Mit Beginn der Kampagne für mehr ökonomische Bildung – symbolisiert durch das 1999 veröffentlichte Memorandum des Deutschen Aktieninstituts – hat die Bildungspolitik einer historisch einzigartigen Stärkung ökonomischer Themen und Inhalte in Lehrplänen und Stundentafeln den Weg bereitet.
In vielen Bundesländern fanden Umbenennungen der Unterrichtsfächer statt, so z. B. in Hessen von „Politik“ hin zu „Politik und Wirtschaft“. Dessen ungeachtet fordern zahlreiche Wirtschaftsverbände sowie Industrie- und Handelskammern ein eigenständiges Unterrichtsfach „Wirtschaft“.
Bis zu 480 Stunden Wirtschaftsunterricht sollen in der Sekundarstufe I erteilt werden, so dass auf ökonomische Inhalte ein Drittel mehr Stunden entfiele als auf die Fächer Geschichte, Erdkunde und Politik zusammen.
Dabei lässt sich die „ökonomistische Wende“ in der ökonomischen Bildung weder fachdidaktisch noch fachwissenschaftlich, schulorganisatorisch oder lernpsychologisch überzeugend begründen.
Die von den Befürworter(inne)n eines Separatfachs „Wirtschaft“ vorgetragene Formel „eine Disziplin = eine Perspektive = ein Schulfach“ verkennt zunächst das für die Organisation von Schule virulente Ressourcenproblem.
Angesichts eines durch Stundenzahlen begrenzten Fächerkanons kann ein neues Fach schließlich nur eingeführt werden, wenn andere Fächer gestrichen oder jedenfalls in der Stundentafel gekürzt werden. Ist das wirklich wünschenswert? Die Forderung nach einem Separatfach „Wirtschaft“ verkennt zugleich, dass ökonomische Fragen seit jeher integraler Bestandteil der politischen bzw. sozialwissenschaftlichen Bildung sind.
Mit Blick auf den Wettstreit der Unterrichtsfächer muss zugleich die Frage beantwortet werden, ob ökonomische Kenntnisse tatsächlich bedeutsamer sind als mathematische, physikalische und grammatikalische Gesetzmäßigkeiten oder historische, geographische und politische Zusammenhänge.
Bräuchten wir angesichts des Fachkräftemangels im Land der Ingenieure nicht eher ein Unterrichtsfach „Technik“? Wie ist es im Informationszeitalter um ein Fach „Medienkunde“ bestellt? Und wie steht es um die stärkere Profilierung des Unterrichtsfachs „Politik“, wo wir doch seit Beginn der 1980 er Jahre eine massiv rückläufige Wahlbeteiligung diagnostizieren, die noch dazu eine dramatische Unterrepräsentation Bildungsbenachteiligter aufweist?
Multi- statt Monodisziplinarität
Während die Befürworter eines Separatfachs „Wirtschaft“ befürchten, durch die Integration der sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen Politik, Soziologie und Ökonomie könnten die fachspezifischen Aspekte verlorengehen, basiert die sozialwissenschaftliche Bildung auf der Annahme, dass vernetztes Denken im Sinne der Trans- und Interdisziplinarität unabdingbar ist.
Wir nehmen die gesellschaftliche Wirklichkeit nun einmal nicht entlang von Disziplinen wahr, sondern als soziale Entität, weshalb ein multidisziplinärer Zugang geboten ist. Demgegenüber löst ein Unterrichtsfach „Wirtschaft“ ökonomische Aspekte aus dem sozialwissenschaftlichen Kontext heraus und überlässt die Vernetzung dieser dann rein additiven „Bildungsbausteine“ den damit überforderten Schüler(inne)n.
Wer aber kritisch mit disziplinär spezialisiertem Wissen umgehen lernen soll, muss die unterschiedlichen disziplinären Perspektiven vergleichen, situationsbezogen nutzen und verständlich darstellen können. Darüber hinaus fürchten viele Eltern und Lehrer/innen, dass ein eigenständiges Unterrichtsfach „Wirtschaft“ zum Fach der Wirtschaft werden könnte, in dem die Allgemeinbildung auf dem Altar der Interessen geopfert wird.
