Philipp Felschs verdienstvolle Geschichte des Merve Verlags mit einigen blinden Flecken

Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990. Verlag C.H.Beck
Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990. Verlag C.H.Beck

Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben“ lautete der Titel von Gretchen Dutschkes Biographie über Rudi Dutschke. Weniger drastisch formuliert könnte das auch zu einem anderen Beispiel eines höchst unbürgerlichen West-Berliner Lebens passen. Philipp Felschs Buch „Der lange Sommer der Theorie“ hat einen idyllisch klingenden Titel, doch worum es im Kern geht, ist die wenig idyllische Biographie des Verlegers Peter Gente und des Merve Verlags.

Als der Soziologe Heinz Bude Mitte der 1990er Jahre zu Gente ging, um ihn für ein Buch über die 68er Generation zu interviewen, landete er in der dritten Etage einer Fabrik. Dort hatte sich in der hinteren Ecke eines großen Raums mit Schreibtischplatte, Verpackungstisch und in Lagerregalen gestapelten Büchern der Verleger „eine Wohnecke mit Bett, Kühlschrank, Fernseher und was man sonst noch zum Leben braucht, eingerichtet“ (Heinz Bude:

Das Altern einer Generation. Die Jahrgänge 1938 – 1948, Frankfurt/ M. 1997, S. 191). Eine ähnliche Atmosphäre umgibt das Archivmaterial, das zum Anstoß für Felschs Buch wurde. Peter Gente (1936 – 2014), der 1970 zusammen mit seiner Frau Merve Lowien und Studienkollegen den Verlag als sozialistisches Kollektiv gegründet hatte und ihn seit Mitte der 1970er Jahre mit seiner neuen Lebensgefährtin Heidi Paris (1950 – 2002) als Zwei-Personen-Unternehmen fortsetzte, überließ ihn 2007 einem Nachfolger.

Um für eine gewisse Zeit seinen Lebensabend in einem Hotel in Thailand finanzieren zu können, verkaufte er mehrere Dutzend Kartons mit Materialien an das Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe. Aus diesem reich- haltigen und vielfältigen Vorlass einer zwischen Leben und Beruf nicht trennenden Verleger-Existenz konnte Felsch ungefiltert als Erster schöpfen. „Wir machen eine andere Art Verlag: klein, billig, unscheinbar, daneben“, schrieb das Verlegerpaar Gente/Paris 1979 an den Pariser Philosophie-Professor Gilles Deleuze bei Erscheinen des von ihm herausgegebenen Bandes „Nietzsche. Ein Lesebuch“.

„Wir sind etwas schüchtern, haben kein Geld und schwache Ellenbogen“, hieß es 1981 in einem Brief an Sylvère Lotringer, Professor für französische und vergleichende Literaturwissenschaften an der Columbia University. „Wir stehen für Fragment und auch für ‚Werkzeugkiste‘“, meinte Gente 1997 in einem Gespräch über Strategien der Selbstorganisation. So klang es, wenn das Verlegerpaar Gente/Paris selbstbewusst bescheiden sein Credo formulierte.

Sozialisation mit der »Minima Moralia«

Es ist das große Verdienst von Felschs Buch, dass diese Haltung als Erfolgsgeheimnis des Verlags und als Substanz der Merve-Kultur deutlich wird. Geschickt komponiert ist den drei Teilen über die Geschichte des Verlags als eine Art Vorspiel vorangestellt, was für die intellektuelle Sozialisation Gentes wichtig war. Das war als Erstes Ende der 1950er Jahre Theodor W. Adornos Aphorismenband „Minima Moralia“. Er wurde für viele Jahre das Vademecum des schüchternen Einzelgängers, für den in diesen „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ vielem Sprache verliehen wurde, was er selbst empfand, und der darin eine Art Lebenskunst entdeckte.

Wichtig wurde sodann Jacob Taubes. Der Professor für Philosophie und Judaistik an der West-Berliner Freien Universität war gleichzeitig zusammen mit Hans Blumenberg, Jürgen Habermas und Dieter Henrich Herausgeber der Reihe „Theorie“, die seit 1966 im Suhrkamp- Verlag erschien. Taubes war durch ein von Gente herausgegebenes Heft der Zeitschrift „Alternative“ über Pariser Essayisten auf den stillen Studenten aufmerksam geworden und machte ihn zu seinem Hilfsassistenten.

Damit geriet Gente in den Bannkreis eines intellektuellen Kosmopoliten, der eine Vorliebe für esoterische und anrüchige Autoren wie Carl Schmitt hatte. Taubes verbreitete ein Klima geistiger Intensität, in dem, so Felsch, „das Schicksal der Menschheit von der Interpretation der entscheidenden Texte abzuhängen schien“. Solche Vorbilder regten Gente zu seiner Form praktischer Teilnahme an der Studentenbewegung an: nämlich durch Texte, die er nicht selbst schrieb, sondern entdeckte und bekannt machte oder zu etwas Neuem zusammenstellte.

Da er für diese Idee keinen Verlag fand, gründete er schließlich selbst einen. Unter dem Reihen-Titel „Internationale Marxistische Diskussion“ sollten zunächst Theorie-Importe aus Italien und Frankreich das marxistische Diskussionsfeld internationalisieren und für neue Ansätze öffnen. Mitte der 1970er Jahre kam es zum Bruch mit dem marxistischen Selbstverständnis. „Wir möchten gerne einige Texte von Dir demnächst herausbringen“, schrieben Gente/Paris 1976 an Jean-François Lyotard.

