Interview / Über den Austausch mit dem Wissenschaftsbetrieb in Zeiten von Social Media

Liebe Frau Schmidt, als Journalistin und Korrespondentin haben Sie in Ihrer Arbeit auch viel mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu tun. Sind Sie mit dem Austausch grundsätzlich zufrieden, sehen Sie Veränderungsbedarf?

Helga Schmidt: Der Austausch mit den Wissenschaftlern ist für meine Arbeit eine fantastische Bereicherung. Die journalistische Berichterstattung über tagesaktuelle Themen hat in den letzten Jahren so sehr an Tempo gewonnen, dass für Vertiefung im Arbeitsalltag nicht immer genügend Zeit bleibt. Gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik, ebenso in der Europapolitik jagt ein Thema das nächste, rückt ein Konflikt nach dem anderen in den Fokus. Dass die Mercator Stiftung uns ermöglicht, in intensiven Gesprächen mit Wissenschaftlern unser Wissen zu erweitern, hinter den Schlagzeilen Strukturen der Entscheidungsprozesse auszumachen und alte Einsichten infrage zu stellen, empfinde ich als ein wirkliches Geschenk. In der letzten Präsenzphase hatte ich einen Schwerpunkt zum Thema Klimawandel. Der Austausch mit Michèle Knodt und Markus Lederer über die energiepolitischen Herausforderungen hat mir mehrere Ansätze für unsere Berichterstattung im ARD-Studio Brüssel geliefert, die wir umsetzen werden. Stichworte sind der European Green Deal, die nötige Energiewende auf EU-Ebene, welche Entscheider sich in die Startpositionen begeben, um an die Fördermittel zu kommen, weshalb die südliche Halbkugel einbezogen werden muss und und und… Im Brüsseler Politikbetrieb lassen sich Entscheidungsabläufe sehr gut recherchieren, vor allem, weil Lobbying viel transparenter abläuft als in Deutschland – die Gespräche an der TH Darmstadt haben mir viele Anregungen und Hintergrundinformationen für die Recherchen geliefert. Ganz anderes Thema, ähnliche Erfahrungen dann in dem Gespräch mit Nicole Deitelhoff über sicherheitspolitische Fragen. Wirklich interessant, von ihren Erfahrungen aus der Politikberatung zu hören!

In Zeiten von »Fake News« und »alternativen Fakten« gerät die Wissenschaft, aber auch die journalistische Wissensvermittlung unter Legitimationsdruck – spüren Sie das auch in Ihrer eigenen Arbeit? Und wie reagieren Sie darauf?

Wie die Qualitätszeitungen haben wir auch in der ARD viele Ressourcen in das Auffinden von falschen Nachrichten und Lügen investiert. In den einzelnen Landesrundfunkanstalten, aber auch zentral bei tagesschau.de. Dort heißt die Einheit „Faktenfinder“. An dem Namen merkt man schon, hier geht es nicht so sehr darum, die zweihundertste Lüge von Donald Trump oder von Russia Today zu entlarven, sondern da sind Journalisten, die zu besonders kontroversen Fragen, zu Verschwörungstheorien und angeblichen Trends die Fakten zusammenstellen. Der Legitimationsdruck ist in der Tat gewachsen. Der Erfindung der alternativen Fakten durch die Trump-Administration hat die Entwicklung auf die Spitze getrieben: Eine offensichtliche Lüge wird als eine von mehreren alternativen Sichtweisen auf die Wirklichkeit verkauft. Die Verbreitung und damit der Erfolg solcher falschen Meldungen hängt allerdings immer auch von der Glaubwürdigkeit der Quelle ab. Die öffentlich-rechtlichen Medien erreichen nach wie vor sehr hohe Werte, wenn es um die Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit der Berichterstattung geht, bei rund drei Vierteln der Bevölkerung. Aber in Zukunft wird die Herausforderung darin liegen, dass auch das jüngere Publikum die Quellen von Nachrichten identifizieren und bewerten kann. „Habe ich bei Youtube gesehen“ oder „kam über WhatsApp“ sind Sätze, die man immer wieder hört – die Plattform wird mit dem Medium gleichgesetzt. Auf den Plattformen konkurrieren die unterschiedlichsten „Wahrheiten“ – von Fake News bis zur nüchternen Nachricht, das sieht dann tatsächlich für manche User nach alternativen Fakten aus. Ich denke, hier kommt der Quellenkritik im Schulunterricht eine ganz entscheidende Bedeutung zu!

Social Media und Blogs bieten heute Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Möglichkeit, sich direkt an die Öffentlichkeit zu wenden. Wie schätzen Sie das Potenzial dieses Kommunikationskanals ein?

Für viele Journalisten ist Twitter zu einer der wichtigsten Informationsquellen geworden. Immer mehr Entscheider aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft verbreiten hier, was sie verbreitet sehen wollen. Und Journalisten liefern sich bei Twitter einen Wettbewerb, wer als erster die Info hat. Aber Twitter liefert darüber hinaus auch unzählige Lektürehinweise – auf internationale Artikel aus Zeitungen und wissenschaftlichen Periodika. Ich finde in meiner Timeline jeden Tag interessante Beiträge zu meinen Fachgebieten, die ich früher – vor Twitter – niemals alle hätte wahrnehmen können. Da liegt eine Chance für Wissenschaftler! Autoren suchen Expertise für ihre Beiträge, Redaktionen suchen Gesprächspartner für die Informationssendungen – Twitter ist die Informationsbörse.

