Trump und die US-Wahl: Soziologe Jason Mast über die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft

Der Soziologe Jason Mast über Trumps Agieren nach der Wahlniederlage und die Herausforderungen für seinen Nachfolger Joe Biden angesichts der tiefen Spaltung der amerikanischen Gesellschaft

UniReport: Lieber Jason Mast, Trumps Präsidentschaft scheint sich dem Ende zuzuneigen – oder erwarten Sie, dass es doch noch ernsthafte Versuche geben wird, die Amtsübergabe zu verhindern?

Jason Mast: Präsident Trump hat schon lange vor der US-Präsidentschaftswahl am 3. November begonnen, diese zu delegitimieren. In der Wahlnacht eskalierte er jedoch seine Rhetorik, indem er erklärte, dass „ein großer Betrug an unserer Nation“ stattfinde. Seitdem hat das Trump-Team durch persönliche Überzeugungsarbeit und Klagen versucht, staatliche Wahlbeamte, Gerichte und Gesetzgeber dazu zu bringen, die Ergebnisse durch Nachzählungen oder gesetzgeberische Eingriffe zu verzögern oder zu ändern. Bislang sind diese Bemühungen gescheitert.

In der Zwischenzeit, während Trump seine Behauptungen zuspitzte, dass die Wahl „gestohlen“ wurde, war sein Wahlkampfteam dabei, ein neues politisches Aktionskomitee (PAC) mit dem Namen „Save America“ einzurichten und Spenden für einen „Election Defense Fund“ zu erbitten. Bis zu diesem Zeitpunkt haben die Unterstützer mehr als 200 Millionen Dollar (165 Millionen Euro) gespendet. Doch Journalisten haben aufgedeckt, dass mehr als siebzig Prozent der gespendeten Gelder nicht für die Bemühungen verwendet wurde, nachzuzählen, sondern Trumps neuem PAC zugutekam. Er wird diese Gelder nutzen können, um seine politischen Aktivitäten nach der Präsidentschaft zu finanzieren.

Das bringt mich zu meinem Hauptpunkt: Es ist hilfreich, sich dies als die Inszenierung eines Dramas vorzustellen. Trumps Bemühungen, das Wahlergebnis zu kippen und gleichzeitig Gelder für seine zukünftigen politischen Aktivitäten zu sammeln, hängen von seiner Fähigkeit ab, die einfachen Amerikaner davon zu überzeugen, dass etwas zutiefst Ungerechtes und Undemokratisches geschehen sei. Das heißt, seine Strategie hängt von seiner Fähigkeit ab, ein Gefühl der Krise zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Ausgehend von diesem „Stop the Steal“-Skript hält Trump die Aufmerksamkeit seiner Anhänger aufrecht, während er sie gleichzeitig anweist, wie sie handeln sollen. Bislang konnte er sie dazu ermutigen, durch Geldspenden aktiv zu werden. Jedoch werden die Optionen, zu klagen und Druck auf die Gesetzgeber der Bundesstaaten auszuüben, in Bälde auslaufen und das aktuelle Stimmenergebnis für offiziell erklärt werden. Da Trump das kollektive Gefühl der Ungerechtigkeit und eine Atmosphäre der Krise aufrechterhalten muss, werden wir in den verbleibenden Wochen beobachten können, wie er seine Anhänger dazu aufruft, auf unzivile, antidemokratische und potenziell gefährliche Weise zu handeln.

Erwarten Sie, dass Trump auch nach dem Ende seiner Präsidentschaft politisch aktiv bleiben wird? Wie könnte das aussehen? Oder wird er auch wegen möglicher Klagen gegen ihn von der Bildfläche verschwinden?

Trump ist beruflich und psychologisch an die Öffentlichkeit gebunden beziehungsweise daran, öffentliche Aufmerksamkeit zu erzielen, zu kultivieren und letztlich zu monetarisieren. Der Verbleib auf der politischen Bühne entspricht sowohl seinen finanziellen Interessen als auch seinen psychologischen Bedürfnissen. Daher gibt es wenig Anreiz für ihn, sich aus dem öffentlichen Rampenlicht zurückzuziehen.

