Fragen an den Wissenschaftssoziologen Prof. David Kaldewey
UniReport: Herr Kaldewey, in Europa zeigen sich viele im Hochschulkontext und jenseits davon besorgt darüber, dass »amerikanische Verhältnisse « auch bei uns Einzug halten könnten. Inwiefern sind die identitätspolitischen Diskurse und die Political Correctness denn ein amerikanisches Spezifikum, und wie lässt es sich erklären?
Prof. Kaldewey Die Debatte um Political Correctness in den USA geht auf die späten 1980er Jahre zurück. Von Anfang an war der Begriff ein negativ besetzter und polemischer Kampfbegriff, mit dem insbesondere konservative Professoren bestimmte linksliberale Diskursideale kritisierten. Im Verlauf von drei Jahrzehnten hat sich die Situation dann immer wieder zugespitzt, die Semantik hat sich verschoben, es kamen neue Kampfbegriffe hinzu. In sehr systematischer Form werden so die Anliegen bestimmter Studierendengruppen und Aktivisten als identitätspolitische Entgleisung gerahmt; etwa durch die Rede von „Snowflakes“, „College Crybullies“ oder den Hinweis auf eine „infantilisierte“ Studierendengeneration. Unzählige konkrete Ereignisse wurden in solche Schemata gepresst und medial ausgeschlachtet; es ist aus soziologischer Perspektive deshalb gar nicht leicht, einen Einblick in die tatsächlichen Anliegen und Diskurslinien zu erhalten. Die Situation an deutschen Hochschulen ist damit kaum zu vergleichen; aber in den letzten Jahren gab es vereinzelte Ereignisse etwa in Berlin, Frankfurt und Hamburg, die sehr gut in das aus der amerikanischen Berichterstattung bekannte Schema gepasst haben. Aber die Verhältnisse sind ganz andere hier; und die vorschnelle Annahme, dass es um das gleiche Phänomen geht, verhindert letztlich eine Auseinandersetzung damit, was hier wirklich geschieht. Man analysiert gar nicht, sondern setzt einfach ein in den USA gut etabliertes Berichterstattungsschema voraus. Man könnte insofern auch, wie Johannes Franzen kürzlich vorgeschlagen hat, von einem „Debatten-Import“ sprechen.
Wo sind Ihrer Meinung nach die blinden Flecken derjenigen, die die Gefährdung der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit ins Feld führen, welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang ein Begriff wie Diversität?
Die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit sind breit geteilte Werte und es gibt in Deutschland – anders als in einigen anderen nationalen Kontexten – kaum ernsthafte Argumente dafür, dass diese Freiheiten in Gefahr sind. Ich vermute, dass bei vielen derjenigen, die sich gegenwärtig über die Bedrohung der Meinungsfreiheit äußern, kein hinreichendes Bewusstsein dafür vorhanden ist, dass sie damit – implizit und keineswegs absichtlich – einen Topos der neuen Rechten übernehmen. Das Schwierige an der Situation ist ja, dass niemand ernsthaft gegen Meinungsund Wissenschaftsfreiheit ist, dass die Betonung, diese sei in Gefahr, gegenwärtig aber in einen Sinnhorizont eingebettet ist, den man beunruhigend finden kann. Wichtig ist vor diesem Hintergrund, nicht mit polarisierten Unterscheidungen zu arbeiten, also etwa jede kritische Auseinandersetzung mit Fragen der Meinungsfreiheit gleich als Indiz für Unfreiheit oder Zensur zu markieren. Die Aussage der Bundesministerin angesichts der Proteste im Fall Lucke sind ein gutes Beispiel dafür: Der Vorwurf, an den Universitäten herrsche eine Meinungszensur, ist nicht nur nicht hilfreich, er ist hoch problematisch, weil er die Möglichkeit gar nicht mehr zulässt, mit den Protestierenden in einen Dialog darüber zu treten, wie Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit gestaltet werden können. Den protestierenden Studierenden und Aktivisten geht es in vielen Fällen nämlich genau darum, die Universität als einen Ort zu erhalten, an dem vielfältige und kritische Stimmen, insbesondere auch Stimmen von diskriminierten oder wenig sichtbaren Gruppen Eingang finden in wissenschaftliche Debatten. Der Diversitätsbegriff kann hier hilfreich sein: Es geht um die Diversität von Meinungen und darum, wie man diese schützt und fördert. Und das tut man sicherlich nicht, wenn man aus Lust an der Provokation politische Akteure aus dem neurechten Spektrum einlädt. Erstens sind deren Stimmen nämlich keineswegs ungehört, im Gegenteil, wir hören sie täglich in den meisten Medien, und zweitens sind diese Akteure selbst ja nicht an einer Diversität von Stimmen interessiert.
