-Videos aufmerksam gemacht wurden, weil sie beim Internetsurfen auf diesen Seiten hängengeblieben waren. In den Diskussionszeilen zu den Videos finden rege Debatten statt; interessant sind auch die Kommentare derjenigen, denen bisher eine differenzierte Sicht auf verschiedene islamische Themen im Internet gefehlt hat.

[dt_quote type=“pullquote“ layout=“right“ font_size=“big“ animation=“fancy“ size=“2″]»Der Koran, der Islam und das Patriarchat: Auf der Suche nach aktuellen Antworten«[/dt_quote]

Jaspers: Der Koran wird immer schon vorwiegend von Männern ausgelegt und nicht selten zur Festigung ihres Patriarchats genutzt. Da passt beispielsweise Sure 4, Vers 34: »Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie ausgezeichnet hat.« Werden solche Suren heute kritisch hinterfragt?

Agai: Ist die Augenzeugenschaft einer Frau weniger wert als die eines Mannes, wie sieht es mit dem Erbrecht aus? Darf eine Frau alleine reisen? Gibt es gar ein Züchtigungsrecht des Ehemannes? Dies und andere Fragen im Kontext Frau und Islam sind Fragen, die sich aus der Lektüre klassischer Texte ergeben. Sie werden oft in »islamischen Ländern«, aber teilweise im eigenen Umfeld in Deutschland, vielleicht im Bekanntenkreis, vielleicht in der ein oder anderen Form in der Familie zur Benachteiligung der Frau herangezogen. Islamkritiker oder aber Fundamentalisten stilisieren sie zum Kern des Islam und zitieren Positionen von Autoritäten aus früheren Zeiten. Viele dieser historischen und teilweise aktuellen Antworten stehen im Widerspruch zum eigenen Selbstverständnis als muslimische Frau. An dieser Stelle wird theologisches Denken unmittelbar erfahrbar. Denn die Frage ist, wie es zu bestimmten Positionen kam und was diese für die eigene Lebenswelt bedeuten. Hier gilt es für Muslime, die ihre Religion ernst nehmen, aktuelle, auch individuelle Antworten zu finden.

blog_ff_islam-interview_5Jaspers: Gibt es Interesse unter den Studentinnen, Gender-Themen aufzugreifen?

Agai: Diese Themen interessieren Studentinnen und Studenten gleichermaßen. Hier werden rege Debatten geführt, und da eine Mehrzahl der Studierenden weiblich ist, ist das Interesse an einer solchen Diskussion groß. Dazu gibt es Angebote in Forschung und Lehre. Genau hier wird der theologische Gehalt fassbar. Natürlich fragt auch die Islamwissenschaft nach dem Kontext, der Übersetzung und der Rezeption einer solchen Passage; aber für Muslime stellt sich die Frage, was da steht, was es meinte und für sie heute bedeutet. Das verleiht historischen Positionen und gegenwärtigen Interpretationen eine Relevanz, die weit über das Deskriptive hinausgeht.

Jaspers: Ihr Kollege, der Frankfurter Religionspädagoge Harry Harun Behr, hat in einem Beitrag in der »Süddeutschen Zeitung« im Januar davon gesprochen, dass eine anthropologische Wende in der islamischen Theologie eingeleitet worden ist: »weniger Traditionalismus, mehr Blick für die Situationen, in denen Menschen leben, weniger Hörigkeit gegenüber dem Kollektiv, Stärkung des Individuums, weg vom Islam als partikularem System und hin zum Islam als Ressource, die das Leben bereichert«. Ähnliches lässt sich auch in den christlichen Religionen beobachten. Wo bleibt da das Spezifische des Islam?

[dt_quote type=“pullquote“ layout=“left“ font_size=“big“ animation=“fancy“ size=“2″]»Das Spezifische der Religion soll nicht in Nischen zur Folklore verkümmern, sondern für das Alltagsleben der Muslime im gesellschaftlichen Jetzt deutlich werden.«[/dt_quote]

Agai: Das ist durchgängig vorhanden. Es geht genau darum: Das Spezifische der Religion soll nicht in Nischen zur Folklore verkümmern, sondern für das Alltagsleben der Muslime im gesellschaftlichen Jetzt deutlich werden. Gleichzeitig stellt Religion eine Lernerfahrung dar, auf die Menschen in neuen Situationen bauen können, die sich aber auch immer wieder neu erproben muss.