Derzeit scheint es wahrscheinlich, dass Trump beabsichtigt, die Nominierung der Republikanischen Partei und die Präsidentschaft im Jahr 2024 erneut anzustreben. Wenn dies der Fall ist, wird er wahrscheinlich schon im nächsten Herbst mit dem Wahlkampftheater beginnen. Ich zögere jedoch, dies als sicher zu betrachten, da sich die politischen, medialen und sozialen Rahmenbedingungen für ihn erheblich verändern werden, und zwar nicht zu seinen Gunsten. Er wird keine formale politische Macht mehr besitzen oder durch präsidiale Immunität geschützt sein. Er wird sich in die Reihe der anderen Republikaner einreihen, die sich um die Präsidentschaft bewerben, und innerhalb dieses Feldes wird Trump mit weitaus weniger Respekt behandelt werden, als er es bisher gewohnt war. Darüber hinaus werden die Mainstream-Medien, die noch immer unter der Etikettierung als „Feind des Volkes“ leiden, darauf bedacht sein, sein Ansehen zu untergraben, seine Schwachstellen hervorzuheben und letztendlich seine Präsenz zu verringern.

Während Trump sich nach dem Status des Amtes sehnt, hat er kein Interesse daran gezeigt, die alltäglichen Routinen des Regierens zu praktizieren. Er könnte sein Streben nach der Präsidentschaft aufgeben und versuchen, die Rolle des Königsmachers von einem Sitzplatz in den Medien aus zu spielen.

Joe Biden wird sein Amt mit einer schweren Bürde antreten. Kann er die verfeindeten Lager in der Gesellschaft unter einen Hut bringen? Wird es Biden schwerfallen, eine Politik zu machen, mit der er weder die Konservativen im Land noch seine eigenen Parteigenossen vom linken Flügel vergrault?

Kurz gesagt: Nein, Biden wird nicht in der Lage sein, die Spannungen zwischen den politischen Lagern zu versöhnen. Die Spannungen innerhalb der breiten amerikanischen Öffentlichkeit werden zwar wahrscheinlich etwas nachlassen, aber sie werden weiterhin ein zentrales Merkmal der sozialen und politischen Landschaft bleiben. Bidens Schicksal wird davon abhängen, wie seine Regierung mit dem COVID-19 umgeht und wie die GOP (die „Grand Old Party“, wie die Republikaner genannt werden) das Jahr 2021 meistert.

Man darf nicht vergessen, wie die GOP während der Obama-Präsidentschaft intern zersplitterte. Während dieser Zeit mobilisierten die Medienstars der Rechten die Anhänger an der Basis dazu, Reinheitstests durchzuführen und Jagd auf solche Vertreter zu machen, die als RINOs oder „Republican in name only“ qualifiziert wurden. In Kombination mit Gerrymandering führten diese Umstände dazu, dass sich republikanische Politiker mehr darum sorgen mussten, von Emporkömmlingen der extremen Rechten herausgefordert zu werden, als ihre Sitze an Konkurrenten der Demokratischen Partei zu verlieren.

Trump konnte sich im Jahr seiner Nominierung 2016 diese Lage zunutze machen. Nur seinem schockierenden Sieg über Hillary Clinton war es zu verdanken, dass die GOP nicht schon unmittelbar in größere interne Streitigkeiten abglitt. Die über die vier Jahre Regentschaft von Trump überdeckten Risse innerhalb der Rechten werden bald wieder sichtbar werden. Während auf der einen Seite die extreme Rechte der Partei ermutigt sein dürfte, wird das republikanische Establishment oder das, was von seiner alten Garde übriggeblieben ist, auf der anderen Seite entweder darum kämpfen, die Kontrolle über die Mitte der GOP zurückzugewinnen oder eine dritte Partei zu gründen. Als Präsident wird Biden versuchen, diese Dynamik auszunutzen. Doch seine größte Ressource, um Gräben zu überbrücken und erfolgreich zu regieren, könnte (sozusagen) in den Spritzen liegen, mit denen die COVID-19-Impfstoffe verteilt werden. Wenn sie effizient und gerecht verteilt werden und die Ausbreitung von COVID-19 deutlich reduzieren, dann werden sich die Amerikaner wahrscheinlich über die wiedergewonnene Möglichkeit freuen, sich frei zu bewegen und zu versammeln, sowie über das Wirtschaftswachstum, das solche Aktivitäten anregen werden.

