Die Welt, in der wir leben, beschäftigt ihn als Naturwissenschaftler und als Künstler. In beiden Rollen war Prof. Roald Hoffmann von der Cornell University in Ithaca/New York Ende September zu Gast in Frankfurt. Auf Einladung von Prof. Harald Schwalbe sprach der Chemienobelpreisträger des Jahres 1981 auf dem Campus Riedberg über die Natur chemischer Bindungen – ein Vortrag, in dem er die komplexe und schillernde Schönheit eines Konzeptes erläuterte, das auf den ersten Blick leicht verständlich erscheint.
Im Internationalen Theater an der Hanauer Landstraße wurde zwei Tage später sein Schauspiel „Was Euch gehört“ aufgeführt – ein Stück, in dem Hoffmann, der den Holocaust im Gegensatz zum Großteil seiner Familie überlebte, die Schrecken seiner Kindheit verarbeitet hat. Während seine beiden ersten Dramen „Oxygen“ (2001, zusammen mit Carl Djerassi) und „Should’ve“ (2007) in der Welt der Wissenschaft spielen und deren Dilemmata thematisieren, hat Hoffmann sich mit „Something that belongs to you“ an die schmerzhafte Reflexion seiner Lebensgeschichte gewagt.
Den Impuls dazu erhielt er 2006, als seine Mutter kurz vor ihrem 95. Geburtstag starb und er wenige Monate später erstmals nach 57 Jahren wieder in seine ukrainische (früher: polnische) Heimatstadt in der Nähe von Lemberg zurückkehrte, wo er einst als „eines von vielleicht fünf jüdischen Kindern“ dem Völkermord entgangen war. Ein ukrainischer Lehrer hatte seine Mutter und ihn anderthalb Jahre lang auf dem Dachboden der Schule versteckt gehalten.
Die Geschichte einer Traumatisierung Das ist der Ausgangspunkt des Dramas, das Jan Burdinski in der Übersetzung von Hartmut Frank inszenierte. Die Bühne ist zweigeteilt: Links das Matratzenlager in der Dachkammer 1943, rechts ein Wohnzimmer in Philadelphia 1992. Ein Esstisch mit fünf Stühlen. Der Lehnsessel der Großmutter. Sie ist inzwischen 81 Jahre alt und will an das, was sie als 32-Jährige erlebt hat, nicht mehr erinnert werden, schon gar nicht von ihren Enkelkindern, die wissen wollen, was damals war.
Dann aber werden sie und ihr Sohn doch plötzlich mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Indem er die Handlung in schnellem, harten Wechsel zwischen den beiden Schauplätzen hin- und herspringen lässt, vergegenwärtigt Hoffmann die Geschichte einer Traumatisierung. Anders als Carl Djerassi, den er vermisse, habe er keine Autobiographie geschrieben, sagt Hoffmann. Aber er habe vor 30 Jahren angefangen, Gedichte zu schreiben. Einige davon, die in seiner Kindheit wurzeln, hat er in das Theaterstück aufgenommen, dessen vollständiger Text auf seiner Website steht.
„Die Intensität, mit der ein Gedicht in konzentrierten Worten die Wirklichkeit einfängt und der Wahrheit auf die Spur kommt, gleicht derjenigen einer mathematischen Formel.“ Wenn er Gedichte schreibe, dann nähere er sich der Wahrheit auf ähnliche Weise wie während seiner preisgekrönten Forschung zu den symmetrischen Regeln chemischer Reaktionen, nur eben aus einer anderen Richtung. Die Kunst wie auch die Wissenschaft verlangten harte Arbeit und handwerkliche Meisterschaft.
Beide könnten jedoch nur Teilaspekte der Wahrheit erfassen. Die Überheblichkeit der Naturwissenschaften In einem burlesken Vorspiel seines Stückes zeigt Hoffmann im Einklang mit dem Talmud, wie Gott die personifizierte Wahrheit hinab auf die Erde schmettert, wo sie in tausend Stücke zerspringt. „Wenn wir eine Scherbe davon gefunden haben, dann neigen wir Menschen dazu, sie für das Ganze zu nehmen“, sagt Hoffmann. „Aber das ist närrisch, denn wir sind auf viele andere angewiesen, um sie Stück für Stück zusammenzusetzen.“
Auch die Naturwissenschaftler fänden jeweils nur winzige Stücke der Wahrheit und übersähen dabei, was außerhalb ihres reduktionistischen Blickes liege. So blendeten sie aus, wie man mit Glück, Schmerz und der eigenen Endlichkeit umgehen solle. Aber das seien die existentiell interessanten Fragen. Zu Unrecht seien die Naturwissenschaften, die auf Eindeutigkeit fixiert seien, ungeduldig mit den Geisteswissenschaften. Sei es doch gerade deren Stärke, dass sie Probleme behandelten, für die es keine eindeutige Lösung gebe.
„Wenn Außerirdische mit uns in Kontakt kämen“, sagt Roald Hoffmann und bezieht sich dabei auf den Evolutionsbiologen Edward Wilson, „dann würden sie sich nicht primär für unsere Wissenschaft interessieren, denn ihre wäre ohnehin besser, sondern für unsere Kunst, in der wir die Vielfalt unserer Lebenserfahrung ausdrücken.“ Hoffmann bleibt als Wissenschaftler wie als Künstler aktiv. Bald wird er sich wieder zum Schreiben auf die kalifornische Ranch seines verstorbenen Freundes Carl Djerassi zurückziehen.
Vielleicht inspirieren ihn dort die Klänge vom Nachbargrundstück, wo Neil Young wohnt. Schreibend wird sich Hoffmann weiter erinnern. Denn vergessen kann nur, wer sich zuvor erinnert hat, wie sein drittes Theaterstück eindrucksvoll zeigt. Es ist ein Stück, das unter die Haut geht. Zum Schluss, als der Beifall nicht enden will, steht sein unscheinbar freundlicher Autor am Rand von Reihe drei und nickt seinem Publikum zu, als staune er darüber, dass er tatsächlich am Leben ist und nicht ermordet wurde von den Vorfahren derer, die ihm gerade bewegt applaudieren. [Autor: Joachim Pietzsch]