„Da es sich um Zeitschriftenaufsätze handelt, nutzen wir die Unklarheit und kümmern uns nicht um das Copyright. Wir brauchen natürlich Deine Zustimmung. Zahlen können wir nichts.“ Lyotard zeigte volles Verständnis. 1977 stellte der Verlag auf der Buchmesse eine merveeigene Aufsatzsammlung eines bis dahin kaum bekannten Autors vor, die zum Fanal eines Neuansatzes wurde: Lyotards „Patchwork der Minderheiten“. Im Focus standen nun Minderheiten und „kleine“ Kämpfe.

„Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin“ hieß der Titel des ersten Foucault-Bandes bei Merve. In der Folge wurde „Internationaler Merve Diskurs“ zum neuen Reihentitel und das Format der Bände auf Postkartengröße verkleinert. Durch Heidi Paris‘ Beziehungen zur Kunstszene kam es nach dem Deutschen Herbst des Jahres 1977 zu einer Verlagerung der Orientierung und Orientierungsfunktion des Verlages in Richtung Künste und zugehörigem Westberliner Nachtleben.

„Es gibt verschiedene Szenen, in denen aktiv was gemacht wird“, so Heidi Paris 1997 im bereits erwähnten Gespräch über Strategien der Selbstorganisation, „und die kreuzen sich nicht mehr. Wir haben aber, was die Publikationen betrifft, überall ein Bein drin.“ Unter dem Titel „Dispositive der Nacht“ – eine locker ironische Anspielung auf den einst im Merve Verlag erschienenen Foucault-Band „Dispositive der Macht“ – lässt Felsch sein Buch unauffällig ausklingen.

Kurzweilig, aber nicht frei von Klischees

„Der lange Sommer der Theorie“, vielfach besprochen, wurde ebenso vielfach mit auffallend einheitlich klingendem Lob bedacht: „elegant“, „vergnüglich“, „virtuos“, „brillant“, „kurzweilig“, „verführerisch“. Soviel Vergnügen bei einem eher ernsten Thema lässt sich zum einen durch den Schreibstil erklären. Im Zweifelsfall zieht der Autor das Lockere und Kesse dem Treffenden und Detailgenauen vor. Zum anderen tippt Felsch vieles nur an: Namen, Titel, Begriffe, Daten.

Beides kommt zusammen beim Auftakt zu einigen Zeilen über Adornos Vorlesung über „Negative Dialektik“ im Wintersemester 1964/65. Bevor, so Felsch, „die Philosophie in den Mahlstrom der Praxis und Adorno zwischen nackte Brüste geriet, musste noch einige Zeit vergehen“. Weder ist an Ort und Stelle ein Zusammenhang mit dem Problem des Theorie-Praxis-Verhältnisses erkennbar, noch wird auf den Vorgang später im Buch interpretierend eingegangen.

Ausführlich geht Felsch dagegen auf Leser- und Hörer-Anfragen an Adorno und auf dessen Antworten ein. Das machte er als besonderen Fund bereits in einem Zeitschriftenartikel publik, und das wurde unter dem Komik versprechenden Titel „Das Wunder in der Sprechstunde“ in der „Frankfurter Sonntagszeitung“ noch einmal einem breiteren Publikum bekannt gemacht. Aufschlussreicher wäre da für die „Geschichte einer Revolte“ in der „Ära der Theorie“ gewesen, was sich im Hinblick auf das Theorie-Praxis-Verhältnis im sogenannten Lach-Seminar Adornos abspielte.

Der Experimentator Adorno versuchte, Studentinnen und Studenten dazu zu bringen, sich auf eigene Erfahrungen einzulassen, statt lange über komplizierte Theorien zu referieren. Ein Zusammenspiel von Theorie und Erfahrung zu praktizieren war das Ziel. Wie es aussieht, wenn der Autor entgegen seiner Ankündigung, nicht in die „Bleiwüsten“ der Bücher „einzudringen“, es doch einmal tut, führt er am Beispiel von Adornos „Minima Moralia“ vor.

Ihrer einzigartigen Bedeutung für Gente wegen lassen sie sich nicht umgehen. Adorno habe, so Felsch, „egal, wohin er schaute, nur Unheil“ gesehen, habe in Miniaturen die modernen Verhältnisse als „Verblendungszusammenhang“ entlarvt. Dass die Bewohner der aufgeklärten Hemisphäre „nicht mehr richtig schenken, wohnen oder eine Tür schließen konnten“, seien „längst bekannte Beispiele“. Damit bedient Felsch sich nicht nur eines bequemen Klischees, wonach Adorno eine Kassandra mit teils skurrilen, teils dramatischen Wirkungen war.

Er gerät damit auch in offenen Widerspruch zur existenziellen Relevanz, die die „Minima Moralia“ für Gente hatten und die doch begreiflich gemacht werden sollte. Während der locker schreibende Humanwissenschaftler Adorno unterstellt, er habe durch eine schwierige Sprache Eindruck machen wollen, sah Gente in Adornos Denkstil eine wirkliche Alternative zum universitären Denken der 1950er Jahre und eine lohnende intellektuelle Herausforderung. Für ihn hatten Adornos Texte den Test bestanden, auf den die von Felsch erwähnte Maxime Jacob Taubes‘ hinauslief: „in jedem bedeutenden Werk nach dem Satz zu suchen, um dessentwillen es geschrieben sei“. [Autor: Rolf Wiggershaus]

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Philipp Felsch, geb.1972, ist Juniorprofessor für Geschichte der Humanwissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität.

Philipp Felsch,
Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990,
Verlag C.H.Beck, München 2015,
327 Seiten, gebunden 24,95 €.

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