Während Trumps Amtszeit wurde nicht nur die freie Presse angegriffen, sondern auch die Wissenschaft. Sehen Sie die Hoffnung, dass Vernunft und Fakten wieder eine Chance haben werden? Oder stellt Trumps Vermächtnis eine nachhaltige Bedrohung dar?

Biden führte einen der symbolisch schlanksten und gedämpftesten Wahlkämpfe der jüngeren Geschichte und kandidierte mit Themen wie „auf die Wissenschaftler hören“ und die Wiederherstellung des Anstands. Die Wahlbeteiligung war hoch, und die Amerikaner wählten Biden mit beträchtlichem Abstand. Dies deutet darauf hin, dass ein erheblicher Teil der amerikanischen Öffentlichkeit für die Privilegierung von Expertenwissen und zugunsten vermittelnder Stimmen innerhalb des öffentlichen Raums stimmte.

Eine gerechte und effiziente Verteilung von wirksamen COVID-19-Impfstoffen dürfte das soziale Prestige und Ansehen von Wissenschaftlern und staatlichen Institutionen noch weiter stärken. Zugleich wird sich die amerikanische Mainstream-Presse in einer sich schnell verändernden und zersplitternden Medienlandschaft vor weitere Herausforderungen gestellt sehen.

Bidens Sieg ist Anlass zur Hoffnung für viele Europäer, die sich eine Rückkehr zum traditionellen atlantischen Bündnis wünschen – zu Recht?

Kurzfristig gesehen, ja. Biden ist in dieser Hinsicht traditioneller als jede andere Figur der Linken. Seine bevorstehenden Ernennungen im Außen- und Verteidigungsministerium deuten darauf hin, dass er die Allianzen wiederherstellen will, die die Nachkriegszeit und die Zeit der Jahrhundertwende geprägt haben. Trumps Anti-Europa-Rhetorik und deren praktischer Einsatz, welche große Teile der amerikanischen Öffentlichkeit verblüfften, zählen seit jeher zu den Lieblingsthemen der amerikanischen extremen Rechten. Gleichwohl resorbierten sie die wachsenden Sorgen vieler Amerikaner über ihre Stellung in der globalen Ordnung.

Während Biden bereit zu sein scheint, ein Projekt zur Wiederherstellung von Allianzen in Angriff zu nehmen, glaube ich nicht, dass diese Ausrichtung lange über seine Präsidentschaft hinaus Bestand haben wird. Die Nato wird mit Sicherheit sowohl im Experten- als auch im öffentlichen Diskurs auf die Probe gestellt werden, wenn nicht sogar im realen Leben. Nationalstaaten und internationale Beziehungen stehen ihrerseits vor verschiedenen Herausforderungen, etwa durch den wachsenden Einfluss der Technologie auf Produktions- und Beschäftigungssektoren, Chinas immer dominanter werdendes Auftreten auf der globalen Bühne, den Klimawandel und die globale Migration. Die Präsidentschaft Bidens sollte eine Zeit sein, in der neue Vorstellungen von einer gerechteren und sichereren globalen Ordnung entwickelt werden.

Fragen: Dirk Frank


Dr. Jason Mast ist Postdoc im Forschungsverbund Normative Orders der Goethe- Universität. Er hat an der University of California (Los Angeles) in Soziologie promoviert. Er forscht zu Kultur und Politik, seine letzte Veröffentlichung ist »A Civil Sphere Theory of Populism: American Forms and Templates, from the Red Scare to Donald Trump,« ein Kapitel im Sammelband »Populism in the Civil Sphere«.
Foto: Andrew Gray


Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 6.20 (PDF) des UniReport erschienen.

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