Wolfgang Schopf über Eva Demskis Roman »Scheintod«

An diesem Ort Eva Demski vorzustellen, erschiene bemüht, weshalb die Gastgeberin des feinsten aller Buchmessefeste, im Schloss zu Bonames, zu diesem Zweck auf die einfache Formel zurückzugreifen pflegt: »Eva Demski: Die Stimme Frankfurts«. Das könnte als Slogan für „Frankfurt liest ein Buch“ reichen, es reicht für Demski jedoch nicht.

Das Lesefest »Frankfurt liest ein Buch« geht noch bis zum 18. Juli. Lesungen, Gespräche,
Filme, Stadtführungen und Ausstellungen drehen sich in diesem Jahr alle um Eva Demskis Roman »Scheintod«. Zum Programm www.frankfurt-liest-ein-buch.de

Die Deutsche Nationalbibliothek katalogisiert ihr Werk auf bislang 181 Positionen. Zudem liegen im Literaturarchiv der Goethe-Universität die Manuskripte von ca. 300 Essays, Reportagen und Kolumnen, nicht zu reden von Reportagen und Filmen, die sie für den Hessischen Rundfunk schrieb oder produzierte.

1977 verließ sie den Sender, um als Freie Autorin zu arbeiten. Der emphatische Begriff, der bei vielen Autoren leider bedeutet, von Almosen leben zu müssen, trifft in diesem Fall zu: Der alimentierte Literaturbetrieb, in dem sich erwachsene Autorinnen von Stipendien ernähren müssen, ist Eva Demski ein Greuel. Sie mag selbst Vorschüsse nicht leiden, weil sie dann dem Verlag etwas zu schulden glaubt, und wartet lieber auf den Abverkauf ihrer Bücher.

Das Debut, Goldkind, erschien 1979 im Luchterhand Verlag, es folgten Karneval (Hanser, 1981) und Scheintod (Hanser, 1984). In diesem Auftakt, drei Romane innerhalb von fünf Jahren, witterte die Kritik das Konzept einer Trilogie, mit der die Geschichte der Bundesrepublik in einem autobiografischen Kaleidoskop erzählt werde: Kindheit in Regensburg (Goldkind), Studienjahre in Mainz (Karneval), Blüte in Frankfurt (Scheintod), eine literarische Reise von Restauration bis Postrevolution.

»Die Frau« und »der Mann«

Doch so ist dem dritten Roman nicht beizukommen, es hilft nichts als genauere Lektüre. Wir haben es in Scheintod mit zwei formal anonymen Hauptfiguren zu tun: der Erzählerin, genannt »die Frau«, und ihrem Gatten, genannt »der Mann«. Die Handlungszeit des Romans erstreckt sich über zwölf aufeinanderfolgende Tage, am ersten Tag, ein Karsamstag in den 1970er-Jahren, stirbt der Mann, am zwölften Tag wird er begraben. Dazwischen liegt eine Zeremonie des Abschieds, aber wenn diese allein den Roman ausfüllte, hätte er nicht immer wieder in Neuausgaben auf dem Buchmarkt überlebt, bis zur heutigen für Frankfurt liest ein Buch im Insel Verlag.

Worum geht es darin also? Schlichtweg um alles, um Liebe, Verrat und Verlust, um Identität und Rollenspiel, um Emanzipation, Revolution, Illusion, um Geschlecht und Sexualität, um Kultur und Subkultur, somit um »die alten Fragen«, zugespitzt zur Zeit des größten gesellschaftlichen Konflikts der Bundesrepublik, der Auseinandersetzung mit der Roten Armee Fraktion auf der einen und dem Nazi-Erbe auf der anderen Seite, lokalisiert in Frankfurt am Main.

Vor allem geht es um ein literarisches Spiel, das viele Leser weiter vor die Frage stellt: Ist sie es, oder ist sie es nicht? Sind »die Frau« und Eva Demski identisch? Ist »der Mann« Reiner Demski?