Jaspers: Diese Antwort könnte auch Ihr christlicher Kollege aus der praktischen Theologie geben. Wo ist denn der kleine Unterschied auszumachen?

Agai: Das Spezifische ist die Religion selbst. Was stellt diese als Ressource zur Verfügung: Die Pflicht zur Abgabe von Almosen, die Fastenzeit, das Gebet, spirituelle Vorstellungen et cetera; all dies ist ja spezifisch islamisch. Gleichzeitig ist die Frage danach, was Religion in der alltäglichen Handlungswelt bedeutet, natürlich nicht auf den Islam beschränkt. Den Islam als Religion ernst zu nehmen, stellt sich für die Religionspädagogik ganz konkret. Wie vermittelt man den Schülern Religion als eine Ressource, die aus einer Tradition Möglichkeiten der Gestaltung des Jetzt liefert? Insofern sind das religiös Partikulare und das Allgemeine kein Widerspruch, sondern bedingen sich. Hierfür muss nach der islamischen Handlungsethik gefragt werden. Im sozialen Feld geht es auch darum, mit der Tatsache umzugehen, dass Menschen eben Defizite haben, aber auch ihre spirituellen Bedürfnisse und mit Religion auch einen Speicher, aus dem sie in schwierigen Situationen schöpfen können.

Jaspers: Zum Abschluss noch ein zwei Fragen zu Ihrer Person: Sie sind schon mit 39 Jahren Professor geworden, wie haben Sie es geschafft, so schnell eine wissenschaftliche Karriere hinzulegen?

Agai: Ich habe halt immer mein Möglichstes zur Qualifikation getan. Für mich standen schon ziemlich früh in meinem Studium die Themen der Islamwissenschaften im Fokus, die die Bedeutung der Geschichte für die Muslime heute reflektieren. Als dann die islamisch-theologischen Studien in Deutschland eingeführt wurden, hatte ich schlichtweg das Glück, für einen Teil dieser großen Herausforderung hinreichend qualifiziert zu sein.

Jaspers: Geboren in Essen, aufgewachsen im Ruhrgebiet, Mutter aus der Uckermark, Vater aus Mazedonien – welche Impulse waren es, die Sie zu Ihrem Studium der Islamwissenschaft, Geschichte und Psychologie bewegt haben?

[dt_quote type=“pullquote“ layout=“right“ font_size=“big“ animation=“fancy“ size=“2″]»Vielleicht wollte ich auch wissen, wer ich im Strom der Zeit und der Ereignisse bin.«[/dt_quote]

Agai: Die frühen 1990er Jahre waren von Entwicklungen geprägt, die mich nachhaltig beschäftigten: von Auseinandersetzungen im Nahen Osten wie dem Zweiten Golfkrieg von 1990 bis 1991, der Ermordung und Vertreibung von Muslimen auf dem Balkan und Hunderttausenden Geflüchteten in Europa, Rechtsextremismus, Integrationsdebatten in Deutschland – um nur die wichtigsten Punkte zu nennen. Ich wollte Antworten auf meine Fragen haben: Warum gibt es Konflikte im Nahen Osten, was hat Religion damit zu tun und was nicht, warum tut man sich in Europa mit dem Islam so schwer, dass man sehend einen Völkermord in Bosnien geschehen ließ, warum gibt es unter muslimischen Fundamentalisten die Sehnsucht nach einer verklärten Zeit? Vielleicht wollte ich auch wissen, wer ich im Strom der Zeit und der Ereignisse bin. Außerdem wollte ich auch einen Grund haben, neue Sprachen zu lernen, weite Reisen zu machen und neue Menschen kennenzulernen. Dann habe ich in Bonn mit dem Studium angefangen. Wohin das führen würde, das war natürlich damals nicht am Horizont zu erkennen.

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