»Miteinander reden oder aneinander vorbei? Chancen und Herausforderungen aus der Praxis der Wissenschaftskommunikation« war eine Veranstaltung überschrieben, die Ende Januar an der Goethe-Universität stattfand. Führungskräfte aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft diskutierten gemeinsam mit Professorinnen, Professoren und Early Career Researchers die Handlungslogiken der jeweils anderen Seite und die jeweiligen Erwartungen an Wissenschaftskommunikation. Veranstalter waren das Mercator Science Policy Fellowship Programm und die Goethe Research Academy for Early Career Researchers (GRADE) in Kooperation mit dem Forschungsverbund Normative Orders. Der UniReport konnte nach der Veranstaltung mit Helga Schmidt, seit 2019 Korrespondentin im ARD-Hörfunkstudio Brüssel, sprechen. Schmidt ist Fellow im Mercator Science Policy Fellowship Programm.

Auf der Veranstaltung »Miteinander reden oder aneinander vorbei?« gab es bei den beteiligten Wissenschaftlern unterschiedliche Positionen bezüglich der Frage, ob man sich in Debatten einmischen und damit auch politisch agieren sollte. Wie sehen Sie das, was wünschen Sie sich von der Wissenschaft?

Die großen politischen Herausforderungen unserer Zeit sind so komplex, dass die Gesellschaft auf die Einmischung der Wissenschaftler angewiesen ist. Die Klimakrise an erster Stelle! Anders als die großen politischen Herausforderungen früherer Jahrzehnte – die Ostpolitik, die deutsche Vereinigung oder die Hartz-IV-Reformen – geht es bei der Erderwärmung um ein existenzielles Problem und nicht um eine politische Frage, die man je nach politischem Standpunkt unterschiedlich beantworten kann. Das deutlich gemacht zu haben, ist auch das Verdienst von Wissenschaftlern, die sich eingemischt haben: den Scientists for future. In der Corona-Krise hat die Bedeutung der Wissenschaft noch einmal zugenommen. Er habe in seiner politischen Laufbahn niemals zuvor eine „so direkte Lenkungswirkung von wissenschaftlicher Expertise auf politische Entscheidungen erlebt wie jetzt“, sagte der Arzt und Bundestagsabgeordnete Karl Lauterbach kürzlich. In der Krise sind Wissenschaftler fast schon zu Mit-Entscheidern geworden, ausgestattet mit dem Vertrauen der Orientierung suchenden Bevölkerung. Allerdings zeigt ein Blick über den Kanal, dass auch Boris Johnson sich bei seiner Entscheidung zugunsten der „Herdenimmunität“ von durchaus renommierten Wissenschaftlern beraten ließ. Die gleiche Versuchsanordnung, völlig unterschiedliche wissenschaftliche Lösungsmodelle – das zeigt, dass die Verantwortung für die Entscheidung am Ende doch von Politikern übernommen werden muss. Es gibt eine Reihe wichtiger politischer Themenfelder, in denen ich mir noch mehr Einmischung von Wissenschaftlern vorstellen könnte. Dazu gehören die Folgen der Globalisierung, die Erzeugung von Lebensmitteln, aber auch die Folgen der Digitalisierung – um nur einige Beispiele zu nennen.

Was nehmen Sie persönlich vom Mercator Science Policy Fellowship Programm mit?

Den Eindruck, dass Wissenschaftler sich heute viel intensiver mit aktuellen Fragen beschäftigen und sie aus ihrer fachlichen Sicht betrachten, als das in früheren Zeiten der Fall war. Das ist ein bemerkenswerter Fortschritt der letzten 20 Jahre! Neben der Chance, sich mit Wissenschaftlern austauschen zu können, sind für mich aber auch die Kontakte zu den anderen Fellows sehr wertvoll. Mitarbeiter aus dem Mittelbau der Berliner Ministerien und der Brüsseler EU-Kommission kennenzulernen, ihre Sichtweise auf die politischen Themen unserer Zeit nachzuvollziehen, zwischen unterschiedlichsten Interessen – das ist voller Anregungen und liefert immer wieder Anlass, die eigenen Positionen zu überprüfen und manchmal auch über Bord zu werfen. Wirklich bemerkenswert finde ich auch den Ansatz der Mercator Stiftung, Wissenschaftler mit politischen Entscheidern und Journalisten zusammenzubringen. Das ist ein gesellschaftliches Verdienst! Wenn ich es richtig sehe, geschieht das ohne inhaltliche Vorgaben – auch das ist wirklich bemerkenswert in einer Zeit, in der viele andere Stiftungen versuchen, selbst Politik zu machen. Für diese Enthaltsamkeit möchte ich der Mercator Stiftung danken!

Die Fragen stellte Dirk Frank

Mehr zum Thema findet man in der Publikation Mehr als Politikberatung und Medienpräsenz. Reflexionen über die Bedeutung dialogorientierter Wissenschaftskommunikation für Universitäten und Praxis; die vom Mercator Science Policy Fellowship Programm herausgegebene Publikation bietet einen Überblick zu den unterschiedlichen Formen und Herausforderungen des Wissenstransfers zwischen Universitäten, Ministerien, Behörden, NGOs und Medien. (PDF)

Best Practice: In dem Impulspapier »Agilität im Innovationssystem – der Staat als Akteur« des High Tech Forums wird das Mercator Science Policy Programm in der Kategorie »Agile Kultur und Beidhändigkeit in der Verwaltung« als Anwendungsbeispiel lobend erwähnt. www.hightech-forum.de/publication/agilitaet

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 2.20 des UniReport erschienen.

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