Selbstverständlich haben »die Frau« und »der Mann« mit realen Personen nichts zu tun. Selbstverständlich wären »die Frau« und »der Mann« ohne Eva und Reiner Demski undenkbar, was im Verlauf des Textes durch die behutsame Annäherung der literarischen Figuren an die realen Personen angedeutet wird.

Goldkind und Karneval sind vergleichsweise linear erzählte Romane, deren Fluss nur durch eine gelegentliche Leerzeile zwischen Absätzen gesteuert wird. Den Stoff von Scheintod, den äußeren Verlauf der zwölf Tage zwischen Tod und Beerdigung der männlichen Hauptfigur sowie deren innere Reflexion samt Rückzug in Erinnerungen durch die weibliche Hauptfigur, auf die erprobte Art darzustellen, hätte die Autorin in einen Strudel gezogen, aus dem sich schwer zu befreien gewesen wäre.

In solcher Gefahr hilft das gestalterische Repertoire. Mit der offenkundigen Konstruktion, der Gliederung der zwölftägigen erzählten Zeit in zwölf Erzählzeiten, nummerierte Tage, die knappe Motti tragen (wie »Die Bühne«, »Das Fest«, »Ein Entwurf«), mit denen sich ein über den jeweiligen Inhalt der Tage hinausgehender Assoziationsrahmen öffnet, distanziert sich Eva Demski von der biografischen Verwandtschaft mit der weiblichen Hauptfigur ihres Textes.

Diese Figur erledigt in der Handlungszeit das notwendige, um jemanden unter die Erde zu bringen. Für die lange Frist zwischen Tod und Begräbnis sprechen zwei Gründe: Wegen des Todes am Feiertagswochenende verzögert sich die Abwicklung von dessen Konsequenzen. Zudem stirbt »der Mann« jung, er muss obduziert werden. Seine Figur schillert: Er praktiziert als Anwalt mit einer Kanzlei in der Elbestraße, ist so verheiratet wie schwul, sehr groß, gut aussehend und von intellektueller Brillanz. Er geht in der Robe demonstrieren, montiert aus dem Hausschatz deutscher Lyrik und dem Pathos revolutionären Liedguts eigene Gedichte. Seine Mandanten entstammen den Rändern der Gesellschaft, aus dem Milieu des Viertels oder Rockergruppen; aus der Roten Armee Fraktion und deren Umfeld.

Verzichten Sie auf die Mühe, Scheintod als Schlüsselroman zu lesen. Das versuchte schon der Staatsschutz in dem Irrglauben, aus dem Roman Aufschluss über die zweite Generation der RAF zu erhalten, dennoch machte sich der Text bei den Behörden und deren bewaffneten Feinden gleichermaßen verdächtig.

Auf dem Weg zur Beerdigung »des Mannes « begibt sich »die Frau« auf eine Reise in das mit dem Toten geteilte Leben. Sie findet an gemeinsame Orte zurück, durchkreuzt Milieus, ruft kulturelle Artefakte auf, wodurch der Tote für sie, wie für die Leser, immer lebendiger wird. Darin liegt das Kunststück dieses Buchs: In der Ablösung erfolgt die Annäherung, aus der zunehmenden Ferne erwächst neue Nähe, das Ende wird ein Anfang sein.

Filmisches Erzählen

Demski bedient sich dabei ihres beim Film erlernten Handwerks: der Montage, des Schnitts, der Rückblenden und Schleifen. In dem Buch tauchen ca. 100 Charaktere auf, aber nur die Hälfte begegnet uns in der Handlung während jener zwölf Tage, die anderen erscheinen in den Rückblenden. Die Erzählerin führt ihr Publikum während der Handlungszeit an etwa 50 Orte, hinzu kommen etwa 30 in der erzählten Zeit. Die Atmosphäre wird an allen Stationen ähnlich intensiv aufgebaut, zwischen den Figuren gibt es, was ihre Ausarbeitung anbelangt, keine Hierarchie. Das Tableau wurde komplex arrangiert, alle Details bilden gemeinsam ein Mosaik. Für diese darstellerische Technik gibt es in Demskis Leben einen Lehrmeister, Rudolf Küfner, ihren Vater, der als Bühnenbildner am Theater und als Ausstattungschef des Hessischen Rundfunks seiner Tochter zeigte, wie man mit ein paar Handgriffen Welten erschafft.