In Ihrem einleitenden Vortrag an der Goethe-Universität sprachen Sie unter anderem davon, dass Begriffe wie »trigger warning«, »safe spaces« oder »micro aggressions« zu wenig reflektiert würden, der theoretische Background diffus bleibe.
Mir geht es darum, das Bewusstsein für die Geschichte und den wissenschaftlichen Hintergrund solcher Begriffe zu schärfen. Also beispielsweise zu untersuchen, in welchen gesellschaftlichen und wissenschaftlich-disziplinären Kontexten solche Leitbegriffe zuerst auftauchen, warum sie in andere Kontexte diffundieren, was ihre Funktion ist und welches semantische Gepäck sie enthalten. Es geht dabei letztlich nicht um einzelne Begriffe, sondern um so etwas wie ein Vokabular des neueren studentischen Protests. Eine Analyse dieses Vokabulars ist einerseits hilfreich, um zu verstehen, was für eine Art Bewegung da entsteht (oder auch nicht), sie kann aber auch für die Bewegung selbst hilfreich sein, um die eigene Begriffspolitik bewusster einzusetzen. Denn wenn sie das nicht tut, wird sie schnell Opfer einer sehr erfolgreichen Begriffspolitik ihrer Gegner – die, wie ja eben schon erläutert, etwa das Gespenst einer gefährdeten Meinungsfreiheit an die Wand malen und enorm erfolgreich damit sind, negative Fremdbeschreibungen à la „political correctness“ in der Alltagssprache zu verankern.
Wie müsste der Diskurs an den Unis beschaffen sein, um wieder ins Gespräch über geeignete Kommunikations- und Streitformen zu kommen? Und was haben Sie aus der Diskussion in Frankfurt mitgenommen?
Die Veranstaltung hat meines Erachtens gezeigt, dass in vielen Punkten zwar keine unmittelbare Einigkeit, wohl aber ein gemeinsames Interesse an einer Verständigung gegeben war. Das Positive an den gegenwärtigen Debatten ist ja, dass sie uns einladen, über Gestaltung der Universität als eines Kommunikations-, Lebens- und Arbeitsortes für vielfältige Gruppen und Akteure zu diskutieren. Es ist ja offensichtlich, dass Studierende wie Lehrende das Interesse an der Universität als einem wichtigen gesellschaftlichen Kommunikationsraum teilen, ebenso wie die Meinung, dass der Universität eine besondere gesellschaftliche Funktion zukommt. Daran gilt es anzuschließen und die Debatte weiterzuführen – und zwar auch mit wissenschaftlichen Mitteln. Anders formuliert: Wir sollten hier forschen, insbesondere mithilfe soziologischer und kulturwissenschaftlicher Theorien und Methoden, wir sollten reflektieren, ob und in welcher Weise die neuen Formen des Protests epistemologische Implikationen haben, also die Frage betreffen, wie überhaupt Wissen und Wissenschaft möglich sind.
Die Fragen stellte Dirk Frank
David Kaldewey ist Professor für »Wissenschaftsforschung und Politik« und Direktor der Abteilung Wissenschaftsforschung an der Universität Bonn. Von ihm ist zum Thema erschienen: Kaldewey, David (2017): Der Campus als »Safe Space«. Zum theoretischen Unterbau einer neuen Bewegung. Mittelweg 36, Heft 4/5, S. 132-153.
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 6.19 des UniReport erschienen.