Längst geschieht dies im Rahmen von Initiativen wie „business@ school“, „Geldlehrer e. V.“ und „My Finance Coach“, wenn Unternehmensvertreter/ innen den Unterricht gestalten. Inzwischen bieten 16 der 20 umsatzstärksten deutschen Unternehmen kostenlose Unterrichtsmaterialien an. Hinzu kommen ca. 250 Initiativen, die vorgeben, sich um die ökonomische Bildung verdient zu machen, tatsächlich aber nur mit ihr verdienen wollen.
In einem Separatfach „Wirtschaft“ droht die auf die „Totalbewirtschaftung“ des Lebens zielende Kosten-Nutzen-Kalkulation, die alles Tun und Trachten – von der Aufnahme des Studiums bis hin zur Familiengründung – unter den ökonomischen Vorbehalt des „Sich- Rechnen-Müssens“ stellt, zum Fixpunkt ökonomischer sowie zum Referenzrahmen sozialwissenschaftlicher Bildung zu werden.
Nach dem 2010 veröffentlichten Gutachten des Zentralverbands des deutschen Handwerks soll Effizienz den Referenzpunkt ökonomischer Bildung darstellen. Sozialwissenschaftliche Bildung hingegen vermittelt auch solche Positionen, die sich nicht der „Fürsprache des Marktes“ verschreiben, sondern die Grammatik einer Gesellschaft deuten und deren politische Konstitution analysieren, explizieren und kommentieren.
Als notwendig erscheint die Perspektivenerweiterung vor allem dann, wenn mit Sorge betrachtet wird, dass ökonomische Rationalitäten immer mehr Lebensbereiche erfassen, die vormals als originär privat oder politisch gestaltbar galten.
Die Institution des Marktes etwa, der in einer zunehmend „vermarktlichten“ Gesellschaft eine durchgreifende Prägekraft attestiert werden muss, lässt sich in allgemeinbildender Absicht nur dann sachgerecht erschließen, wenn ökonomische, politische, soziologische und historische Erklärungsmuster ineinandergreifen.
An die Stelle der volkswirtschaftlichen Lesart muss die sozialwissenschaftliche treten: Welche historischen Entwicklungslinien kennzeichnen Märkte? Welchen Ordnungsrahmen benötigen Märkte? Warum müssen Märkte als „Arenen sozialen Handelns“ verstanden werden? Die ausschließlich wirtschaftswissenschaftliche Fundierung ökonomischer Bildung birgt die Gefahr von Monoperspektivität.
Amelioration statt Monokulturen
Die curriculare „Inthronisierung“ der ökonomischen Bildung käme der „Entthronung“ der politischen Bildung gleich, sodass letztere eine weitere curriculare Entwertung erführe und dem monodisziplinären wirtschaftswissenschaftlichen Ansatz in diametralem Gegensatz zur pluralistischen sozialwissenschaftlichen Bildung der Weg geebnet würde.
Die Verschärfungen der disziplinären Grenzregime zu Gunsten ökonomischer Bildung sind jedoch weder produktiv noch innovativ. Deshalb sollte man sich auf die inhaltliche und methodische Verbesserung sozialwissenschaftlicher Bildung konzentrieren.
Kurzum: Fachwissenschaftliche, fachdidaktische und pädagogische Vernunft verbieten Monokulturen und gebieten Amelioration. Denn wenn Schüler/innen die Gesellschaft in einem Unterrichtsfach „Wirtschaft“ ausschließlich mit der ökonomischen Brille betrachten, werden sie nicht ökonomisch gebildet, sondern ökonomistisch verbildet. „Integration statt Separation“ muss daher die Losung lauten.
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Der Autor
Tim Engartner ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Mitglied im Direktorium der Akademie für Bildungsforschung und Lehrerbildung (ABL).
Demnächst erscheint sein Buch „Pluralismus in der sozialwissenschaftlichen Bildung. Zur Relevanz eines politikdidaktischen Prinzips“ im Verlag Duncker & Humblot.
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