Die Welt von Scheintod hat ihren Mittelpunkt in Frankfurt am Main, was für den Furor, den die Kampagne Frankfurt liest ein Buch entwickelt, wichtig ist; er erwächst auch aus der realen Bindung der Texte an reale Orte. Der erste Handlungsort des Romans ist das Treppenhaus jenes Altbaus in der Elbestraße, in dem Reiner Demski seine Kanzlei unterhielt. Es hat sich dort nichts verändert, seit am 13. April 1974 ein Zinksarg herausgeschafft wurde. Vielleicht gehört es auch zur Alltagskultur von Frankfurt, dass es der Geschäftsführer eines im Erdgeschoss des Hauses ansässigen Gemüsehandels für plausibel hält, wenn ein Archivar ihm sein Eindringen in das Haus mit dieser Geschichte erklärt: Vor 47 Jahren sei im vierten Stock ein Anwalt gestorben, der 10 Jahre nach seinem Tod zur Romanfigur eines Buchs wurde, das nun neu erscheine und von der ganzen Stadt gelesen werde. Unverzichtbar an dieser Stadt ist für Scheintod der Nährboden aus Bahnhofsviertel, linker Subkultur, Schwulenszene, kulturellem und intellektuellem Überbau bis in die Universität hinein. Und aus der hiesigen Realgeschichte der RAF, die mit dem Kaufhausbrand begann und mit den Verhaftungen endete. So »funktioniert« der Roman am besten in Frankfurt, aber ohne folkloristische Bezüge wie im Lokalkrimi, sondern mit Frankfurt als Idee und Lebenswelt.

Zur Frage nach Dichtung und Wahrheit, dem produktivsten Widerspruch der Literaturgeschichte, schlug Eva Demski bei der Entwicklung von Scheintod weniger bei Goethe nach als bei Edgar Allan Poe Lebendig begraben. Dort ist zu lesen, »daß in der Tat die Wahrheit seltsamer sei denn alle Erfindung«.1

Helfen die literaturwissenschaftlichen Theorien über das Verweben von Leben und Schreiben und dessen anschließender Dekonstruktion bei der Lektüre? Bei der Deutung des Befunds, den »die Frau« beim Besuch in der Wohnung des Toten ausstellt: »Das sind ja seine Geschichten, und er wird sterben, wenn er sie nicht mehr erzählen und verändern und mit bunten Filzstiften markieren kann«?2

Eine Antwort gibt Roland Barthes in der Vorlesungssequenz Der Roman: »›Diejenigen benennen, die man liebt‹. Lieben + schreiben = denen Gerechtigkeit widerfahren lassen, die man gekannt und geliebt hat, das heißt für sie Zeugnis ablegen (im religiösen Sinne), das heißt sie unsterblich machen.«3

Selbstverständlich folgt das wirkliche Leben dem letzten Satz von Eva Demskis Roman, dort zum Ende der Beisetzung geflüstert: »Das geht ja alles erst richtig los«.4
So what’s the difference if we go? 5

Wolfgang Schopf ist Leiter des Literaturarchivs der Goethe-Universität; er hat für die im Insel Verlag erschienene Neuausgabe von »Scheintod« das Nachwort verfasst.

1Edgar Allen Poe, Sämtliche Erzählungen in vier Bänden, hrsg. von Günter Gentsch, Insel Verlag, Frankfurt am Main 2002, Band 3, S. 11.
2Eva Demski, Scheintod, mit einem Nachwort von Wolfgang Schopf, Insel Verlag, Berlin 2020, S. 119.
3Roland Barthes, Die Vorbereitung des Romans, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, S. 48.
4Eva Demski, Scheintod, S. 398.
5Ebd., S. 5.

Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 4/2021 (PDF) des UniReport erschienen.

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